© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/03 29. August 2003

 
Bildungspolitischer Offenbarungseid
Integration II: Türkischer Bund und Berliner Behörden sind besorgt über die mangelnde Integration der türkischstämmigen Kinder
Ronald Gläser

Vor Deutschlands letztem Länderspiel gegen die Niederlande frohlockte Rudi Völler: Es sei wieder Zeit, "die Schule zu schwänzen, um der deutschen Nationalelf beim Training zuzusehen". Bildungspolitikern und Lehrern stehen indes die Haare zu Berge.

Wie mittlerweile jedes Jahr droht vor dem Beginn des neuen Ausbildungsjahres ein absoluter Notstand wegen des Mangels an Lehrstellen. In strukturschwachen Regionen konnten Ende Juli teilweise gerade zehn Prozent der Jugendlichen einen Ausbildungsplatz oder eine Lehrstelle vorweisen. Es fehlen 150.000 Ausbildungsplätze.

Anderthalb Millionen Betriebe in Deutschland bilden nicht aus. Fast die Hälfte von ihnen wäre dazu berechtigt. Die anderen Betriebe scheiden aufgrund längst überholter gesetzlicher Hürden von vornherein als Ausbildungsorte aus. Daß die Ausbildungsordnung der IHK reformbedürftig sei, bezweifelt kaum noch jemand.

Neben der zeitlichen und finanziellen Zusatzbelastung beklagen die Unternehmen auch die mangelnde Ausbildungsfähigkeit der Bewerber. Vielen Haupt- und auch Realschülern fehlen elementare Grundkenntnisse. Und diese Mängel beginnen meist bei der sprachlichen Ausdrucksweise.

Womit einer der Kernbereiche des Ausbildungs-GAUs definiert wäre: mangelnde Deutschkenntnisse. In Berlin zum Beispiel sei ein Viertel der türkischstämmigen Jugendlichen ohne Schulabschluß, lamentiert der Türkische Bund Berlin Brandenburg (TBB).

Nach Angaben des TBB sind 42 Prozent der Ausländer in Berlin ohne Arbeit. Da drei Vierteln jegliche Qualifikation fehle, hätten sie auch keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt. 27 Prozent der jungen Türken verlassen bereits die Schule ohne einen Abschluß. Dies hat dazu geführt, daß sich der Anteil der ausländischen Auszubildenden in den letzten zehn Jahren halbiert hat.

Türkische Eltern sollen ihre Kinder besser motivieren

Die türkische Lobbyorganisation ist bemüht, dieses Problem zu lösen. Der TBB appelliert an türkische Eltern, ihren Kindern den Wert einer guten Ausbildung nahezulegen. Der TBB-Sprecher Safter Cinar hat ferner die Senatsverwaltung bemüht. Mit ihrer Hilfe sollen türkische Unternehmen dazu bewegt werden, mehr auszubilden. Von den zahlreichen türkischen Unternehmen in Berlin stellen nämlich gerade einmal einhundert auch Ausbildungsplätze zur Verfügung.

Die Schwäche gerade der Kinder von Zuwanderern zeigt sich in der Statistik über Schulabgänger in Berlin. In den letzten zwanzig Jahren ist die Zahl der türkischen Schulabgänger von bedrohlichen fünfzig Prozent auf unter dreißig Prozent gesunken. Im letzten Jahr ereignete sich jedoch ein erheblicher Anstieg von 22 auf 27 Prozent. Bei lernschwachen deutschen Schülern pendelt diese Zahl um zehn Prozent.

Rund ein Drittel der jungen Türken startet mit einem Hauptschulabschluß ins Berufsleben. Bei ihren deutschen Mitbewerbern auf dem Arbeitsmarkt ist dies nicht einmal ein Fünftel. Dafür haben die Türken bei Realschulabschlüssen in den achtziger Jahren stark aufgeholt. Von zwölf Prozent stieg der Anteil der Inhaber der Mittleren Reife unter den Türken auf dreißig Prozent. Damit liegt er immer noch zehn Prozent unter dem entsprechenden Anteil unter deutschen Schülern.

Nirgendwo klafft ein so großer Unterschied zwischen deutschen und türkischen Schulabgängern in Berlin wie bei der Allgemeinen Hochschulzugangsreife: Die 10.722 deutschen Abiturienten repräsentieren 33 Prozent aller deutschen Schulabsolventen. Dagegen verließen 2002 nur 199 Türken die Schule mit einer Hochschulzugangsberechtigung, was acht Prozent aller Schulabgänger türkischer Herkunft entspricht.

Diese Zahlen korrelieren mit einer Studie, die sich mit den Schulschwänzern auseinandersetzte. 2002 mußte die Senatsschulverwaltung konsterniert einräumen, daß sage und schreibe 46.000 Pennäler in der Hauptstadt dem Unterricht dauerhaft fernbleiben. Am stärksten betroffen sind die Bezirke Wedding, Kreuzberg und Neukölln, das multikulturelle Trio Infernale Berlins. Doch auch vor strukturstärkeren Stadtbezirken macht die Disziplinlosigkeit nicht halt.

Der Staat kündigt an, neue Lehrer einzustellen

Es gibt Hauptschulen in Berlin, in denen die Lehrer mit fast zwanzig Prozent Dauerschwänzern konfrontiert sind. Und fünfzehn Prozent der 300.000 Berliner Schüler können zehn oder mehr unentschuldigte Fehltage vorweisen. Lehrer berichten von Fällen, in denen Eltern - vollkommen gleichgültig - ihre Kinder erst ein halbes Jahr nach Ende der Grundschule auf der Oberschule anmelden.

Der Senat reagierte auf diese Entwicklung mit der Ankündigung, eintausend neue Lehrer einzustellen. Zudem setzt Bildungssenator Klaus Böger (SPD) auf die Einführung von Ganztagsschulen.

Eine weitere Studie der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege hat jedoch andere Ursachen für das Berliner Schuldilemma verantwortlich gemacht. Schulversäumnisanzeigen würden nicht weitergereicht oder bearbeitet. Eine derartige Anzeige richtet der Lehrer über die Schulleitung an das Landesschulamt, welches wiederum die Polizei alarmiert. Doch dies geschehe in Berlin einfach nicht.

Vielen Eltern aus niedrigen Einkommensschichten und insbesondere Ausländern sei es schlichtweg egal, ob ihr Kind seiner Schulpflicht nachginge oder nicht. Und das, obwohl sich das Land Berlin mehrere hundert Integrationslehrer leistet, die insbesondere ausländischen Jugendlichen Hilfestellung leisten sollen.

Die Kosten versucht das Land an anderer Stelle wieder hereinzuholen. In diesem Lehrjahr ist die Lehrmittelfreiheit abgeschafft worden. Das heißt, daß Eltern bis zu einhundert Euro für Schulbücher aufbringen müssen. Da der rot-rote Senat "soziale Härtefälle" nicht unnötig belasten möchte, sind diese natürlich von der Zuzahlung befreit.

An der Thomas-Morus-Hauptschule in Neukölln hat die Schulleitung jedoch erhebliche Probleme, zu klären, wer von der Zuzahlung befreit sei und wer nicht.

Die Kommunikation mit den Eltern der zu achtzig Prozent ausländischen Schülern gestalte sich höchst schwierig, berichtete die Berliner Morgenpost.


 
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