© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/03 12. September 2003

 
Das gelöschte Gedächtnis
Warum das Zentrum gegen Vertreibung in Berlin verhindert werden soll
Doris Neujahr

Wenn die Deutschen sich um ihre Geschichte kümmern, dann ist das für sie selber, aber auch für die Nachbarn von neurotischer Brisanz. Der Streit um ein Zentrum für Vertreibungen in Berlin hat längst eine internationale Dimension erreicht. Gerade ist ein zweiter Gegen-Aufruf bekannt geworden, der von zahlreichen Intellektuellen aus Europa und Übersee unterzeichnet wurde. Es irritiert sie, daß die Deutschen aus ihrer Position als ewiger Sündenbock herauszutreten versuchen. In der allgemeinen Erregung geraten Sinn und Zweck des Zentrums aus dem Blick.

Drei seiner Funktions- und Bedeutungsebenen seien hervorgehoben. Die erste ist die dokumentarisch-museale. Wer heute ein historisches Thema bearbeitet, das mit dem deutschen Osten zusammenhängt, muß sich auf eine Herkules-Aufgabe gefaßt machen. Wo sonst der Besuch eines Stadt- oder Landesarchivs genügt, ist - neben dem Bundes- und Preußischen Staatsarchiv - der Kontakt mit einer Vielzahl von Landes-, Hauptstaats-, Gerichts- und Heimatkreisarchiven nötig, wo die entsprechenden Akten und Dokumente - oft durch Zufall - gelandet sind. Ebenfalls verstreut, falls nicht gänzlich vernichtet, sind die ostdeutschen Zeitungsarchive. Das noch verfügbare Material müßte gesammelt, systematisiert und katalogisiert werden, um endlich eine materielle Grundlage zu schaffen für die geistige Wiederaneignung ostdeutscher Geschichte. Wo sollte das stattfinden, wenn nicht in Deutschland, in Berlin? Gleiches gilt für ein zentrales Vertriebenenmuseum.

Dieser Dokumentations-, Archiv- und Museumskomplex wäre selbstverständlich auf Deutschland zentriert - schließlich geht es um die deutsche Geschichte. Hinweise aus dem Ausland sind dennoch ernst zu nehmen. Der Journalist Adam Krzeminski fürchtet, daß ein Berliner Zentrum die Gebetsmühlen polnischer Nationalisten in Gang setzen könnte. Krzeminski, ein gebürtiger Breslauer, hat seine Landsleute, die die alten Ostprovinzen bewohnen, aufgefordert, sich mit der deutschen Geschichte ihrer Gegenden zu beschäftigen, nur so könnten sie ihnen wirklich zur Heimat werden. Diese Forderung impliziert die Zurückweisung der Propagandathese von den "wiedergewonnenen Gebieten". Krzeminski antizipiert den entspannten Zustand, der hoffentlich eines Tages den deutsch-polnischen Alltag bestimmen wird.

In diesem Sinne steht auch das Vertriebenenzentrum in der Pflicht. Man wird die vier polnischen Teilungen zwischen 1772 und 1939 genauso streifen müssen wie die Kompensationsbedürfnisse der erst 1918 wieder unabhängig gewordenen polnischen Nation, die sich in der Zwischenkriegszeit in der Drangsalierung der Deutschen im "Korridor" niederschlugen. Die polnischen Neusiedler zogen nach 1945 ganz überwiegend nicht als triumphierende Sieger in Ostdeutschland ein, sondern widerstrebend und mit schlechtem Gewissen. Und wenn man die Ausschreitungen der Roten Armee thematisiert, wird man auch der Kopolews und Solschenizyns gedenken müssen, die versuchten, die ostdeutsche Bevölkerung zu schützen, und deshalb in den Gulag kamen. Nur sind das keine Argumente gegen das Zentrum, sondern selbstverständliche Elemente dieses Projekts!

