© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/03 08. August 2003

 
Krisenherd ohne Perspektive
Kosovo: Fast viertausend Soldaten der Bundeswehr helfen, ein "nichtkriegerisches Nebeneinander" zu sichern
Michael Waldherr

Zum Abschied gab es lobende Worte: UN-Generalsekretär Kofi Annan hat dem Anfang Juli aus dem Amt geschiedenen Verwalter der Vereinten Nationen für das Kosovo, Michael Steiner, für dessen Arbeit gedankt. Steiner wechselt als Leiter der Ständigen Vertretung Deutschlands bei den Vereinten Nationen nach Genf. Annan würdigte Steiners "harte Arbeit und Hingabe", mit der er die UN-Verwaltung für das Kosovo (Unmik) geführt habe. Während Steiners 18monatiger Amtszeit seien vermehrt Flüchtlinge ins Kosovo zurückgekehrt. Ferner wurden ein neues Strafgesetzbuch und eine neue Strafprozeßordnung eingeführt, die die Gesetze vereinfachen und an internationale Standards annähern. "Sowohl Pristina als auch Belgrad sind jetzt bereit, bei praktischen Themen von gegenseitigem Interesse in einen direkten Dialog einzutreten", erklärte Annan.

Doch letzteres ist wohl eher frommes Wunschdenken als eine zutreffende Beschreibung der Realität. Daß es nicht ganz so rosig aussieht, mag der kritische Beobachter auch daran erkennen, daß es der Uno erst Ende Juni gelungen ist, einen Nachfolger für Steiner als Unmik-Chef zu benennen. Inzwischen hat der ehemalige finnische Ministerpräsident Harri Holkeri das Amt übernommen.

Das Kosovo steht seit 1999 unter UN-Verwaltung. Der blutige Bürgerkrieg zwischen serbischer Minderheit und kosovo-albanischer Mehrheit ist vorbei. Doch unter der scheinbaren Normalität des Alltags in der Balkanregion schwelen noch immer multiethnische Konflikte. Nur ein paar Beispiele: Kurz vor Ostern erklärte Steiner die im Untergrund agierende sogenannte "Albanische Nationalarmee" (Armata Kombetare Shqiptare/AKSh) zur Terrororganisation. Hintergrund war unter anderem ein Anschlag auf eine Eisenbahnbrücke im mehrheitlich serbisch besiedelten Norden Kosovos, der zwei AKSh-Mitglieder das Leben kostete.

Die Untergrundorganisation hatte sich zuvor schon zu ihrer Urheberschaft für eine Reihe von Attentaten im südserbischen Presovo-Tal bekannt. Die AKSh kämpft für eine Vereinigung aller albanisch besiedelten Gebiete des ehemaligen Jugoslawien. Internationale Bekanntheit erlangte die Gruppe vor anderthalb Jahren bei den bürgerkriegsähnlichen Kämpfen in Mazedonien. Mindestens 25 Morde an serbischen und mazedonischen Sicherheitskräften seit 2001 werden der AKSh von lokalen Medien zugeschrieben, ebenso die sich häufenden nächtlichen Straßensperren paramilitärischer Trupps.

Drei mutmaßliche AKSh-Mitglieder stehen in Gnjilane unter anderem wegen Anstachelung zum Rassenhaß sowie illegalen Waffenbesitzes vor Gericht. Solche Prozesse gestalten sich schwierig, weil immer wieder aussagewillige Zeugen ermordet werden. Offensichtlich ist es den internationalen Sicherheitsbehörden noch nicht gelungen, örtlichen Machtstrukturen beizukommen, in denen die offiziell aufgelöste UÇK eine ganz erhebliche Rolle spielt.

Untergründig schwelen die ethnischen Konflikte weiter

Indes argumentieren nicht wenige Kosovaren, erst nach Erlangung der Unabhängigkeit könne Ruhe und Ordnung im Kosovo einkehren. Steiner hat als Unmik-Chef zwar eine spätere Unabhängigkeit Kosovos ausdrücklich nicht ausgeschlossen und versprochen, bis Jahresende mit Ausnahme des Minderheitenschutzes, der Sicherheit und der Außenpolitik alle Befugnisse seiner Behörde auf die lokalen Institutionen zu übertragen, aber er hat auch unmißverständlich klargestellt, daß Standards wie Rechtssicherheit, Flüchtlingsrückkehr und Minderheitenschutz gesichert sein müßten, bevor über einen endgültigen Status gesprochen werden könne.

