© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/03 25. Juli / 01. August 2003

 
Schöne neue Welt
Die Gesundheitsreform löst keine Probleme, sondern verschiebt sie nur
Jens Jessen

Den großen Kuhhandel zwischen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und Unionsverhandlungsführer Horst Seehofer segneten Kanzler Gerhard Schröder und CDU-Chefin Angela Merkel am 21. Juli um drei Uhr morgens in einem Telefongespräch ab. Regierung und Opposition geben sich als Sieger des 13 Tage langen Verhandlungsmarathons aus.

Die parteiübergreifende Blindheit der Gesundheits- und Sozialpolitiker ist nicht der nötigen Klarsicht gewichen. Die angekündigte Strukturreform ist schmählich gescheitert. Geblieben ist, wie bisher immer, ein Geldbeschaffungsprogramm auf Kosten der Versicherten. Ab 2005 wird der Zahnersatz aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausgegliedert. Warum die Versicherten dann gezwungen werden, eine Zusatzversicherung abzuschließen, ist nicht einzusehen. Schließlich könnte der Versicherte das eingesparte Geld besser als in einer zusätzlichen Zwangsversicherung anlegen. Präventive Zahnpflege verschiebt den Zeitpunkt der Inanspruchnahme zahnärztlicher Leistungen so weit in die Zukunft, daß vorausschauende Versicherte sich dann ein edles Gebiß leisten könnten.

Ab 2007 wird das Krankengeld ebenfalls allein von den Versicherten getragen - auch per Zusatzversicherung. Diese Regelungen entlasten die Arbeitgeber. Ihr Anteil an den GKV-Beiträgen sinkt von 50 Prozent auf 47 Prozent. Die Idee weiterzuverfolgen, den Versicherten den bisherigen Beitragsanteil der Arbeitgeber zum Lohn zuzuschlagen, ist strikt abgelehnt worden mit dem Argument, es sollten die Lohnnebenkosten gesenkt werden. Das ist Augenwischerei. Wenn Lohnnebenkosten gesenkt werden sollen durch eine zusätzliche Zwangsbelastung der Versicherten, verringert sich das dem Versicherten zur Verfügung stehende Einkommen. Die Konsumnachfrage sinkt.

Das Scheitern der Strukturreform ist die Folge einer Politik, die stets auf den Augenblicksvorteil und die eigene Klientel geschielt hat. Während die Parteien sich darüber streiten, wie eine vorgezogene Steuerreform finanziert werden soll, haben die Gesundheitspolitiker das Geld für die Bürger über die Belastung der Versicherten schon wieder einkassiert. Die vielen guten oder weniger guten Vorschläge für eine Änderung der Finanzierung des Gesundheitswesens sind spurlos an den Architekten des neuen Kostendämpfungsgesetzes vorbeigegangen. Die Bürgerversicherung für alle ist ebenso wie das Kopfprämiensystem, das die Möglichkeit für den Aufbau eines Kapitalstocks geboten hätte, nicht weiter diskutiert worden. Statt dessen sollen die GKV-Mitglieder den Zahnersatz wahlweise bei der GKV oder privaten Kassen versichern.

Problematischer geht es nicht. Das Urteil des Bundesverfassungsgericht zu dieser Konstruktion wird nicht lange auf sich warten lassen. Die eigentlichen Probleme, wie die GKV auf Dauer gesichert und die medizinische Versorgung in Deutschland unter der Bürde der demographischen Entwicklung zukunftssicher gemacht werden kann, sind unbeantwortet geblieben.

Das gilt für die medizinischen Innovationen ebenso wie die strukturellen Verkrustungen im Gesundheitswesen. Die Medizin entwickelt sich mit zunehmender Dynamik. Das Gesundheitssystem-Modernisierungs-Gesetz (GMG) hat darauf nicht einmal den Ansatz einer Antwort gefunden. Was geschieht, wenn die Medizin in zwei, fünf und zehn Jahren Menschen helfen kann, für die es heute keine Hilfe gibt, und den Kassen für die Finanzierung die Mittel fehlen? Die Rechnungen über Einsparungen im Jahr 2004 bis 2007 sind vergleichbar mit den Rechnungen von Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD).

Hans Jürgen Ahrens, Vorstandsvorsitzender der AOK, kann nur den Kopf schütteln über den Euphemismus der politisch Handelnden. Die Kassen, so Ahrens, würden vielleicht um 10 Milliarden Euro bis Ende 2004 entlastet. Dem stehen aber aufgelaufene Defizite der Kassen bis Anfang 2004 von sieben Milliarden Euro gegenüber. Gleichzeitig ist der Trend der zunehmenden Gesundheitsausgaben in Abhängigkeit von der sich ändernden Altersstruktur in Deutschland ungebrochen. Der Schock über die zusätzlichen Belastungen der Kranken wird zwar, wie bei allen bisherigen Kostendämpfungs- und Kostenverlagerungsgesetzen, nach Inkrafttreten des Gesetzes zu einer Beruhigung der Kostenentwicklung führen. Ein anderer Effekt ist jedoch nicht eingerechnet worden, obwohl er immer zu beobachten war: der Versicherte wird, soweit es geht, Leistungen zeitlich vorziehen, die nach Inkrafttreten des Gesetzes seinen Geldbeutel strapazieren. Das wird in diesem Jahr zu einer Zunahme der GKV-Ausgaben führen, die sich in einer Erhöhung des Beitragssatzes auf 14,5 bis 14,6 Prozent niederschlagen wird.

Der unter Sozialminister Norbert Blüm in den achtziger Jahren entstandene "Blüm-Bauch" ist dafür ein blendendes Beispiel. Statt die Beiträge im kommenden Jahr von 14,4 Prozent auf 13,6 Prozent zu senken, wird die gesetzliche Krankenversicherung froh sein, wenn sie sich der 14,1-Prozent-Marke nähert. Der Kompromiß um jeden Preis kann die Probleme des Gesundheitswesens nicht lösen. Er mildert sie kurzfristig. Der Kompromiß zeigt, daß eine große Koalition das ungeeignetste Mittel ist, Probleme zu lösen.


 
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