© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/03 25. Juli / 01. August 2003

 
Totale Vernichtung auf konventionelle Art
Die US-Angriffe 1945 auf Tokio haben weitaus größere Opfer gefordert als die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki
Nobuhiko Murata

Die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki, die am 6. und am 9. August 1945 durch die ersten Atombomben völlig zerstört wurden, sind weltweit zum Inbegriff eines verbrecherischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung geworden. Die bis heute immer wiederholte amerikanische Entschuldigung, daß nur mit dem Einsatz der Kernwaffen das auf der Potsdamer Konferenz im Juli proklamierte Ziel der Kriegsparteien Großbritannien, USA und der am 8. August in den Krieg mit Japan eingetretenen Sowjetunion (Potsdamer Erklärung vom 25. Juli 1945), nämlich die bedingungslose Kapitulation Japans und die Verminderung weiterer Kriegsopfer zu erreichen war, wird von vielen wissenschaftlichen Stimmen bestritten.

Der führende Militärhistoriker in Japan, Kiyoshi Ikeda, stellt anhand der Aussagen zahlreicher ehemaliger Generäle und Admiräle aus der japanischen Kriegführung die "amerikanische Version" in Frage, nur die Atombombenabwürfe hätten die Bereitschaft in der Militärführung zum Friedensschluß herbeigeführt. Der britische Militärhistoriker Basil Liddell Hart beschreibt die Atombombenangriffe sogar als "rassistische" Aktion der USA, denn eine Kapitulation zeichnete sich auch im Verständnis der japanischen Führung bereits Anfang 1945 deutlich ab. Insofern bliebe als Begründung für den Abwurf nur das Motiv, die neue Waffe an den Söhnen und Töchtern Nippons "auszuprobieren", was eine rassistische Anschauung gegenüber dem Inselvolk impliziere. Auch die im Abschnitt 2 der Potsdamer Erklärung durch US-Präsident Henry S. Truman prognostizierte "völlige Vernichtung" kündigt diese Folgen der Atombombenabwürfe bereits an. Lediglich die Abstimmung mit dem sowjetischen Angriff am Tag des Abwurfs der ersten Bombe auf Hiroshima dürfte als strategische Begründung standhalten. Die These des "geschlagenen Japan" stützt auch der auf Asien spezialisierte US-Historiker an der Stanford-Universität im kalifornischen Palo Alto, Alwin D. Coox: Die schweren und vernichtenden konventionellen Luftangriffe im Frühjahr 1945, insbesondere auf Tokio, hätten der zusätzlichen Atombombenabwürfe nicht mehr bedurft. Das auf einen Bombenkrieg völlig unvorbereitete Kaiserreich war spätestens zu diesem Zeitpunkt zu allen Friedensverhandlungen bereit.

Wie verwundbar Japan gegenüber Luftangriffen war, beweist das völlige Fehlen jeglicher Luftabwehrmaßnahmen. Flugabwehrkanonen waren kaum vorhanden, die wenigen vorhandenen Luftsuchscheinwerfer waren viel zu schwach für die hochfliegenden Bomber, die durch die im Vergleich zu Deutschland, Großbritannien oder den USA schwach entwickelte Radartechnologie ohnehin nur schwer entdeckt werden konnten. Katastrophal war auch die Organisation der Brandabwehr. Wegen des Mangels an Feuerwehrfahrzeugen mußten Bürger mit Wassereimern gegen Brandherde vorgehen. Bei der traditionellen japanischen Hausbauweise mit Papier und Holz läßt sich mit diesen mittelalterlichen Methoden naturgemäß wenig ausrichten.

