© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/03 15. August 2003

 
Trotzdem leben wir
In der Kritik Kurt G. Blüchels an der deutschen Ärzteschaft wird kräftig über das Ziel hinausgeschossen
Jens Jessen

Welch eine Symbolik, welche Dramatik. Der Bertelsmann Verlag hatte im Mai 2003 nach München geladen, um der Presse ein Buch vorzustellen, das auf 400 Seiten den Leser zu erschlagen sucht. Es handelte sich um das Werk des Renegaten Kurt G. Blüchel "Heilen verboten - töten erlaubt" mit dem Untertitel "Die organisierte Kriminalität im Gesundheitswesen". In diesem Werk geht es nicht um Kritik oder Verbesserungsvorschläge zum Gesundheitswesen.

Statt dessen geht Blüchel ungebremst direkt zur Sache: "Denn für Geld tun deutsche Ärzte alles - damals, vor 70 Jahren, genauso wie heute". Ein Horrorszenario tut sich auf. Der anschwellende Trupp der Ärzte hinterläßt auf seinem Weg durch die Zeit nur verkrüppelte, leidende, mißbrauchte und mißhandelte Patienten. Diese Patienten sind Kollateralschäden der Weißkittel bei ihrem nie befriedigtem Hunger nach Geld und Macht. Hemmungslos, unmenschlich und brutal verfolgen sie das Ziel der Bereicherung auf Kosten der Versichertengemeinschaft. Bis zu achtzig Prozent aller Diagnosen bei den niedergelassenen Ärzten sind nach Blüchel entweder falsch oder überflüssig. Fünfzig Prozent aller Operationen dienen nicht dem Patienten, sondern befriedigen allein die Raffgier der Kliniken in Deutschland. Zwei Millionen alte Patienten bevölkern Jahr für Jahr die Krankenhäuser, weil ihr Leben durch die von Ärzten verordneten Arzneimittel bedroht ist. Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen ist nicht zu stoppen. Die Ausbildungsqualität junger Ärzte ist beschämend, die Bilanz der klinischen Forschung erbärmlich, der Gesundheitszustand der Bevölkerung miserabel.

Der Gedanke an Auswanderung kommt auf. Da aber belehren den Leser Zeitungen, daß Großbritannien, Norwegen und Schweden händeringend Ärzte suchen. Die Versorgung der Bevölkerung drohe in diesen Ländern zusammenzubrechen. In zunehmender Zahl kommen Patienten aus dem Ausland nach Deutschland, um sich in deutschen Kliniken behandeln zu lassen. Ihnen sollte Blüchels Buch bei der Einreise zur Lektüre empfohlen werden. Wenn nur die Hälfte der von Blüchel voller Zorn angehäuften Vorwürfe gegen den deutschen Medizinbetrieb stimmen sollte, müßten unsere Volksvertreter wegen mangelnder Fürsorgepflicht den Patienten gegenüber geschaßt werden.

Mißtrauisch wird der Leser jedoch, wenn er sich ein wenig in Statistiken auskennt. Blüchel als Seher und Anwalt der Erniedrigten und Beleidigten kommt ganz ohne dieses Hilfsmittel aus. Er behauptet einfach etwas, ohne es zu belegen. Das Gesundheitswesen in Deutschland verschlinge 500 Milliarden Euro. Das Bundesamt für Statistik spricht dagegen von 142 Milliarden Euro für die gesetzliche Krankenversicherung im Jahr 2001. So wird eine Kostenexplosion in den Ring geworfen, da sie doch immer wieder als politisches Argument für Kostensenkungsmaßnahmen herhalten muß. Nur: es gab und gibt keine Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Meßgröße ist die Relation der Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). 1993 machten die Leistungsausgaben 6,19 Prozent des BIP aus, 1997 6,31 Prozent und 2000 wieder 6,19 Prozent. Für die Gesundheitsökonomen sind die zum BIP relativ sinkenden Einnahmen der GKV die Quelle des Übels. Und dafür sind die Politiker verantwortlich zu machen. Sie haben nicht erkannt, daß steigende Arbeitslosenzahlen ohne Leistungsabsenkung eine Verringerung der Einnahmen mit sich bringen. Sie haben nicht erkannt, daß die Lohnquote am Bruttoinlandsprodukt seit Jahrzehnten fällt: von 76 Prozent im Jahr 1973 auf 65,5 Prozent im Jahr 2001. Nur wenn sich BIP und Lohnquote parallel entwickelt hätten, gäbe es keine Finanzierungsprobleme. Das weiß der investigative Angstmacher jedoch nicht.

