© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/03 18. Juli 2003

 
EU betritt die Gefahrenzone
von Bruno Bandulet

Die Anzeichen verdichten sich, daß die EU am Ende eines Weges angelangt ist, der in den frühen fünfziger Jahren mit der Montanunion eingeschlagen wurde - ein Weg, der von zwei so ungleichen europäischen Politikern wie Charles de Gaulle und Ludwig Erhard erbittert bekämpft wurde.

Es gab ja von Anfang an zwei mögliche Varianten der europäischen Einigung: den Staatenbund, in dem souveräne Nationen zusammenarbeiten; und das Modell der Integration, der Harmonisierung, Gleichschaltung und Bürokratisierung möglichst vieler Bereiche.

Durchgesetzt hat sich bekanntlich das zweite Modell. Und da Bürokratien immer dazu tendieren, ihren Tätigkeitsbereich auszuweiten, da ihre Macht immer auf finanzieller Umverteilung beruht, wuchs und wuchs das bürokratische Europa. Es wurde teurer, fetter, komplizierter, machtloser, ungeliebter. Es verlor an Vitalität.

Jetzt stehen wir vor folgender Situation: Zeitgleich mit der Osterweiterung spaltet sich die EU in ein pro-europäisches und pro-amerikanisches Lager. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wäre mit den sechs Gründungsmitgliedern der alten EWG möglich gewesen, sie ist aber kaum noch realisierbar in einer Gemeinschaft, die zum 1. Mai 2004 von 15 auf 25 Nationen wachsen soll.

Unklar bleibt bisher, wie diese Osterweiterung letzten Endes finanziert werden soll. In Kopenhagen wurde für die zehn neuen Mitglieder ein Finanzpaket von etwas mehr als 40 Milliarden Euro geschnürt. Das reicht aber nur bis 2006. Es ist natürlich ein Unding, daß Spanien weiterhin auf seinen Subventionen besteht, obwohl das Land längst aufgeholt hat. Und es ist ein Unding, daß Polen allein bis 2006 16 Milliarden Euro Subventionen aus Brüssel braucht und auch bekommt, jetzt aber Geld genug übrig hat, um sich für 3,8 Milliarden Euro neue Kampfflugzeuge aus den USA zu bestellen. Ein Arrangement, bei dem das Geld aus Brüssel fließt, die politische Loyalität aber nach Washington ausgerichtet ist, kann nicht funktionieren.

Mit der Osterweiterung werden die Institutionen der EU und der EG unhandlich, nicht nur die Kommission und der Ministerrat in Brüssel, sondern auch die EZB in Frankfurt. Mit der zweiten Welle der Osterweiterung (falls sie überhaupt noch kommt) würden im Zentralbankrat der EZB bis zu 33 Mitglieder sitzen. Damit wird eine kohärente Geld- und Währungspolitik fast unmöglich.

Schon jetzt kann von der Existenz einer europäischen Volkswirtschaft keine Rede sein. Die EZB veröffentlicht fleißig europäische Wirtschaftsstatistiken, Inflationsraten usw.: ein Zahlenmaterial, das fiktiv und nichtssagend ist, wenn Geldentwertung, Wachstum und Produktivität einzelner Mitglieder der Euro-Zone um 100 oder 200 Prozent voneinander abweichen.

Immer noch gilt der Satz, daß die Wirtschaft unser Schicksal ist. Da die deutschen und europäischen Wirtschaftszyklen mehr oder weniger synchron mit den amerikanischen verlaufen, müssen wir einen Blick auf die größte Volkswirtschaft der Welt werfen.

Selbstverständlich sind die großen amerikanischen Wirtschaftszyklen nichts anderes als Kreditzyklen. Solange die Kredite ausgeweitet wurden, wuchs die Wirtschaft. Sobald ihr Wachstum stagniert, sobald die Kredite zu schrumpfen beginnen, kommt es zu einer Rezession oder Depression. Die Rede ist hier von den langen Zyklen. Nach zwanzig Jahren des Aufschwungs hat der amerikanische Wirtschafts- und Kreditzyklus sein Endstadium erreicht.

Es wurde übrigens Mitte der neunziger Jahre noch einmal künstlich verlängert, indem der Notenbankchef Alan Greenspan massiv Liquidität, also frisches Geld, in das System pumpte. Jetzt ist der gesamte Schuldenberg der USA mit 30.000 Milliarden Dollar so hoch wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) dreier Jahre. Das ist mehr als zu Beginn der Großen Depression 1929. Ein Drittel dieses Schuldenberges entfällt auf die privaten Haushalte. Die Achillesferse dabei sind die Hypothekenschulden, mit denen vor allem auch der Konsum finanziert wird.

Fazit: Wir müssen in den USA in den nächsten Jahren mit einer schweren Rezession oder Depression rechnen, die dann auch auf Deutschland und Europa ausstrahlt.

