© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/03 25. Juli / 01. August 2003

 
Von vorgestern und von übermorgen
von Ulrich Beer

Wenn es nicht blasphemisch klänge, könnte ich mit dem Bekenntnis beginnen: Ich bin ein Anhänger des Fortschritts. Ich bin dem Fortschritt dankbar, der uns die Antibiotika, die Nachrichtensatelliten, das Mobiltelefon, den Überschallflug, den Laserstrahl, die Pille und den Bypass, die höhere Lebenserwartung, meinetwegen auch noch die Weltraumfahrt und die Computertomographie, das Internet und die Möglichkeit beschert hat, virtuell durch Arterien und Galaxien zu wandern. Wer möchte dafür - jedenfalls für das meiste davon - nicht dankbar sein? Spätestens wenn man im Urlaub einmal einen Tag oder gar eine Woche ohne Licht, ohne Wasser und ohne Post mit Kerzenschein, Zisterne und Packesel verbracht hat, wird einem klar, daß es nicht nur eine Sehnsucht hinaus aus der Zivilisation, sondern auch eine gegenläufige zurück in die Zivilisation gibt. Auch wenn es uns bisweilen unbehaglich in ihr wird, denkt niemand von uns im Ernst daran, die reichen Lebensmöglichkeiten aufzugeben, die sie enthält. Also: Wir haben allen Grund, dem Fortschritt dankbar zu sein - aber wem eigentlich? Einer höheren Macht, die Fortschritt heißt und die scheinbar allmächtig und unaufhaltsam unsere Welt und unser Leben regiert?

"Fortschritt" ist als Begriff relativ neu und erst seit dem 19. Jahrhundert, und zwar in den Gründerjahren nach 1870, in Gebrauch, allerdings wurden dann bald - spätestens in den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges und von da an unaufhaltsam - die Kehrseiten des Fortschritts deutlich: Die kollektiven Vernichtungsmöglichkeiten durch technisches Gerät, durch chemische und biologische Raffinesse, die Ausbeutung von Mensch und Natur, die Entfremdung und Verkünstlichung unserer natürlichen Lebensbedingungen, der optische und akustische Lärm des Straßenverkehrs und der Freizeitindustrie und schließlich die Umkehrung der eigentlich selbstverständlichen Rangordnung, nach der der Mensch die Technik beherrscht, anstatt sich ihr zu unterwerfen und auszuliefern.

Längst haben wir die Grenzen und die Gefahren uferlosen Fortschritts erkannt, ohne sie doch immer genauer bestimmen und die Trennungslinien zwischen menschlichen Interessen und Bedürfnissen einerseits und der Automatik technologischen Fortschritts andererseits deutlich ziehen können. Aber eins wissen wir wahrscheinlich alle: Eine gute Macht, der wir uns getrost anvertrauen, ja der wir begeistert dienen können, ist der Fortschritt nicht. Wir stehen in dem Dilemma: Einerseits wollen wir davon profitieren und in gewissem und zum Teil hohem Grade ihm auch dienen, Verkehrs- und Informationstechnologie bringen nämlich die Menschen einander näher. Medizin- und Gebrauchstechnik verlängern und erleichtern das Leben. Und doch kann einem angst und bange werden, wenn wir hören, daß der Fortschritt erlaubt, Kinder vor der Geburt zu selektieren, Erbeigenschaften genetisch zu steuern, Embryonen zu züchten und zu klonen - von der hochgerühmten Perfektion der Waffentechnik ganz zu schweigen, deren Intelligenzdefizite wir gerade im letzten Krieg wieder erfahren konnten.

Dennoch: Der ernsthafte Rückweg ist uns verbaut, die alternative Sehnsucht nach Landkommune, Öllampe und Federkiel gehört auf den Müllhaufen der Moderne oder in die postmodernen Reservate von Aussteigern, deren Motive wir gewiß nicht schmälern wollen. Ja, es tut ein wenig weh, gegen sie recht behalten zu müssen. Sind nun eigentlich deren Motive konservativ, sind sie die wahren Konservativen, von denen unser Thema spricht?

