© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/03 18. Juli 2003

 
Spezialisiert in die Arbeitslosigkeit
Zuwanderung: Die als Patentrezept gepriesene Greencard-Regelung ist weitestgehend gescheitert / Trotzdem gibt die Regierung dem Projekt eine Fristverlängerung
Christian Roth

Vor drei Jahren eignete sich das Thema noch, um die Gemüter im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf zu erhitzen. "Kinder statt Inder", forderte damals der CDU-Spitzenkandidat Jürgen Rüttgers in Anspielung auf die verfahrene Arbeitsmarktsituation in der IT-Branche. Doch mittlerweile ist Ernüchterung eingekehrt. Trotz der enttäuschten hochgesteckten Erwartungen wurden die am 31. Juli auslaufende "Arbeitserlaubnis nach der Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für hochqualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie" (umgangssprachlich Greencard) durch das Bundeskabinett in der letzten Woche bis 2004 verlängert.

Kommen sollten sie dabei ursprünglich in Scharen, um den Technologie-Standort Deutschland zu sichern. Etwas mehr als 13.000 hochqualifizierte Spezialisten folgten bislang der Aufforderung der Bundesregierung und beantragten eine Greencard. 20.000 Arbeitsverträge waren ursprünglich vorgesehen. Mittendrin stürzte die Branche in eine Krise. Heute registriert die Bundesanstalt für Arbeit über 60.000 arbeitslose IT-Fachleute. Auch an den Greencard-Besitzern, jeder fünfte ein Inder, gingen Firmenpleiten und Sparmaßnahmen nicht vorüber. Sind die ausländischen Programmier-Experten aber erst mal arbeitslos, hört es auch mit der politisch motivierten Gastfreundschaft schnell auf. Das belegt eine aktuelle Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg. Sie untersuchte Ausmaß und Strukturen der Greencard-Arbeitslosigkeit exemplarisch im Arbeitsamtsbezirk München, wo jede sechste Greencard in Deutschland erteilt wurde.

Viele Computerspezialisten wurden bereits abgeschoben

Der Studie zufolge waren knapp sieben Prozent der in München registrierten Greencard-Besitzer bereits mindestens einmal arbeitslos gemeldet. Die wahre Zahl liegt vermutlich höher, glauben die Autorinnen Franziska Schreyer und Marion Gebhardt. Oftmals werde der Gang zur Behörde erst angetreten, wenn die eigenen finanziellen Ressourcen aufgebraucht sind - sei es aus Scham oder Unkenntnis über den Anspruch auf Arbeitslosengeld. Den erwirbt, wer mindestens zwölf Monate in Deutschland gearbeitet hat. Ein Fünftel der arbeitslosen Greencard-Besitzer in München hat allerdings schon im ersten Jahr den Job verloren und damit keine Leistungsansprüche. Die langen Gesichter mehren sich. Denn viele der als Heilsbringer angepriesenen Inder haben mittlerweile keinen Arbeitsplatz mehr, aber dafür die Ausländerbehörde im Nacken. Zwar wird die Greencard für einen Zeitraum von fünf Jahren erteilt. Die Aufenthaltserlaubnis aber ist in vielen Fällen an die Beschäftigung bei einem bestimmten Arbeitgeber gekoppelt.

IT-Krise hin oder her: Die Greencard sollte auf keinen Fall neue Sozialhilfeempfänger produzieren. Deswegen sind mittlerweile mehrere hundert ausländische Computerspezialisten abgeschoben worden. Trotzdem glaubt die Bundesregierung fest an ihr Konzept: "Aus unserer Sicht ist das Greencard-Programm ein voller Erfolg", wird eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums zitiert, "uns sind keine größeren Arbeitslosenzahlen von ausländischen IT-Kräften bekannt.""Bedarf an qualifizierten IT-Fachkräften wird auch weiterhin bestehen", glaubt auch Werner Dostal, Mitarbeiter im Bereich Berufs- und Qualifikationsforschung am IAB - angesichts der katastrophalen Lage auf dem Arbeitsmarkt eine gewagte Prognose. Die Zahl der arbeitslosen IT-Spezialisten hat sich von Januar 2001 von 22.000 bis zum Januar 2003 auf 58.000 fast verdreifacht. Mittlerweile spricht man in der Branche von einer leichten Konsolidierung.