In der serbischen Hauptstadt Belgrad werden Steiners Worte so interpretiert, daß die internationale Staatengemeinschaft allmählich und stillschweigend entgegen der UN-Resolution 1244 die Grundlagen für ein unabhängiges Kosovo schafft. Als Drahtzieher vermuten die Serben - nicht ohne Grund - die US-Amerikaner, deren einseitig pro-albanische Haltung in der internationalen Kosovo-Schutztruppe Kfor schon zu erheblichen Spannungen geführt hat. Der realpolitisch orientierte serbische Ministerpräsident Zoran Djindjic hatte im Januar das Heft des Handels an sich gerissen, indem er den baldigen Beginn der Gespräche über den endgültigen Status Kosovos forderte und die Option einer Teilung der Provinz ins Spiel brachte. Das gilt in den nationalistischen Kreisen Serbiens, die das Amselfeld als serbisches Kernland betrachten, als Vaterlandsverrat. Am 12. März 2003 wurde Djindjic in Belgrad ermordet. Die regierungsamtliche Version, die Mafia habe mit dem Attentat einen Gegenspieler ausgeschaltet, spiegelt nur einen Teil der Wirklichkeit wider.

Die Auseinandersetzung um den endgültigen Status des faktischen Nato-Protektorats Kosovo, das völkerrechtlich noch immer zu Serbien gehört, tobt vor allem unter den Wortführern der albanischen Mehrheitsbevölkerung. Dabei kommt es zu vertauschten Rollen. Gerade der als westlich-orientiert und gemäßigt geltende Kosovo-Präsident Ibrahim Rugova schlägt Töne an, die der offiziellen Unmik-Position "Standards vor Status" widersprechen. "Das Streben der Kosovo-Albaner nach staatlicher Unabhängigkeit wird auch gegen den Willen Serbiens Erfolg haben", glaubt Rugova und erklärt selbstbewußt: "Belgrad wird zur Unabhängigkeit Kosovos nicht gefragt werden - weder von den Kosovo-Albanern noch von der internationalen Staatengemeinschaft."

"Erst Unabhängigkeit, dann Dialog", fordert Rugova

Rugova steht an der Spitze der Demokratischen Liga, die bei der letzten Kommunalwahl zur stärksten politischen Kraft im Kosovo gewählt wurde. Er begründet seine schroffe Haltung mit dem Scheitern eines von Ex-Unmik-Chef Steiner angeregten direkten Dialogs mit den Serben. "Wir Albaner sind an solchen Gesprächen, etwa über die gegenseitige Anerkennung von Nummernschildern und Personalausweisen oder Fragen der Energiepolitik interessiert, aber die Serben haben stets nur die Frage nach der Zukunft des Kosovo gestellt. Sie hoffen noch immer, sie könnten das Kosovo zurückerlangen."

Was Rugova verschweigt: Natürlich ist die Anerkennung von Pässen oder Autokennzeichen eine Statusfrage. Er setzt auf die normative Kraft des Faktischen. Doch die Serben lassen sich nicht darauf ein, weil sie sich über den Tisch gezogen fühlen. Als Ausweg aus diesem Dilemma empfiehlt Rugova: "Erst Unabhängigkeit, dann Dialog." Um diese Position dem Westen schmackhaft zu machen, verspricht er, Kosovo strebe die Mitgliedschaft in EU und Nato an: "In einem unabhängigen Kosovo wird es Stützpunkte der Nato geben."

Energisch wendet sich Rugova gegen alle Lösungsvorschläge, die nicht auf Unabhängigkeit zielen. EU-Diplomaten hatten die Idee, das lose Staatenbündnis Serbien und Montenegro, der Rechtsnachfolger Rest-Jugoslawiens, solle 2006 um das Kosovo erweitert werden. Die Mitglieder des Staatenbündnisses könnten laut Verfassung per Volksabstimmung das Bündnis verlassen oder bestätigen.

