© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/03 22. August 2003

 
Dilemma der Gewerkschaften
von Frank Liebermann

Vor wenigen Wochen noch ließen die Gewerkschaften in den neuen Bundesländern ihre Muskeln spielen. Mit ihrer Forderung nach der 35-Stunden-Woche wollte die IG Metall massive Arbeitszeitverkürzungen durchsetzen. Nachdem der Streik auch im Westen Wirkung zeigte, stand die Gewerkschaft sehr schnell im Abseits. Regionale Vertreter aus Süddeutschland scherten aus und legten die Grundlage für den Abbruch. Die Gerechtigkeitsdiskussion verfing nicht mehr. Als auch die öffentliche Meinung kippte, vollzogen die Gewerkschaften rasch eine Kehrtwende. Die Niederlage der IG Metall war total. Dieser Vorgang ist einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. Nicht nur deshalb, weil die Gewerkschaften nicht einmal einen Teilerfolg erzielen konnten, sondern auch wegen der Tatsache, daß die öffentliche Meinung, Medien und weite Teile der SPD gegen die Arbeitsniederlegung waren. Nach dem Desaster ist die Führungsspitze heillos zerstritten. Reformer kämpfen gegen Altlinke. Für ihre Auseinandersetzung konnten sich die Gewerkschaften keinen ungünstigeren Zeitpunkt aussuchen. Es stellt sich jetzt die Frage, wie es mit den Nachfolgern von Hans Böckler und Ferdinand Lasalle weitergeht.

Ziel war immer eine Erhöhung der Löhne gewesen, die Ausweitung von Sozialleistungen oder eine Reduzierung der Arbeitszeiten. Lange Zeit genossen diese Anliegen eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung. Dabei war eines klar: Damit diese Ziele durchsetzbar waren, mußten regelmäßige Produktivitätssteigerungen erfolgen. Nur wenn die Unternehmen immer mehr erwirtschafteten, war es möglich, Wohltaten an die Arbeitnehmer zu verteilen. Gibt es keine Erhöhung der Produktivität, dann auch keine Steigerungen der Löhne. Und Produktivitätssteigerungen gibt es immer dann, wenn mehr Wissen und Kapital zum Einsatz kommen. Steigen die Lohnkosten, so muß ein Unternehmen mehr Wissen und Kapital einsetzen, um den teureren Faktor Arbeit zu kompensieren; denn will es konkurrenzfähig bleiben, kann es die Preise nicht einfach erhöhen. Die Attraktivität des immer teurer werdenden Produktionsfaktors Arbeit schwindet, während die von Kapital und Wissen steigt.

Das führt zum ersten Dilemma der Gewerkschaften. Je mehr sie auf die Steigerung der Produktivität drängen, desto unbedeutender wird der Faktor Arbeit. Sprich: immer weniger Menschen produzieren immer mehr Güter. Der Produktionsfaktor Kapital gewinnt an Bedeutung. Kapital ist aber von den Gewerkschaften nicht beherrschbar. Schon gar nicht in einer globalisierten Welt. Das zweite Dilemma ist die zunehmende Bedeutung des Produktionsfaktors Wissen in einer Informationsgesellschaft. Hochqualifizierte Mitarbeiter bleiben in den Gewerkschaften unterrepräsentiert. Gewerkschaftsmitglieder sind überdurchschnittlich in den unteren Lohngruppen vertreten.

Doch gerade diese Tätigkeiten fallen immer häufiger Rationalisierungsmaßnahmen zum Opfer. Arbeitsintensive Betriebe mit weniger qualifizierten Arbeitnehmern verschwinden. Die ständig wachsende Zahl von gering qualifizierten Arbeitslosen belegt dies nur allzu deutlich. In Deutschland denkt kaum mehr jemand darüber nach, daß es in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren noch zahlreiche Branchen gab, in denen genau diese gering qualifizierten Menschen Arbeit fanden. Die Produktion der Textilindustrie, der Uhrenindustrie oder der Unterhaltungselektronik ist zu einem großen Teil ins Ausland abgewandert, weil sie wegen der Lohnkosten nicht mehr konkurrenzfähig war.