Auch die Voraussetzungen für einen Dollar-Crash sind bereits gegeben. Die USA haben ein jährliches Leistungsbilanzdefizit von rund 500 Milliarden Dollar. Das ist, bezogen auf das BIP, erheblich mehr als Anfang 1985 und weitaus mehr als Anfang der siebziger Jahre - also zu Zeiten, als schon einmal eine rasante Talfahrt des Dollars ausgelöst wurde.

Dieses Leistungsbilanzdefizit bedeutet, daß die USA mehr verbrauchen, als sie produzieren, daß sie mehr investieren können, als sie sparen, daß sie Tag für Tag weit über eine Milliarde Dollar importieren müssen - mit einem Wort, daß sie sich vom Rest der Welt finanzieren lassen.

Weil der Dollar Weltreservewährung Nummer eins ist, kann das lange gut gehen - bis der Punkt erreicht ist, an dem das Ungleichgewicht nicht mehr tragbar ist, an dem der Rest der Welt nicht mehr mitspielt, an dem die USA selbst an einer Abwertung ihrer Schulden interessiert sind.

Wir müssen klar sehen, daß die Dollar-Hegemonie untrennbar mit der politischen und militärischen Weltherrschaft der USA verbunden ist. Seit der spanischen Vorherrschaft im 16. Jahrhundert, ja sogar seit den Zeiten des römischen Imperiums, wird der Abstieg einer Weltmacht immer begleitet von Währungsverfall, von Inflation und steigenden Zinsen. England, der Vorläufer der USA, war der letzte derartige Fall. Auch die USA werden letzten Endes diesem Schicksal nicht entgehen.

Übrigens schneidet in punkto Staatsverschuldung die Euro-Zone ungleich besser ab als Japan, in punkto Zahlungsbilanz besser als die USA. Nur handelt es sich bei der Euro-Zone weder um eine homogene Volkswirtschaft noch um einen optimalen Währungsraum. Nicht nur in Griechenland liegt die Inflation schon wieder weit über der deutschen und französischen, in Portugal ist die Produktivität nur halb so hoch wie in Deutschland, die Skandinavier haben ihre Staatshaushalte im Griff, die Deutschen und Franzosen nicht im geringsten.

Weil hier zusammengefügt wurde, was nicht zusammenpaßt, werden die inneren Widersprüche dieser künstlichen Euro-Konstruktion aufbrechen - noch in diesem Jahrzehnt. Die Spreads der Staatsschulden werden sich ausweiten, das heißt die Finanzmärkte werden je nach Bonität unterschiedliche Zinsen verlangen. Dann werden einzelne Euro-Länder Schwierigkeiten mit der Bedienung ihrer Schulden bekommen.

Gut denkbar ist auch, daß das eine oder andere Land aus dem Euro wieder ausscheidet. Damit ist freilich erst in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts zu rechnen. Daß der Beitritt der osteuropäischen Länder zur Währungsunion den Euro nicht gerade stärken wird, bedarf keiner Erläuterung.

Frankreich und Deutschland allein (zusammen mit Benelux) hätten hingegen kein Problem mit der Währungsunion. So stellt sich die Frage, ob und wie sich die weltpolitischen Machtverhältnisse ändern werden und welche Gestalt Europa annehmen könnte.

Die Geschichte kennt lange Perioden des Stillstands und Epochen des Umbruchs und der Beschleunigung. In einer solchen Epoche leben wir heute. Sie wurde vorbereitet durch den Zusammenbruch des Kommunismus, das Ende des Ost-West-Konfliktes, aber auch durch die wirtschaftliche Aufholjagd Chinas, die dazu führen wird, daß das Reich der Mitte gemessen am BSP die USA innerhalb von 15 Jahren überholen wird. Damit wird China zum kommenden Gegenspieler der USA.

In Europa stehen die alten Strukturen noch, erkennbar an der Präsenz amerikanischer Truppen. Aber sie sind obsolet geworden. Die Nato hat ihren Zweck als Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion überlebt. Sie wurde degradiert zu einem Dienstleistungsbetrieb der globalen amerikanischen Interventionspolitik. Sie deckt sich nicht mehr mit europäischen Interessen. Solange die Rote Armee vor den Toren Westeuropas stand, wurde die US-Hegemonie als erträglich empfunden. Ohne den Gegner zerfällt der Kitt der atlantischen Militärallianz. Bündnisse dieser Art brauchen einen Antagonismus, der sie zusammenschweißt.

Weil sich die Verhältnisse geändert haben, war der Krach zwischen dem sogenannten "alten Europa" und den Vereinigten Staaten unvermeidlich. Er hat sich aktuell an der Irak-Frage entzündet, es hätte aber auch ein anderer Anlaß sein können. Mit einer CDU-Regierung in Berlin wäre die Krise vielleicht nicht schon jetzt eingetreten, aber dann eben später. Geopolitische und realpolitische Faktoren wiegen schwerer als persönliche Animositäten.

Die USA haben heute ein jährliches BSP von rund 10.000 Milliarden Dollar, die sechs Gründerstaaten der EWG mit Österreich haben kaufkraftbereinigt knapp zwei Drittel davon. Andererseits ist das BSP Rußlands nur wenig größer als das belgische und kleiner als das niederländische. Da muß man sich doch fragen, wozu die Europäer die Amerikaner brauchen, um sich gegen die Russen zu verteidigen.