Die Idee ist so elegant wie abwegig: Nach der UN-Resolution 1244 ist Kosovo völkerrechtlich nicht eigenständig, sondern noch immer ein Teil Serbiens - auch wenn 90 Prozent der Einwohner Albaner sind. Rugova erteilt dem Gedankenspiel jedenfalls eine Absage: "Das Kosovo wird einer solchen Kombination niemals beitreten."

Einer föderalen Struktur wie in Bosnien-Herzegowina vermag Rugova nichts Positives abzugewinnen. Dort verfügt der serbische Bevölkerungsanteil über eine eigene "Entität" genannte Teilrepublik. "Das ist nur ein Versuch Belgrads, den serbisch dominierten Norden Kosovos an sich zu reißen", wehrt Rugova ab. Kosovo sei so klein, da gebe es nichts zu föderalisieren. Überdies seien die Serben in den kosovarischen Institutionen überrepräsentiert. Rugova betont: "Die Rechte der Serben werden respektiert."

Der Satz freilich ist Schönfärberei. Alvaro Gil-Robles, der Menschenrechtsbeauftragte des Europarats, weist in seinem jüngsten Bericht darauf hin, daß serbische Rückkehrer, die nicht in serbischen Enklaven wohnen, noch immer den ständigen Schutz der Kfor brauchen und kaum in der Lage sind, sich innerhalb Kosovos ohne militärische Eskorte zu bewegen. In einigen Gegenden kommt es immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen auf Serben. Statt dessen beklagt Rugova, daß der serbisch dominierte Norden Kosovos mit dem Brennpunkt Nord-Mitrovica keine kosovarischen Institutionen anerkenne: "Unmik und Nato müssen mit uns zusammen resoluter vorgehen, um serbische Extremisten zu stoppen, die dort operieren."

Ausgerechnet Rugovas politischer Gegenspieler Hashim Thaci, einst militant-radikaler Führer der "Kosovo-Befreiungsarmee" UÇK, jetzt Führer der zweitgrößten "Demokratischen Partei", gibt sich auf einmal lammfromm und schwenkt auf die von Michael Steiner geprägte Unmik-Linie ein: "Die bedingungslose Forderung nach einer Unabhängigkeit Kosovos zielt ins Leere und ist angesichts der herrschenden regionalen und weltpolitischen Verhältnisse derzeit nicht angebracht."

Zum ersten Mal wurden UÇK-Mitglieder verurteilt

Thaci, gegen den beim Kriegsverbrechertribunal in Den Haag Ermittlungen wegen seiner zweifelhaften UÇK-Vergangenheit laufen, übt sich in diplomatischer Geschmeidigkeit - wohl um sich als besonnener Staatsmann der Zukunft zu profilieren: "Kosovos Unabhängigkeit ist kein Akt, sondern ein Prozeß, der international zwischen Belgrad und Pristina moderiert werden muß, bis in beiden Ländern rechtsstaatliche Verhältnisse erreicht sind." Dann sei die Statusfrage zwischen zwei gleichberechtigten Partnern zu lösen. Das Moratorium verhindere in der Zwischenzeit eine Radikalisierung des politischen Klimas und erlaube den Aufbau einer funktionierenden Verwaltungsstruktur für sämtliche Einwohner Kosovos.

"Inakzeptabel und politisch verantwortungslos", kommentiert Kosovo-Präsident Rugova den Thaci-Vorschlag. Derweil toben in Thacis eigener Partei, die aus der UÇK hervorgegangen ist, wilde Proteste. Dennoch bleibt Thaci bei seiner Linie und versucht so, den vom Westen gehätschelten Rugova international ins Abseits zu stellen: "Die Forderung nach Unabhängigkeit ständig zu wiederholen, gleichzeitig aber ein Konzept quasifeudaler Herrschaft beizubehalten, ist ein Irrweg."