Dieser Trend wirkt sich auf alle arbeitsintensiven Wirtschaftsbereiche aus und wird in den nächsten Jahren noch zunehmen. Die EU-Integration und die Globalisierung erleichtern diesen Prozeß zusätzlich. Wir befinden uns mitten in einem Konkurrenzkampf der Standorte. In Deutschland können nur die Unternehmen bleiben, die optimal rationalisiert sind und deren Mitarbeiter über ein so hohes Know-how verfügen, daß eine Verlagerung nicht ohne weiteres möglich ist. Von solchen Arbeitsplätzen hat Deutschland aber immer weniger.

Die Folgen für die Gewerkschaften sind verheerend. Fordern sie Lohnsteigerungen, müssen sie sich auch für Produktivitätssteigerungen einsetzen. Steigt die Produktivität, wächst die Bedeutung des Produktionsfaktors Kapital, auf den die Gewerkschaft keinen Einfluß hat. Und wenn neue Arbeitsplätze entstehen, haben diese hochqualifizierten Mitarbeiter meist kein Interesse an den Gewerkschaften. Sie sind häufig außertariflich bezahlt und haben gute Chancen, ihre Interessen selbst durchzusetzen. Egal an welchem Rädchen die Gewerkschaften drehen, sie verlieren immer.

Fälschlich wird immer wieder das Argument angeführt, daß nur durch die Gewerkschaften Arbeitnehmer an Wohlstandsgewinnen teilhaben können. Das stimmt nicht. Der Einfluß gewerkschaftlichen Handelns auf die Lohnstruktur wird oft falsch eingeschätzt. Gewerkschaften haben meist starken Einfluß in den großen und gut funktionierenden Industrieunternehmen. Andererseits gibt es Bereiche, in denen ihr Einfluß sehr gering ist. In der Telekommunikations- und Informationsindustrie ist ihre Bedeutung vernachlässigbar. Dort stiegen die Löhne in den vergangenen Jahren noch stärker an als in den anderen Bereichen, obwohl die Gewerkschaften dort unterrepräsentiert sind.

Gewerkschaften neigen dazu, Tarifauseinandersetzungen bei Unternehmen zu führen, denen es gutgeht. Deshalb gelang es ihnen in den vergangenen Jahren sehr oft, Lohnsteigerungen zu erzielen, die über dem Produktivitätszuwachs lagen. Da die Gewerkschaften ihre stärkste Position dort haben, wo die Arbeitsplätze relativ sicher sind, führt dies dazu, daß die Arbeitnehmer mit sicheren Arbeitsplätzen und in soliden Wirtschaftszweigen überdurchschnittliche Einkommen erzielen konnten. Die freigesetzten Arbeitnehmer sind die Verlierer, da sie nur schwer eine neue Tätigkeit mit ähnlicher Bezahlung finden. Unternehmen, denen es schlechter geht, verlieren auch. Sie müssen die Tarifkompromisse mittragen, ob sie können oder nicht. In der Bundesrepublik ist es Gemeingut, daß die Unternehmer eine soziale Verantwortung haben. Von den Gewerkschaften verlangt das niemand. Die Gewerkschaftsführer vertreten rücksichtslos die Interessen ihrer Klientel. Arbeitslose, Kapitalgeber oder die sozialen Sicherungssysteme bleiben dabei auf der Strecke.

In kaum einem anderen Land der Welt sind die Gewerkschaften so einflußreich wie in Deutschland. Seit Gründung der Bundesrepublik wurde ihre Macht kontinuierlich ausgedehnt. Fast nirgendwo sonst auf der Welt genießen Arbeitnehmer mehr Rechte als in Deutschland. Einmalig ist der Einfluß auf die Unternehmensführung. Grundlage dafür ist das Betriebsverfassungsgesetz von 1952. Schritt für Schritt wurde die Mitbestimmung weiter ausgebaut, die letzte Novelle des Gesetzes stammte von Werner Riester, der selbst jahrelang Gewerkschaftsfunktionär war.

