© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/03 18. Juli 2003

 
Ungleiche Behandlung
Gesundheitspolitik: Zwischenstaatliche Sozialversicherungsabkommen belasten die deutschen Krankenkassen
Jens Jessen

Seit Jahren hat die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) in Deutschland mit der wachsenden Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben zu kämpfen. Im ersten Quartal 2003 betrug die Differenz 630 Millionen Euro. Die GKV schleppt etwa sechs Milliarden Euro Schulden aus den Vorjahren mit. Die rot-grüne Regierung versucht wieder einmal mit einer Gesundheitsreform die Wende zu schaffen. Weder die Kassen noch die Ökonomen trauen ihr das zu.

In diese Situation platzte das Westfalen-Blatt vergangenen Monat mit einem Artikel unter der Überschrift "Ein Tabu - milliardenschwer". Nach einer Recherche des Westfalen-Blatts sind die Familienangehörigen eines in Deutschland lebenden Ausländers kostenlos in der GKV mitversichert. Ganz unabhängig davon, ob dieser arbeitet, arbeitslos ist oder Sozialhilfe empfängt. Das gilt auf der Basis zwischenstaatlicher Sozialversicherungsabkommen etwa mit der Türkei, Bosnien-Herzegowina, Marokko und Tunesien. Verträge dieser Art wurden auch mit einer Reihe anderer Länder abgeschlossen. Sinn und Zweck ist es, die Angehörigen der in Deutschland lebenden Ausländer mit den Angehörigen deutscher Versicherter gleichzustellen.

Allerdings ist der Begriff "Angehöriger" in den islamischen Ländern völlig anders definiert als in Deutschland. In den Abkommen ist fixiert, daß nicht nur - wie in Deutschland - Ehegatten und die Kinder unter vorgegebenen Bedingungen mitversichert sind, sondern "Familienangehörige" sich nach der in dem Herkunftsland des ausländischen Versicherten geltenden Rechtslage verstehen. Insbesondere in islamischen Ländern sind Angehörige häufig die Mitglieder der Großfamilie, also nicht nur Frau und Kinder, sondern auch Eltern und Geschwister.

Hier wird der Solidargedanke auf den Kopf gestellt und der deutsche Beitragszahler geschröpft. Die Anfrage des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann wurde von der Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 15/337 der 15. Wahlperiode) wachsweich beantwortet: "In der Türkei lebende Familienangehörige von in Deutschland krankenversicherten türkischen Arbeitnehmern, die nicht ihrerseits erwerbstätig sind, erhalten nach dem deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommen vom 30. April 1964 im Krankheitsfall Leistungen der türkischen Krankenversicherung (sog. Sachleistungshilfe).

Die der türkischen Krankenversicherung hierdurch entstandenen Kosten werden von der deutschen Krankenversicherung erstattet.

... Der Bundesregierung liegen keine Zahlen darüber vor, wie viele Familienangehörige in der Türkei von bei deutschen Krankenkassen versicherten Arbeitnehmern Leistungen der türkischen Krankenversicherung erhalten haben, deren Kosten von den deutschen Krankenkassen zu erstatten sind."

Genaue Zahlen sind also offiziell nicht bekannt - an das wohl tatsächlich milliardenschwere Tabu will aber bislang niemand heran. Doch mehr Transparenz ist nötig in einer Situation, in der für die Defizite im Gesundheitswesen die deutschen Versicherten mit mehr Zuzahlungen und weniger Leistungen bluten werden. Bevor das geschieht, sollte die Bundesregierung alle Verpflichtungen aus Sozialversicherungsabkommen und die daraus erwachsenden finanziellen Belastungen auf den Tisch legen. Die ungleiche Behandlung deutscher und islamischer Familien ist aber nicht die einzige "Gerechtigkeitslücke".

Wer sich in Europa umsieht, stellt fest, daß in jedem EU-Land ein anderes Gesundheitssystem besteht. Die Träger des jeweiligen Systems, die Finanzierung, das Leistungsspektrum und die Selbstbeteiligung der Versicherten unterscheiden sich von Land zu Land. Großbritannien hat ein lupenreines staatliches System. Die Finanzierung erfolgt zu über 80 Prozent über Steuern.

Der Nationale Gesundheitsdienst (National Health Service) basiert auf der Idee des Wohlfahrtsstaates. Obwohl die Gesundheitsversorgung immer wieder zu Klagen Anlaß gibt, wollen die Briten nach Umfragen keine Änderung. Ärztemangel, marode Krankenhäuser und eine rigide Kürzung der Leistungen bei den über 65 Jahre alten Menschen hält die Insulaner deshalb nicht davon ab, den NHS zu preisen. Auch die Schweden werden vom Staat gesundheitlich betreut. Wie in Großbritannien stellen die langen Wartezeiten für Behandlungen ein großes Problem dar. Das gilt auch für Dänemark, Finnland, Griechenland, Irland, Italien, Portugal und Spanien. Diese Systeme sind kostengünstiger als die nichtstaatlichen. Dafür sind sie Mangelsysteme, die einiges gemein haben mit dem 1990 verschwundenen Gesundheitssystem auf dem Territorium der neuen Bundesländer. Die Versorgung in Deutschland hat im Vergleich mit diesen Systemen einen Spitzenrang.

Deutsche Krankenhäuser versorgen mittlerweile Patienten aus dem Bereich der Länder mit staatlichem Gesundheitsdienst. Zu untersuchen wäre, ob die Sozialversicherungsabkommen zwischen Deutschland und diesen Ländern zu einem ungerechten Lastenausgleich führen. Wenn die in Deutschland erbrachten Leistungen für Bewohner der EU-Länder von den zuständigen Sozialleistungsträgern zu deren Bedingungen abgegolten werden, müßte eine Differenz der Bezahlung zwischen erstatteter und in Deutschland üblicher Honorierung von der Gesetzlichen Krankenversicherung getragen werden.

Deutsche Ärzte werden von den staatlichen Gesundheitssystemen abgeworben, um die größten Personallücken zu schließen. Diese Ärzte fehlen jetzt zur Umsetzung des Gesundheitssystem-Modernisierungs-Gesetzes (GMG), das auf dem Hausarztprinzip beruht und die Krankenhäuser mit einer Reihe neuer Aufgaben belasten will. Sowohl Haus- als auch Krankenhausärzte fehlen inzwischen in Deutschland.

Ein umfassendes Konvergenzszenario im Bereich der Gesundheitssicherungssysteme in der EU bedeutete einschneidende Systemveränderungen. Eine Angleichung der Systeme würde die einseitige Ausbeutung Deutschlands abstellen. Die staatlichen Systeme wollen das nicht. Nach den bisherigen Urteilen will das der Europäische Gerichtshof auch nicht. Fehlsteuerungen, Logikbrüche und daraus resultierende Ressourcenverschwendung bleiben so lange, bis gar nichts mehr geht. Die Situation wird in den kommenden Jahren nicht leichter, da zu den heute 15 Mitgliedern der EU 2004 zehn weitere Staaten treten, deren Probleme in der Regel ungleich größer sind als die der alten Mitglieder. Da Deutschland der Reparaturbetrieb par excellence ist, kann mit neuen Belastungen gerechnet werden.


 
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