Schon am 18. April 1942 flogen 16 B-25 Bomber "Mitchell" vom Flugzeugträger Hornet ab, 13 davon bombardierten Tokio. Die materiellen Schäden dieses als "Doolittle-Raid" bezeichneten Angriffs blieben gering, allerdings war die psychologische Bedeutung immens, da sich nur vier Monate nach Kriegsbeginn zeigte, wie verwundbar die Hauptstadt gegenüber der US-Luftwaffe war. Dieser als "Kriegspropaganda" einzuordnende Angriff erschütterte das japanische Oberkommando derart, daß die kaiserliche Marine von ihrer bisherigen Strategie - der Sicherung von Versorgungslinien zwischen Japan und den "Rohstoffzonen" der "großasiatischen Wohlstandssphäre" in Südostasien - abwich und der Jagd auf die US-Flugzeugträger höhere Priorität zumaß. Das kaiserliche Hauptquartier wollte damit einen weiteren Bombenangriff verhindern. Doch die angeblich "'unbesiegbare' Rengo Kantai (Vereinigte Flotte)" versank bei Midway im Pazifik, nachdem die US-Navy sie in eine Fall gelockt hatte. Denn Admiral Isoroku Yamamoto war bei seiner Jagd auf die US-Träger selbst zum Gejagten amerikanischer Marineflieger geworden. Von seiner gewaltigen Flotte aus über 200 Kriegsschiffen, darunter acht Flugzeugträger und elf Schlachtschiffe, die zur Seeschlacht von Midway auflief, verlor er kriegsentscheidende vier Flugzeugträger. Angesichts dieses Desasters erkannte man in Tokio, daß Doolittles unbedeutender Luftangriff ein "Stalingrad" der kaiserlichen Flotte zur Folge gehabt hatte.

Tokios bewohntes Areal wurde ausgelöscht

Nach der Einnahme der zur Marianengruppe gehörenden Inseln Saipan und Guam im Juli 1944 konnten die US-Bomber B-29 "Superfortress" mit einer Reichweite von über 8.000 Kilometern Japan direkt angreifen. Doch bis zum November des Jahres 1944 starteten diese fliegenden Festungen, die aufgrund ihrer für japanische Abfangjäger unerreichbaren Gipfelhöhe von über 10.000 Metern ohne Begleitschutz flogen, nur zur Aufklärung. Der erste große Bombenangriff fand am 24. November 1944 statt. 88 B-29-Bomber griffen japanische Rüstungseinrichtungen an und zerstörten die Flugzeugfabriken Nakajimas und den Tokioter Hafen. Die 550 Toten und Verletzten waren hauptsächlich Hafen- und Fabrikarbeiter.

Obwohl dieser Luftangriff ein großer Schock für die Regierung des Tenno war, erweckte er bei der Zivilbevölkerung die Erwartung, daß nur militärisch wichtige Objekte bombardiert würden. Die nächsten Monate sollten diese Hoffnung jedoch bitter enttäuschen und den Bürgern von Tokio die Bedeutung der buddhistischen Prophezeiung von der "Hölle auf Erden" näherbringen.

Im Laufe des Dezember 1944 gingen die B-29 bei ihren insgesamt fünfzehn Angriffen auf Tokio dazu über, gezielt Brandbomben abzuwerfen. Dabei verbrannten 734 Menschen. Das Jahr 1945 begann mit der "Neujahrsbombardierung" auf die Hauptstadt. Bis Ende Februar stiegen die Opferzahlen der immer häufigeren Angriffe auf über 3.500. Doch diese von wenigen Bombern ausgeführten Attacken waren nur ein Vorspiel im Vergleich mit dem 10. März 1945. Mehr als 349 B-29 warfen insgesamt 190.000 Brandbomben über der ungeschützten Stadt ab. Sprengbomben waren wegen der japanischen Leichtbauweise gar nicht vonnöten.