Einer der wichtigsten Machtpfeiler der Gewerkschaften ist der Paragraph 77 des Betriebsverfassungsgesetzes. Dort steht geregelt, was Gegenstand der Tarifautonomie ist: vor allem die Löhne und Arbeitszeiten. Somit ist es nicht möglich, diese Punkte per Betriebsvereinbarung zu regeln. Ein Unternehmen darf nur dann vom Tarifvertrag abweichen, wenn der Arbeitnehmer günstiger gestellt wird. Unternehmen in Krisensituationen haben somit keine Möglichkeit, unter den Vereinbarungen eigene Regelungen zu treffen.

Dieses "Günstigkeitsprinzip" soll dem Schutz der Arbeitnehmer dienen. Dem Schutz der Arbeitsplätze dient es nicht. Unternehmen können sich dem nur entziehen, wenn sie aus den Arbeitgeberverbänden austreten. "Ausstiegsklauseln" oder "Flexiregeln" sind zwar theoretisch nach Tarifrecht möglich, bedürfen aber des Segens der örtlichen Gewerkschaftsfunktionäre. Immer häufiger treffen Firmen mit ihren Betriebsräten heimliche Vereinbarungen, die dann stillschweigend von den Verbandsfunktionären geduldet werden. Wenn aber Arbeitnehmer und Arbeitgeber nichts mehr von den Regelungen halten, wäre es an der Zeit für eine grundlegende Reform. Vor allem auf Arbeitgeberseite findet ein Umdenken statt. Immer weniger Unternehmen sind bereit, sich in Arbeitgeberverbänden zu organisieren. Der Organisationsgrad der Tarifparteien ist dermaßen geschrumpft, daß die verfassungsmäßigen Repräsentationsaufgaben von der breiten Öffentlichkeit nicht mehr akzeptiert werden. Sachsens Arbeitgeber haben schon des öfteren mit der Selbstauflösung des Verbandes gedroht. Die Gewerkschaften müssen dann mit jedem einzelnen Unternehmen separat verhandeln. Das muß aber noch nicht das Ende sein. Wenn die Tarifautonomie in einem Gebiet kippt, kann das genausogut in anderen Bezirken geschehen.

Eine Studie des Meinungsforschungsinstituts Allensbach spricht eine deutliche Sprache. Wünschten sich 1999 noch 21 Prozent der Bevölkerung weniger Einfluß der Gewerkschaften auf die Politik, hat sich dieser Wert bis zur Gegenwart auf 42 Prozent verdoppelt. Sogar unter den Gewerkschaftsmitgliedern meint jeder Dritte, der Einfluß seiner Organisation sei zu groß. Für einen stärkeren Einfluß der Gewerkschaften plädieren nur 28 Prozent der Bevölkerung, 1999 waren es noch 49 Prozent. Dazu haben die Gewerkschaften selbst beigetragen. Bei der Blockade aller möglichen Reformen haben sie sich hervorgetan: Ladenöffnungszeiten oder Gesundheitsreform sind nur zwei aktuelle Beispiele. Und wofür stehen die Gewerkschaften? Ein Beschäftigungsprogramm für sechzig Milliarden Euro, kürzere Arbeitszeiten, Einführung der Vermögensteuer, Börsensteuer sind nur einige Forderungen, die zeigen, daß die Gewerkschaften geistig in den siebziger Jahren stehengeblieben sind. Globalisierung, EU-Osterweiterung oder die Informationsgesellschaft sind spurlos an ihnen vorbeigezogen.

Was können die Gewerkschaften tun, wenn sie die nächsten Jahrzehnte überleben wollen? Den Kampf gegen das Kapital müssen sie verlieren. Kapital ist mobil. In einem freien Europa und in einer globalisierten Weltwirtschaft läßt es sich nicht von nationalen Gesetzen bändigen.