Es wird deutlich: Wer sich mit Anstand und einiger Glaubwürdigkeit heute konservativ nennen will, darf die Errungenschaften des Fortschritts nicht ignorieren und diskriminieren. Schließlich lebt er auch von ihnen. Aber von dem unkritischen Modernisten unterscheidet er sich dadurch, daß er sortiert und die Werte von den Wertlosigkeiten trennt, daß er unablässig und bedachtsam filtert, was zu bewahren sich lohnt und wogegen es sich kritisch zu verwahren heißt. Und hier ist der wahre Konservative von einer Grundeinstellung geleitet, die nicht begeistert davon ausgeht: Was neu ist, ist gut, sondern die die Beweislast der Qualität dem auflädt, der etwas verändern will. Der wahre Konservative weiß, daß sich etwas ändern muß, wenn es besser werden soll, und daß Stagnation und Weigerung jedes Veränderns die schlechteste Lösung wäre. Gerade wer Gutes bewahren will, muß es dem Wandlungsprozeß anvertrauen, sonst würde es mit der Zeit erstarren und absterben. Das gilt auch für uns: Wer nicht flüssig wird, wird schließlich überflüssig.

Damit ist nicht eine kritiklose Verflüssigung auf den Wellen des Zeitgeistes gemeint - nur tote Fische schwimmen mit dem Strom, lebendige stehen gegen ihn, wie jeder Angler weiß. Nun wird der Konservative häufig gegen Zeittendenzen sein, aber eben nicht, weil er primär dagegen ist, dann wäre er reaktionär. Er ist gegen negative und bedenkliche Zeiterscheinungen, weil er für etwas ist, was zu bewahren, zu verteidigen oder auch zu erringen sich lohnt.

Hier unterscheidet sich der oberflächlich Konservative von dem, den ich den wahren Konservativen nenne: Der eine klammert sich an Traditionen, Konventionen, Bräuche und Rituale, der andere orientiert sich an Werten. Sie sind die eigentlichen Maßstäbe und Meßlatten, an denen sich auch der Fortschritt, wenn er diesen Namen verdient, zu messen hat. Es geht also nicht um vorwärts oder rückwärts, um rechts oder links, sondern um den Punkt, um den sich die Nadel der Windrose dreht, die ohnehin den Wind der Geschichte bald von der einen, bald von der anderen Seite anzeigt.

Konservativ ist man also nicht, weil man unbedingt an dem hängt, was gestern war, aber heute in Frage steht. Nein, die Fragen stellt auch der wahre Konservative. Er fürchtet die Kritik nicht. Die Kritik fürchtet nach einem Wort von Karl Kraus nur der Rost, denn die wahre Kritik will den Glanz. Sie will statt der Mode die Mitte, statt der Güter die Werte, statt der Quantität die Qualität. Konservativ in diesem Sinne zu sein, lohnt sich auch und gerade in bewegter Zeit, in der sich die Welt in zehn Jahren mehr verändert als früher in hundert, denn diese Werte geraten im Wirbel des Wechsels immer wieder aus dem Auge, und darum müssen wir sie aufspüren und fest im Auge zu behalten suchen. Darum lohnt es sich, konservativ zu sein, weil es um das geht, was gestern war, was heute ist und morgen sein wird, weil es immer sein muß.

Wir leben in der Freiheit wie in einer riesigen Schlagsahnetorte. Wir haben sie nicht errungen, sondern andere haben sie für uns erkämpft. Wir genießen sie und alle die mit ihr verbundenen tausend "Freiheiten von" und denken kaum nach über die "Freiheit zu". Die Freiheit ist aber keine Torte, sie ist eher so etwas wie ein Muskel. Wenn man sie nicht beansprucht, ausfüllt und immer neu betätigt, so erschlafft und verkümmert sie. Auch sie ist nicht nur eine Gabe, sondern eine tägliche Aufgabe. Ihre Gabe liegt darin, daß es in ihr möglich ist, Werte zu verwirklichen. Nicht schon Freiheit allein ist eigentlich wertvoll, sondern sie ist das notwendige Vorzeichen jedes anderen Wertes. Jeder wahre Wert aber verlangt zu seiner Verwirklichung die Voraussetzung der Freiheit, sonst wird er in sein Gegenteil pervertiert. Wir wissen genau, wie wenig erzwungene Liebe, diktierte Kunst oder organisierte Lebensfreude wert sind. Umgekehrt wird Freiheit erst sinnvoll durch die Wahrheit, um die Menschen in ihr ringen, und die Menschenrechte, um die sie sich einzeln oder gemeinsam mühen, um sie zu verwirklichen. Freiheit setzt also Wahrheitssuche und Wertbindung voraus, wenn sie nicht in Chaos oder Willkür ausarten soll, die allzu leicht in Zwangsherrschaft umschlagen können.

Bindung ist allerdings nicht dasselbe wie Abhängigkeit, Bindung ist immer freiwillig, ist Bejahung eines höheren Wertes, einer maßgeblichen Autorität. Bindung ist nur sinnvoll, wenn es etwas gibt, was größer ist als der Mensch, denn nur die Bindung an den jeweils höheren Wert macht vom jeweils niedereren frei. Die höchste Bindung an Gott kann von allen Abhängigkeiten der Welt frei machen. In diesem Sinne kann Luther sagen: domini sumus - wir sind des Herrn, darum sind wir Herren.

Bei dem, was wir Autorität nennen, geht es - und das wurde und wird oft verwechselt - nicht um Macht und Gewalt, sondern um Vertrauen, Bindung und Wertvermittlung. Die alten Römer unterschieden sehr treffend zwischen auctoritas und potestas. Potestas ist Macht und Vollzugsgewalt, auctoritas Vertrauens- und Überzeugungskraft. Sie besaß der Senat, der Rat der Alten, der eigentlich nichts zu sagen hatte, aber dessen Rat man sich füglich nicht entziehen konnte. Autorität im Sinne der auctoritas setzt Anerkennung und freiwillige Zustimmung voraus. Gewalt macht den anderen zum Objekt, Autorität respektiert in ihm den Partner, das Subjekt. Sie wird anerkannt, weil sie anerkennt. Sie beansprucht nicht nur Respekt, sie gewährt ihn auch. Das Wort kommt übrigens von dem Verbum augere, was so viel wie mehren oder wachsenlassen bedeutet. So gesehen ist Autorität das Verhältnis zwischen einem, der mehr hat, zum Beispiel Wissen, Erfahrung, Können, aber auch Güte, Geduld, Menschlichkeit, und einem, der - sagen wir es positiv - noch mehr davon brauchen kann. Wer Autorität hat, will nicht bevormunden, unterdrücken, klein halten und abhängig machen, sondern gerade mehren und fördern, helfen und aufbauen, mündig und unabhängig werden lasen. Wirkliche Autorität verhindert nicht, sondern fördert wirkliche Emanzipation. Übrigens hängt Autorität auch mit dem Wort Autor zusammen. Auch der Autor mehrt - am meisten der höchste Autor, die höchste Autorität, von der es im Lied "Die güldne Sonne" heißt: Segnen und Mehren, Unglück verwehren, sind seine Werke und Taten allein.

Insofern ist die Kultur, der kulturelle Fortschritt, der jedem progressiv eingestellten Geist am Herzen liegen muß, auf Autorität angewiesen. Und der grundsätzlich antiautoritäre Kampf gegen jede Autorität, der wohl zum Glück längst der Vergangenheit angehört, könnte nur einen Rückfall in die Barbarei zur Folge haben. Denn jede Generation ist auf die Wertvermittlung durch die vorangegangene angewiesen - ein selbstverständlicher Generationenzusammenhang, den man auch als das kulturelle Lebensbundprinzip bezeichnen könnte.

Und im Blick auf die Zukunft in einer schnellebigen oder schnellsterbigen Zeit ist sie - sind wir alle - um so mehr darauf angewiesenen, Generation um Generation auf den Schultern der vorangehenden aufzubauen. Nur so können wir weiterkommen - anders würden wir hoffnungslos zurückfallen.

Natürlich gibt es Eliten, allerdings ist es ihnen meistens gar nicht bewußt, und schon gar nicht sind sie stolz darauf. Sie finden sich unter Arbeitern ebenso wie unter Akademikern. Menschliche Autorität besitzt eben nicht der, der etwas zu befehlen oder zu verbieten, sondern der, der etwas zu bieten hat.

Wenn wir auch den Übergang zu den größeren Einheiten menschlich und maßvoll schaffen wollen, dann ist die deutliche von Erhard Eppler geprägte Unterscheidung zwischen Strukturkonservativismus und Wertekonservativismus angesagt. Nicht die überkommenen nationalen Strukturen zu erhalten, ist die eigentliche Aufgabe, sondern die aus ihnen erwachsenen Werte und geschichtlichen Erfahrungen. Diese verpflichten uns gerade in Deutschland zu Frieden und Friedfertigkeit, zu Menschenrechten und Toleranz, zum Schutz von Natur und Umwelt, auch von Fremden und Minderheiten. Demokratie und Bündnisfähigkeit, europäische Teambereitschaft und Verankerung von Friedenswillen und Menschenrechten nicht nur in der Verfassung, sondern auch im Denken und Fühlen der Menschen wirken überzeugend, so daß auch der zur eigenen Geschichte kritische Konservative in diesem Lande Halt und Heimat finden und sich seiner landschaftlichen Schönheiten und seines wirtschaftlichen Wohlstandes freuen kann, ohne unnötig stolz auf etwas davon zu sein, vielmehr die gerade in Deutschland bewiesene Bereitschaft zum Teilen weiter zu pflegen.

Der Potsdamer Publizist Alexander Gauland hat in seinem kürzlich erschienenen Buch "Anleitung zum Konservativsein" darauf hingewiesen, daß die Nation auch als noch so starkes Wirtschaftssubjekt keine Heimat bietet. Er schreibt: "Die Moderne ist nur dann aushaltbar, wenn die Unbehaustheit des Wirtschaftssubjekts eine Ergänzung in der Geborgenheit von Kultur und Geschichte findet." Und diese Kultur ist - wenn sie nicht nur Folklore sein will - Weltkultur, Humankultur. Hier allerdings gilt es zu sieben und zu filtern, und der Konservative muß sich auch vor sich selbst hüten und vor seiner Neigung, alles Überlieferte zu bewahren und zu einem historischen "Messie" zu werden - so nennt man Leute, die sich von nichts trennen können und die noch auf Sperrmüll und Flohmarkt zusammensuchen, womit sie ihre Wohnung zum Entsetzen ihrer Partner füllen. Alte Strukturen, die nicht mehr nützen, die nur im Wege stehen, mögen fallen. Alte Werte aber, die vielleicht unter viel Schrott und Schutt verborgen waren, können neu entdeckt, müssen freigelegt und freigesetzt werden, damit sie ihre Wirkung entfalten und die Wirklichkeit gestalten können. Friedrich Nietzsche, der sein Vaterland nicht durchgehend haßte, hat gerade uns diese Aufgabe gegeben. "Die Deutschen", sagte er, "sind ein Volk von vorgestern und von übermorgen." Nur das Zeitgemäße fällt ihnen schwer.

Bild: Renato Guttuso, "Boogie-Woogie", 1953: Nur wer nicht in der Gegenwart aufgeht, sieht in die Zukunft

 

Prof. Dr. Ulrich Beer, Jahrgang 1932, ist promovierter Psychologe und Psychotherapeut. Einem breiten Publikum bekannt wurde er als sachverständiger Berater der langjährigen Fernsehsendung "Ehen vor Gericht".


 
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