Ob ausgerechnet Thaci als künftiger Heilsbringer für das Kosovo taugt, darf bezweifelt werden. Kritiker befürchten, daß ein Wolf nur Kreide gefressen hat. Vor einer Anklage des Haager Kriegsverbrechertribunals hat Thaci angeblich keine Angst. "Die UÇK hat keine Verbrechen begangen", behauptet Thaci, als ob es gerade auf dem Balkan eine klare Trennung zwischen Gut undBöse gäbe. Er zieht daraus den Schluß: "Zu einer Anklage wird es nicht kommen." Daß sein Partei-Vize, der frühere UÇK-Kommandeur Fatmir Limaj, als mutmaßlicher Kriegsverbrecher in Den Haag in Untersuchungshaft sitzt, beeindruckt Thaci nicht: "Ich glaube nicht, daß er aufgrund bloßer Erfindungen und böswilliger Bezichtigungen verurteilt wird."

Zum ersten Mal überhaupt wurden Mitte Juli vier frühere UÇK-Mitglieder in der kosovarischen Provinzhauptstadt Pristina wegen Kriegsverbrechen zu Haftstrafen zwischen fünf und 17 Jahren verurteilt: endlich ein Lichtblick für eine rechtsstaatliche Entwicklung. Ein internationales Gericht befand die Männer unter anderem für schuldig, im Zeitraum zwischen März 1998 und Juni 1999 für mehrere Fälle von Mord und Folter an Kosovo-Albanern verantwortlich zu sein, weil sie diese der Kollaboration mit den Serben verdächtigt haben.

Die höchste Haftstrafe in diesem Prozeß erhielt Rrustem Mustafa, der Gebietskommandeur der UÇK in der an Serbien grenzenden Region Podujevo im Nordosten Kosovos war und allein wegen dieser Führungsposition Thaci bekannt sein mußte. Mustafa hatte den Mordbefehl an die drei Mitangeklagten erteilt, die unter seinem Kommando standen. Besonders pikant: Mustafa war nach dem von der Nato erzwungenen Abzug der Serben aus der Provinz und der offiziellen Auflösung der UÇK 1999 als Kommandeur in das sogenannte Kosovo-Schutzkorps TMK eingetreten.

Zugeständnisse an die albanische Mannesehre

Dieser nato-oliv uniformierte, militärisch organisierte Verband soll nach den Vorstellungen der Unmik wie das deutsche Technische Hilfswerk für Umwelt- und Katastrophenschutz zuständig sein. Wozu die TMK-Offiziere ganz offiziell Pistolen tragen dürfen, macht aber stutzig. Dieses Zugeständnis an die albanische Mannesehre kam auf Druck der pro-albanischen USA zustande.

Faktisch ist das TMK die Nachfolgeorganisation der UÇK. Die Mitglieder machen aus ihrem Selbstverständnis keinen Hehl: Sie fühlen sich als Keimzelle einer künftigen Armee in einem unabhängigen Kosovo. Wer sich gerne von der Bevölkerung als Held verehren läßt, für den ist das Beseitigen von Autowracks und Müll aus Flußläufen keine besonders erstrebenswerte Lebensaufgabe. Als Unmik-Polizei und Kfor-Soldaten im August vergangenen Jahres Mustafa verhafteten, kochte die kosovo-albanische Volkseele in Podujevo: 3.000 Menschen demonstrierten, daß man ehemalige UÇK-Kämpfer besser in Ruhe läßt.

Bundeswehroffiziere räumen offen ein: "Von einem friedlichen Miteinander kann nach wie vor keine Rede sein. Wir sichern ein nichtkriegerisches Nebeneinander." Immer mehr Soldaten vermissen eine klare politische Perspektive für die Sinnhaftigkeit ihres Einsatzes. Das scheint auch Bundesverteidigungsminister Peter Struck zu spüren. Bei seinem letzten Besuch im Kosovo erklärte er, die Bundeswehr werde dort noch länger ihre Verantwortung wahrnehmen, sagte aber auch: "Man kann nicht ewig wie der Großvater die Enkelkinder auf dem Fahrrad stützen." Die meisten deutschen Kfor-Soldaten sehen das genauso - und diejenigen unter ihnen, die zum wiederholten Male im Kosovo ihren schweren Dienst verrichten, hoffen inständig, ihr Verteidigungsminister möge daraus die richtigen Schlüsse ziehen.


 
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