Einer der bekanntesten Schriftsteller Japans, Katsumoto Saotome, beschrieb dieses traumatische Erlebnis seiner Kindheit: "Am 10. März Showa (1945), ist Jyoto (Stadtteil von Tokio, wo die meisten einfachen Bürger wohnten) in nur zweieinhalb Stunden durch die grausamen Bombenangriffe zur Geisterstadt geworden. 124.711 Menschen und 368.358 Häuser sind allein in Jyoto zum Opfer gefallen. Wo sind die Menschen? Bis gestern waren alle da! Alle Bewohner haben hier gelebt!" Auch der französische Journalist und AFP-Korrespondent in Tokio, Robert Guillain, berichtete: "Die gesamten geworfenen Bomben an diesem Tag übertrafen mehr als zehnmal die der deutsche Luftwaffe im ganzen September 1940 auf London. Die Brandfläche ist sogar 15mal größer als die in London." Später bezeichnete er die Bombardierung als "Massenvernichtung ähnlich dem Atombombenabwurf". Die Taktik des Bombenangriffs bewies, daß die US-Amerikaner möglichst viele Zivilisten treffen wollten. Am 9. März flogen um 22:30 Uhr zwei B-29 einen Scheinangriff. Nachdem der Alarm aufgehoben wurde, weckte um kurz nach Mitternacht die Hauptfliegereinheit die Tokioter Bürger aus tiefem Schlaf. Sogar aus der Stadt fliehende Frauen und Kinder wurden von begleitenden Tieffliegern direkt angegriffen. Die intakten Bezirke der in weiten Teilen in Schutt und Asche versunkenen Stadt wurden an drei weiteren Tagen (dem 13.,14. und 15. März) angegriffen. In den hierbei zerstörten 215.680 Häusern verbrannten wegen eingeleiteter Evakuierung nur 259 Opfer. Die folgende Bombardierung Tokios am 24. und 25. Mai gab der Stadt den Rest. Nach weiteren 221.199 verbrannten Wohnungen und 7.415 Zivilopfern war ihr bewohntes Areal ausgelöscht.

Im März 1945 wurden noch andere Großstädte Ziele von Bombenangriffen mit Tausenden von zivilen Opfern. So griff die US-Air-Force am 11. März Nagoya, am 14. März Osaka und am 16. März Kobe an. Die Militärführung war nach diesem Luftterror konsterniert. Japanische Historiker gehen davon aus, daß Kaiser Hirohito nach seiner Besichtigung der Innenstadt von Tokio am 18. März von einer Kriegsfortsetzung absah. So ernannte der Tenno im April seinen Oberhofmarschall, Generaladmiral Kantaro Suzuki, zum neuen Ministerpräsidenten. Er galt bei der Marine als ein "Kriegszauderer". Außerdem nahm der japanische Militärattaché in der Schweiz mit dem Chef des US-Geheimdienstes und CIA-Vorläufers OSS, Allan W. Dulles, Kontakt auf, um die Kriegsbeendigung zu verhandeln. Die Verhandlungen scheiterten jedoch, da die US-Regierung hartnäckig auf einer bedingungslosen Kapitulation bestand.

"Ich habe gar nichts zu bereuen", sagte Curtis LeMay

Der Verantwortliche der auf Massenvernichtung ausgelegten Bombardements in Japan war der US-General Curtis E. LeMay. Von 1941 bis 1943 war er einer der "erfolgreichsten" Tagangreifer der 8. US-Luftflotte in Europa gegen Deutschland. Er wurde darauf zum jüngsten Generalmajor der US-Heeresluftwaffe befördert und kommandierte ab 1944 die 20. Luftflotte in Ostasien. Er verantwortete die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Vorwürfen, sein Bombenterror gegen Zivilisten sei ein Kriegsverbrechen gewesen, begegnete LeMay in seinen Memoiren uneinsichtig: "Ich habe nicht die Zivilisten in Japan getötet. Ich habe nur die japanische Rüstungsindustrie vernichtet. Alle Zivilhäuser in Japan sind Rüstungsanlagen gewesen. Die Häuser aus Holz und Papier haben als Fabrik die Waffen gegen uns hergestellt. Ich habe gar nichts zu bereuen."

Der 10. März ist heute in Japan ein ähnlich wichtiger Tag wie der 6. oder 9. August. Tokios Bürger, alt oder jung, lassen die Lichter auf den Sumida-Fluß schwimmen, auf dem vor 58 Jahren die zigtausend Leichen der ermordeten Kinder, Frauen und Alten trieben. Damit soll der toten Seelen gedacht werden und die Erinnerung der Tokioter an die Barbarei wachgehalten werden.

Foto: Völlig zerstörter Tokioter Stadtteil Jyoto: Sprengbomben waren kaum vonnöten

Foto: Verbrannt in Tokios Straßen: Luftschutz war unbekannt


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen