© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/03 12. September 2003

 
Frisch gepresst

Karl Kraus. Keine Figur der Literaturgeschichte kommt dem Klischee näher, welches den epochenmüden Wiener Intellektuellen darstellt, der - bestenfalls jüdischer Abstammung - im ausklingenden k.-u.-k.-Reich nachmittagelang in düsteren Kaffeehäusern dahersitzt und sich gegen seine Gesellschaft, die ihn ob ihrer "Verlogenheit" und "Spießigkeit" schier zum Verzweifeln bringt, mit wohlgesetzten Worten zur Wehr setzt. Diese Gesellschaft macht es der 1874 in Böhmen geborenen und im großbürgerlichen Wiener Milieu aufgewachsenen "Figur" Karl Kraus mit ihrem Tun in der Tat leicht, nicht nur durch seine von 1899 bis 1936 geführte Zeitschrift "Die Fackel" an ihr Rache zu nehmen. Der Berliner Literaturwissenschaftler Friedrich Rothe erzählt - latent verehrend- die Lebens- und Werksgeschichte dieses laut Brecht "ersten Schriftstellers". Dessen Distanz zu den gesellschaftlich nichts mit ihm gemein habenden "Ostjuden", die ihm posthum nach Krieg und Shoah besserwisserisch als Antisemitismus und "peinliche Entgleisung" ausgelegt wurde, rückt Rothe großzügig wieder gerade (Karl Kraus. Die Biographie. Piper Verlag, München 2003, 423 Seiten, gebunden, 24,90 Euro).

Ostpreußen im Krieg. Der dem 20. Jahrhundert gewidmete IV. Teil des "Handbuchs der Geschichte Ost- und Westpreußens" (1997) erübrigt für die Geschichte Ostpreußens im Zweiten Weltkrieg karge 16 Zeilen. Die einzige, 1991 publizierte, umfassende Darstellung zum Thema sucht man dort daher in einer lieber randständige polnische Aufsätze auflistenden Bibliographie vergeblich. Da sich an solch fachwissenschaftlicher Ignoranz gegenüber der Zeitgeschichte Ostpreußens bis heute nichts geändert hat (siehe JF 42/02), ist zu begrüßen, daß Christian Tilitzkis "Alltag in Ostpreußen 1940 -1945. Die geheimen Lageberichte der Königsberger Justiz" von 1991 nun eine Neuauflage erlebt (Flechsig Verlag, Würzburg 2003, 323 Seiten, Abbildungen, 14,95 Euro). Die ausführliche Einleitung informiert über die politisch-ökonomische Entwicklung der Provinz in der Weimarer Zeit, über den Aufstieg von Erich Kochs NSDAP und deren Herrschaftspraxis bis 1939. Die Kriegszeit spiegelt sich dann in den 52 Justizlageberichten, die ein vielschichtiges Bild vom Alltag zwischen Weichsel und Memel zeichnen und belegen, daß der Krieg dort nicht erst mit Flucht und Vertreibung Realität wurde. 56 bislang unveröffentlichte Aufnahmen, zum Teil aus Restbeständen des NS-Gauarchivs, erhöhen den Dokumentarwert des Bandes.


 
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