Blüchel erweckt den Eindruck, die Säuglingssterblichkeit sei viel zu hoch und die Menschen würden heute nicht älter als ihre Eltern und Großeltern. Statistische Beweise legt er auch hier nicht vor. 2001 war die Säuglingssterblichkeit in Deutschland auf 4,3 pro tausend Geburten gefallen. 1960 betrug sie 35,0, 1980 12,4 und 1990 7,0. Und was die Lebenserwartung betrifft: Ein Blick in die Städte, Straßen, Geschäfte und Verkehrsmittel widerlegt den Propheten des Untergangs des Gesundheitswesens. Die Lebenserwartung in Deutschland war am Ende des 19. Jahrhunderts mit durchschnittlich 36 Jahren knapp bemessen. 1933 freuten sich die Statistiker schon über eine Lebenserwartung von 61 Jahren. 1950 waren es 65,5, 1978 69,8 und 2000 77,5 Lebensjahre. Alle bekannten Untersuchungen gehen davon aus, daß sich dieser Trend, trotz aller Bemühungen der verruchten Ärzte, das Leben der eigenen Patienten zu verkürzen, ungeniert fortsetzen wird.

Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind nach Blüchel von den Nationalsozialisten durchgesetzt worden, einer Partei, die damals 6,4 Prozent Wähler hatte und dementsprechend im Reichstag dürftig vertreten war. Der Reichspräsident hatte per Verordnung vom 8. Dezember 1931 die Kassenärztliche Vereinigung (KV) als genossenschaftlichen Zusammenschluß der Kassenärzte zur Wahrung ihrer Rechte gegenüber den Krankenkassen begründet. Und das aus gutem Grund. Ärztestreiks, die bis dahin - wie heute in Frankreich - wegen der miserablen Entlohnung auf der Tagesordnung standen, waren beseitigt. Die Gesundheitsleistungen sind in Deutschland monopolisiert. Wenn aber Waren- oder Dienstleistungen nur von einer bestimmten Gruppe bezogen werden können, handelt es sich bei dieser Gruppe um ein Syndikat. In diesem Fall kann man zustimmen. Ein Syndikat sind demnach auch die Atommächte, die Pilotenvereinigungen und die Gewerkschaften. Gesundheitsleistungen werden von speziell dafür ausgebildeten Menschen erbracht. Sie sollen nach Möglichkeit nicht von Kurpfuschern bezogen werden. Syndikate sind in bestimmten Bereichen nötig, um Schaden abzuwenden. Deshalb sind alle Ärzte Pflichtmitglieder in den Ärztekammern und alle Vertragsärzte Pflichtmitglieder der Kassenärztliche Vereinigungen. Die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) will das für die niedergelassenen Fachärzte ändern. Auf die Folgen sollte auch Blüchel ein Auge werfen.

Davon einmal abgesehen: der Ton macht die Musik. Der Ton von Blüchel ist so schrill und falsch, daß einem die Lust vergeht, das Richtige seiner Anmerkungen unter dem Müll von Beschimpfungen und Verunglimpfungen zu suchen.

Kurt G. Blüchel: Heilen verboten - töten erlaubt. Die organisierte Kriminalität m Gesundheitswesen. Bertelsmann Verlag, München 2003, gebunden, 416 Seiten, 22,90 Euro


 
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