Doch der Trend hin zu einer neuen Einstellungswelle wird auf sich warten lassen. Deswegen ist das Thema Greencard von der politischen Tagesordnung erst einmal verschwunden. Im Streit zwischen Bundesregierung und Opposition um das Zuwanderungsgesetz scheint es völlig unterzugehen. Größeren Jubel löste die Verlängerung der Greencard-Regelung nur beim IT-Branchenverband Bitkom aus. Bitkom-Vizepräsident Jörg Menno Harms sieht in der Regelung ohnehin nur die Möglichkeit, ausländischen Absolventen deutscher Hochschulen, "die Deutsch sprechen und sozial gut vernetzt sind", ihren beruflichen Weg zu ebnen.

Bisher galt die Arbeitserlaubnis-Regelung nur für Computerfachkräfte, doch der Bundesverband der Deutschen Wirtschaft (BDI) fordert eine weitergehende Regel, die alle Fachkräfte umfaßt. "Wir brauchen eine Lösung, die den Zuzug von Fachkräften und Spezialisten erleichtert und die Zuwanderung von Sozialhilfeempfängern weitestgehend unterbindet", sagt Michael Rogowski, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. "Das Ziel muß ein modernes Zuwanderungsrecht sein, das die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland stärkt", verlangt Rogowski. Die hohe Arbeitslosigkeit dürfe nicht darüber hinweg täuschen, daß der Mangel an Fachkräften das Wirtschaftswachstum bremsen könne. Auch seitens des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) heißt es, Deutschland brauche so schnell wie möglich ein umfassendes Migrationsgesetz, das gezielt auf die Probleme des Arbeitsmarktes eingehe. Daß das Zuwanderungsgesetz im Bundesrat, den die unionsgeführten Länder dominieren, scheitert, gilt deshalb als sicher. Das Vermittlungsverfahren könnte sich bis weit ins kommende Jahr hineinziehen. Das Bundeswirtschaftsministerium und die Bundesanstalt für Arbeit (BA) halten es angesichts der angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt gegenwärtig nicht für nötig, die Greencard-Regelung zu verlängern. Die Behörden verweisen auf die vergleichsweise geringe Zahl von nur 13.166 Arbeitserlaubnissen, die bis Ende April in Anspruch genommen worden seien. Die Computerbranche hatte ursprünglich erklärt, etwa 100.000 Stellen nicht mit Fachkräften aus Deutschland besetzen zu können.

Die besseren Ideen in Produkte umwandeln

Der Branchenverband Bitkom will sich dennoch dafür einsetzen, die Greencard zu verlängern, bis das Zuwanderungsgesetz in Kraft tritt. "Jede Woche kommen weiter rund 50 Computerexperten, die für die Branche unverzichtbar sind", sagte der Bitkom-Arbeitsmarkt-Experte Stephan Pfisterer. Zwar sei der Bedarf lange nicht mehr so hoch wie in der Boomphase 2000/2001, dennoch könnten die Unternehmen nicht auf das Wissen aus dem Ausland verzichten. Der Verband will erreichen, daß das verbleibende Zuwanderungskontingent von gut 6.000 auch nach dem 31. Juli weiter ausgeschöpft werden kann.

Doch es mehren sich auch die Stimmen, die ein Umdenken in der Bildungspolitik fordern. Heinrich Mayr, Präsident der Gesellschaft für Informatik, fordert Schulabsolventen dazu auf, ein Informatik-Studium zu beginnen. "Seit Informatik Ende der sechziger Jahre zur eigenständigen Disziplin wurde, gab es am Arbeitsmarkt immer ein Auf und Ab. Schätzungsweise gibt es pro Jahr 12.000 Arbeitsplätze für Absolventen, demgegenüber schließen jährlich nur 6.000 Studenten ihr Studium ab. Der Rest wird mit Quereinsteigern gefüllt." Oder eben mit Greencard-Inhabern.

Wie der dänische Physiker Niels Bohr treffend formulierte: "Prognosen sind schwierig, insbesondere, wenn sie die Zukunft betreffen." Dies gilt besonders für den Arbeitsmarkt. Begriffe wie "Ärzteschwemme" und "Lehrermangel" zeugen davon. Zu Beginn der neunziger Jahren galt es geradezu als verpönt, ein Lehramtsstudium zu beginnen. Mittlerweile herrscht in einigen Bundesländern akuter Lehrermangel. Abwerbe-Versuche mit der Aussicht auf ein unbefristetes Beamten-Verhältnis sind keine Seltenheit. Ähnlich könnte die Entwicklung in der IT-Branche verlaufen. Mit dem Boom der New Economy wurden Informatiker so händeringend gesucht, daß die Einführung einer Greencard für Fachkräfte als Lösung, ja geradezu als Heilsbringer erschien. Entsprechend attraktiv war das Fach für Studienanfänger.