Selbstverständlich kann das alte Westeuropa auf eigenen Beinen stehen, es muß sich nur richtig organisieren. Es entsteht der Eindruck, daß die Erweiterung der EU und der Euro-Zone ihr Optimum entweder erreicht oder bereits überschritten hat, das nun Quantität an die Stelle von Qualität tritt. Mehr kann manchmal weniger sein.

Wie geht es weiter? Donald Rumsfeld täuscht sich, wenn er Deutschland als irrelevant bezeichnet, auf die sogenannten neuen Europäer setzt und wenn er glaubt, das alte Europa marginalisieren zu können.

Trotz aller Strukturschwächen ist dieses alte Europa immer noch das Kraftzentrum des Kontinents. Allein Deutschland exportiert, an der Kaufkraft gemessen, praktisch soviel wie die ungleich größeren USA. Für Osteuropa rangieren die Wirtschaftsbeziehungen zu Westeuropa ganz weit oben.

Eine europäische Konstruktion an Deutschland und Frankreich vorbei ist völlig illusionär. Sie hätte keine Chance. Daß die deutsch-französische Entente gerade jetzt wiederbelebt wurde, paßt in das Gesamtbild. Sie entspricht den objektiven Erfordernissen. Es ist keine Liebes-, sondern eine Vernunftheirat - um so besser. Fast scheint es, als bewege sich die Geschichte im Kreise. Wir erleben eine Wiedergeburt des Gaullismus. Beide Länder knüpfen dort wieder an, wo sie 1963 aufgehört haben, aufhören mußten.

Gemeint ist der deutsch-französische Vertrag vom 22. Januar 1963. Der Vertrag konnte so, wie er von Adenauer, de Gaulle und auch Strauß gedacht war, nie realisiert werden. Geplant war erstens eine gemeinsame Militär- und Rüstungspolitik, auch auf nuklearem Gebiet. Zweitens sollte die deutsch-französische Entente zum gleichberechtigten Bündnispartner der USA werden. Hinzu käme ein militärisch starker europäischer Staatenbund als dritte Kraft der Weltpolitik.

De Gaulle erkannte klarsichtig, daß ein "integriertes Europa" (im Gegensatz zu einem Staatenbund) überhaupt keine Politik betreiben würde. Michel Debré, sein Premierminister von 1959 bis 1962, sagte einmal, Frankreich könne nur im "accord" mit Deutschland einem "Protektoratsschicksal" entgehen.

Daß dieser Weg nicht eingeschlagen wurde, daß die von de Gaulle zutiefst verachtete EG-Bürokratie immer weiter wuchern konnte, daß sowohl der deutsch-französische Block als auch die EG als Ganzes politisch und militärisch derart schwach blieb - das alles lag an der massiven Intervention der Regierung Kennedy, die sich 1963 des pro-amerikanischen CDU-Flügels bediente, um den Vertrag zu kastrieren.

Die Technik bestand darin, daß der Bundestag dem Vertrag einseitig eine Präambel voranstellte. Damit war dann auch den Wünschen Moskaus Genüge getan. Washington wiederum wertete den Vertrag als "diplomatische Kriegserklärung" und legte über den US-Botschafter in Bonn Protest ein.

Zur Zeit passiert folgendes: Mit ihrem Versuch, die EU noch vor ihrer Osterweiterung zu spalten, animieren die Amerikaner eine Entwicklung, die sie eigentlich verhindern wollen. Es kommt zu einer Stärkung des deutsch-französischen Kerns, zu einem Europa der konzentrischen Kreise, zu einer Abnabelung von den USA, die die Voraussetzung bildet für eine spätere Partnerschaft unter Gleichen.

Ein Gewinner des Selbstfindungsprozesses der Europäer und des neuen europäisch-amerikanischen Antagonismus steht schon jetzt fest: die Schweiz. Sie war zuerst brutalem Druck aus Washington ausgesetzt, als ihre Rolle im Zweiten Weltkrieg zur Debatte stand, als die USA auf infame Weise versuchten, die Schweiz moralisch abzuwerten. Dann kam die große Attacke der EU auf den Finanzplatz Schweiz und das Bankgeheimnis - die Verhandlungen sind immer noch nicht abgeschlossen.

In beiden Fällen wurde das Prinzip der Neutralität unter Verdacht gestellt. Jetzt, wo sich die zwei Lager streiten, wird aus der Neutralität plötzlich wieder eine recht bequeme Position. Die Schweiz wird die Entwicklungen, die ich hier skizziert habe, von der Loge aus beobachten können. Der Druck von außen wird nachlassen. Vielleicht kommt die EU sogar eines Tages auf die Idee, daß die Confoederatio Helvetica für den Rest Europas kein schlechtes Modell abgeben würde.

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Dr. Bruno Bandulet ist Herausgeber des "Deutschlandbriefs" und des Finanzdienstes "Gold & Money Intelligence".


 
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