Solange sich die Interessen der Kapitaleigner nicht mit denen der Arbeitnehmer decken, verlieren die Gewerkschaften. Es muß ein Ziel der Gewerkschaften sein, beide Interessen unter einen Hut zu bringen. Zu Zeiten der New Economy war das schon zeitweise der Fall. Unternehmen zahlten geringere Gehälter als am Markt üblich, dafür erhielten die Mitarbeiter Aktien oder andere Wertpapiere. Die Arbeitnehmer waren motiviert und arbeiteten mehr als in anderen Branchen.

Daß durch die New Economy-Krise die Aktien ihren Wert verloren haben, bedeutet noch nicht, daß dieses Modell ganz falsch ist. Wer die Aktienmärkte nicht nur rückblickend auf die letzten fünf Jahre, sondern seit Gründung der Bundesrepublik analysiert, wird die Richtigkeit dieses Modells bestätigen. Ein Arbeitnehmer wird kaum Interesse an einem Streik bei einem Unternehmen haben, bei dem er selbst von den Gewinnen profitiert. In Großbritannien oder den USA sind solche Modelle schon länger die Regel. Arbeitnehmer verfügen dort über Kapital und Arbeit. In Deutschland haben die Gewerkschaften, aber auch die Politik diesen Trend verschlafen. Ein Grund hierfür ist sicher der ideologische Ballast. Trotz hoher Einkommen in den vergangenen Jahrzehnten beteiligten sich die Arbeitnehmer nicht am Aktienkapital. Die Folge ist eine Konzentration der Vermögenswerte in wenigen Händen. Wenn bei immer intensiverem Kapitaleinsatz und geringerem Arbeitsvolumen die Einkommen gleich bleiben sollen, dann muß es in Zukunft möglich sein, daß Arbeitnehmer Einkommen aus Kapital und Arbeit beziehen. Die Aufgabe der Gewerkschaften besteht darin, die Interessen der Arbeitnehmer in diese Richtung zu lenken.

Ein anderer wichtiger Reformpunkt ist die Auflösung der starren Tarifautonomie. Es ist eine Binsenweisheit, daß es in einer Branche Unternehmen geben kann, die hochprofitabel sind, während andere mit der Insolvenz kämpfen müssen. Wenn dann einheitliche Lohnsteigerungen abgekoppelt von der ökonomischen Realität gefordert werden, führt das nicht weiter. Seit Jahren ist es so, daß Streiks immer bei den Branchenbesten stattfanden. Ausgehandelte Tarifverträge waren von den leistungsfähigen Unternehmen gut zu verkraften. Die Schwachen blieben auf der Strecke. Letztendlich führt es dazu, daß sich die Unternehmen von der Tarifautonomie abkoppeln. Die Gewerkschaften müßten vor Ort angemessene Verträge aushandeln.

Die Gewerkschaften betreiben eine knallharte Klientelpolitik. Gewinner ist die sinkende Zahl der Personen, die über eine Vollzeitbeschäftigung verfügen. Immer mehr Menschen sind von der allgemeinen Wohlstandsentwicklung abgekoppelt. Eine Zahl verdeutlicht das: der Anteil nicht dauerhaft Vollbeschäftigter stieg von zwanzig Prozent im Jahr 1980 auf fast vierzig Prozent in der Gegenwart. Das heißt, von den Lohnsteigerungen profitieren immer weniger Menschen. Die Einkommensverteilung wird ungleicher. Die Verlierer sind die Arbeitslosen und die Personen, die nur zeitweise beschäftigt sind. Als 1873 der erste Tarifvertrag für die Buchdrucker abgeschlossen wurde, herrschte Kinderarbeit und eine 70-Stunden-Woche. Damals waren die Gewerkschaften sehr wichtig. Angesichts der wachsenden Arbeitslosigkeit und der Tatsache, daß Deutschland das europäische Schlußlicht ist, müssen neue Konzepte her.

 

Frank Liebermann schrieb zuletzt in JF 20/03 über den Autor und Regisseur Michael Moore.


 
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