Heute aber suchen gerade auch Informatiker nach neuen Perspektiven, und von Fachkräftemangel redet niemand mehr. Dennoch bleibt Heinrich Mayr bei seiner Einschätzung: "Es kann niemand vorhersagen, wie sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt entwickelt. Es ist aber sicher, daß eine Bereinigung stattfinden wird. Abiturienten, die in diesen Zeiten ein Informatik-Studium beginnen, haben durchaus gute Aussichten."

Der Experten-Appell scheint zu wirken. Nach Angaben der Bundesregierung wurde die Ausbildung von IT-Fachkräften erheblich verbessert. Inzwischen gebe es an den Hochschulen im Fach Informatik doppelt so viele Studienanfänger wie noch vor zwei Jahren. 70.000 Jugendliche machten derzeit eine betrieblichen IT-Ausbildung. Dennoch fordert BDI-Präsident Rogowski eine weitere Zuwanderung von Fachkräften. "Wir befinden uns in einem demographischen Wandel. Die Kinderlosigkeit wird zunehmen. Irgendwann wird es einen massiven Mangel an Fachkräften geben."

Ähnliche Forderungen sind trotz der Rekord-Arbeitslosigkeit vielerorts zu hören. Beispielsweise wird in der Physiker-Branche über mangelndes Interesse geklagt. Dirk Basting, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), ist davon überzeugt, daß sich dieses Problem auf absehbare Zeit nicht aus eigener Kraft lösen läßt. "Eine Greencard für Physiker bleibt deshalb ein Thema", meint Basting. Es fehle an Diplomanden und Doktoranden der Physik. Deutschland lebe aber aufgrund seiner Rohstoffarmut davon, "daß wir die besseren Ideen in Produkte umwandeln. Wir sind abhängig von den Naturwissenschaften, sie sind unsere Lebensgrundlagen", so Basting. Die Feststellung des DPG-Präsidenten spricht allerdings Bände. "Es braucht niemand zu glauben, daß wir mit solch einer Aktion all unsere Probleme lösen. Die Greencard für Physiker wird nur an den Symptomen kurieren, langfristig müssen wir das Problem an der Wurzel anpacken."

Die gesellschaftliche Wertschätzung der Naturwissenschaften sei einer EU-Studie zufolge in Deutschland europaweit am geringsten. "Um das Problem zu bewältigen, muß früher angesetzt werden: Das muß in der Grundschule beginnen", fordert Basting, der seiner Branche ein vernichtendes Urteil ausstellt: "Uns trifft es schlimm. Die Bildungsmisere ist im Bereich der Naturwissenschaften besonders deutlich geworden. Zu diesem Schluß muß man kommen und den Hebel entsprechend ansetzen. Auf Dauer werden uns keine Anwerbungen helfen." Nach DPG-Angaben haben im Jahr 2000 zirka 2.050 Studierende der Physik eine Diplomprüfung abgelegt. Für dieses Jahr wird mit 1.747 Absolventen gerechnet. Im Wintersemester 2000/2001 hatten sich 4.960 Studienanfänger für das Fach entschieden - 4,2 Prozent mehr als im Vorjahr. Zehn Jahre zuvor hatten sich aber noch knapp doppelt so viele junge Abiturienten für ein Physikstudium eingeschrieben.

Die Greencard wird zum Lohndumping mißbraucht

Noch dramatischer ist die Situation im medizinischen Sektor. Vor einigen Monaten sorgte der Präsident der Hamburger Ärztekammer, Heinz Lohmann, für Aufsehen, als er vor einem drohenden Personalnotstand im Bereich der ärztlichen und pflegerischen Fachkräfte warnte. Danach sollen in den nächsten Jahren nicht nur in ländlichen Regionen, sondern auch in Großstädten wie Hamburg beträchtliche Engpässe drohen. Lohmann schlug vor, den Mangel mit Greencards zu therapieren, mit denen Fachkräfte aus Osteuropa in der Hansestadt engagiert werden könnten. Der Vorschlag hatte massive Kritik bei ärztlichen Organisationen ausgelöst. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Ärztekammer Hamburg und Vorsitzender des Marburger Bundes, protestierte: "Herr Lohmann propagiert Lohndumping mit billigen Arbeitskräften aus Polen und Tschechien. Wir haben genug Ärzte in Hamburg, aber wir haben auch schlechte Arbeitsbedingungen."