Die zweite Ebene ist die wissenschaftliche. Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Vertreibungen, und das 21. Jahrhundert entwickelt den Ehrgeiz, das Vorgänger-Säkulum noch zu übertreffen. An der Notwendigkeit einer Einrichtung, die diese Problematik wissenschaftlich aufarbeitet, besteht kein Zweifel. Ihr Sinn kann sich indes nicht in der Legitimierung eines deutschen Vertriebenenmuseums und -archivs erschöpfen, sie muß interdisziplinär, international und multiperspektivisch arbeiten. Insofern ist es nachzuvollziehen, wenn ein Historiker wie der Pole Wlodzimierz Borodzeij, der sich seit Jahren bahnbrechend mit der Vertreibung der Deutschen beschäftigt, kein Interesse daran hat, an einem auf Deutschland zentrierten Projekt mitzuwirken. Die Vertriebenen-Präsidentin Erika Steinbach betont deswegen den "europäischen" Ansatz und hat letztes Wochenende auf dem "Tag der Heimat" verkündet, das Zentrum solle sogar Afrika und Asien in den Blick nehmen. Ein löbliches Unterfangen, doch mit Ostpreußen, Schlesien oder Siebenbürgen hat das nichts mehr zu tun. Also sollte man die beiden Komplexe: das Museums- und Dokumentationszentrum einerseits, das Wissenschaftszentrum andererseits, voneinander trennen.

Auch im Fall der Forschungsstätte spricht viel für Berlin als Standort. Es würde damit demonstriert, daß das Schicksal der deutschen Vertriebenen zu einem verpflichtenden, international gültigen Vermächtnis geworden ist. Dennoch wäre hier auch ein Standort außerhalb Deutschlands denkbar. Darüber ließe sich in aller Ruhe diskutieren. Warum findet diese Diskussion nicht statt?

Der Grund liegt auf der dritten, der erinnerungspolitischen Ebene. In diesem Zusammenhang muß auf Lea Rosh verwiesen werden, die seit Ende der achtziger Jahre die deutsche Geschichtspolitik in ein Sado-Maso-Studio verwandelte, wo sie als Gedenkdomina mit der Peitsche knallte, bis Kanzler, Abgeordnete, Historiker und Zeitungsschreiber Gehorsam gelobten und der hybriden Idee eines alles beherrschenden Holocaust-Denkmals zustimmten. Roshs Furor teutonicus hatte deshalb Erfolg, weil er Bestrebungen jüdischer Organisationen in den USA entgegenkam, die den Holocaust zunehmend als identitätstiftendes Moment begriffen. Wenn heute von "Transnationalisierung", "Europäisierung" oder "Internationalisierung" der Erinnerung gesprochen wird, dann geht es - wie Daniel Levy und Nathan Sznaider in ihrem Buch "Erinnerung in der globalen Welt. Der Holocaust" dargelegt haben - in Wahrheit um die internationale Etablierung einer Opferhierarchie, an deren Spitze die Toten des Holocaust stehen.

Seit geraumer Zeit wird der Holocaust als das "Nicht-Hinterfragbare", "Singuläre", "Unerklärliche", "absolut Böse" behandelt, das sich geschichtlicher Forschung im strengen Sinne verschließe, weil es in die Dimension des Religiösen hineinreiche. Es liegt in der Logik und Dynamik dieser "Mythomotorik" (Jan Assmann), daß die Deutschen in ihr als das "Tätervolk" fungieren und in dieser Eigenschaft ebenfalls absolut gesetzt werden. Der Ausspruch "Deutsche Täter sind keine Opfer!" ist also eine Konsequenz dieser "Zivilreligion", die - das räumen Sznaider und Levy ein - nur innerhalb eines zielstrebig hergestellten, "diskursiven und erinnerungspolitischen Rahmens" etabliert werden kann. Diesen Rahmen würde ein Berliner Vertriebenenzentrum sprengen. Das ist der letzte und tiefste Grund, warum es bekämpft wird.


 
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