Montgomery sieht vor allem europarechtliche Probleme bei der Einstellung von Ärzten und Pflegekräften aus Osteuropa hinsichtlich der Ausbildungswege und -qualität. "Statt Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben, wäre es doch viel vernünftiger, die Menschen dazu zu bewegen, ihren bei uns erlernten Beruf auch hier auszuüben." Statt dessen wandern Jahr für Jahr zum Beispiel junge Ärzte nach Skandinavien ab, wo ihnen familienfreundliche Arbeitsbedingungen geboten werden. "Die jungen deutschen Ärzte zeigen den Arbeitgebern die Rote Karte. Darauf mit einer Greencard zu antworten, bringt nichts. Vernünftig wäre es, auf die Rote Karte mit guten Arbeitsbedingungen zu antworten." Montgomery erklärte, daß es volkswirtschaftlicher Unsinn sei, erst 250.000 Euro in die Ausbildung eines jungen Mediziners zu investieren, ihn dann auswandern zu lassen und sich neue Mediziner im Ausland zu günstigen Lohnkonditionen zu suchen. Pflegekräfte hätten seit Jahren die kürzeste Verweildauer im Beruf. "Das ist Folge der Arbeitsbedingungen. Rufe nach der Greencard sind unqualifiziert."

Doch es gibt auch Experten, die ein anderes Problem ansprechen. Deutsche Absolventen seien unflexibel und unbequem, heißt es beispielsweise aus der IT-Branche. "So einen, wie den finden Sie in Deutschland nicht", meint der Chef einer Kölner Internet-Agentur voller Anerkennung über seinen bulgarischen Greencard-Besitzer. Der Arbeitgeber beklagt bei Bewerbern aus Deutschland vor allem die mangelnde Flexibilität. "Unseren Bulgaren müssen wir abends fast schon raustragen", weiß der Firmenchef zu berichten. Ganz anders als viele Fachleute aus Deutschland, vor denen es Unternehmern geradezu graust. Für die zähle mehr ihr eigenes Wohl als das der Firma.

Zu der Bildungsmisere in Deutschland scheint sich also auch noch Bequemlichkeit hinzuzugesellen. "Mir ist es völlig unverständlich, daß Leute aus Indien hierhin kommen, aber deutsche Studienabgänger einen Umzug von 200 Kilometer scheuen und sich lieber beim Arbeitsamt melden", sagt der rheinland-pfälzische Wirtschaftsminister Hans-Artur Bauckhage (FDP) zutreffend, der bei der sogenannten Greencard-Regelung den Mittelstand als Verlierer sieht. Denn ein IT-Experte aus dem Ausland muß über ein Jahreseinkommen von mindestens 50.000 Euro verfügen, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. "Für den Mittelstand völlig unattraktiv. Wer soll das zahlen können?" sagt der Minister.

In IT-Kreisen wird die Greencard mittlerweile als Alibi-Projekt von Bundeskanzler Schröder bezeichnet und als gutes Wahlkampf-Thema für die Union. Geändert hat sich durch die als Wundermittel angekündigte Regelung nichts. Ein ausgeuferter Bürokratismus hat viele potentielle Interessenten abgeschreckt. Und manche Experten vermuten, auch das neue Zuwanderungsgesetz könnte mit seinen komplexen Regelungen ähnlich erfolglos für den Arbeitsmarkt bleiben. "Zuwanderung wird weiterhin in die Sozialkassen fließen, aber nicht dahin, wo sie notwendig wäre", sagt der CDU-"Einwanderungsexperte" Peter Müller, der hinzufügt: "Bildungsnotstand, Facharbeitermangel und die Abwanderung von Spezialisten ins Ausland sind aber Symptome, die in Deutschland behoben werden können."

Dies ist mehr als eine Selbsteinschätzung. Denn die Inder, die vor drei Jahren angelockt werden sollten, sehnen sich mehrheitlich nach ihrer Heimat In einer Umfrage auf www.trust7.com , einem Internet-Forum für Greencard-Inhaber, bekunden jedenfalls siebzig Prozent, mit Deutschland nicht die beste Wahl getroffen zu haben.


 
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