© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/03 26. September 2003

 
Das Ende vom Poldermodell
Niederlande: Drastische Kürzungen im Sozialbereich / Mehr Raum für Eigeninitiative / Proteste der Opposition und der Gewerkschaften
Jerker Spits

Die niederländische Mitte-Rechts-Regierung aus Christdemokraten (CDA), rechtsliberaler Volkspartei (VVD) und Linksliberalen (D'66) hat sich zu harten Einschnitten bei den Sozialleistungen durchgerungen. Das Kabinett von Ministerpräsident Jan Peter Balkenende (CDA) einigte sich darauf, bis zum Ende der Legislaturperiode insgesamt 17 Milliarden Euro einzusparen, um den Staatshaushalt und die Neuverschuldung zu begrenzen. Dies teilte die Regierung dem Parlament bei der Präsentation des neuen Haushaltsplans mit.

Der Gesundheitssektor wird von den Einsparungen am härtesten getroffen. Ihre Besuche beim Zahnarzt müssen die Niederländer künftig selber zahlen; die Antibabypille gibt es für Frauen ab 21 nicht mehr kostenlos. Die Beamtengehälter sowie alle Sozialleistungen werden zwei Jahre lang eingefroren. Sozialhilfeempfänger werden per Gesetz dazu verpflichtet, sich auf freie Arbeitstellen zu bewerben. Tun sie dies nicht, wird ihre Sozialhilfe gekürzt. Zudem werden die Steuern auf Tabak und Alkohol erhöht. Zur Begrenzung der Sozialausgaben sollen im Hinblick auf die zunehmende Vergreisung des Landes das vorzeitige Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß durch Frühpensionierung erschwert und die Regeln bei den Arbeitsunfähigkeitsrenten verschärft werden. Daneben werden - wie in Deutschland - künftig höhere Eigenleistungen zur Krankenversicherung gefordert.

Treibende Kraft hinter den starken Einsparungen ist der VVD-Chef und Finanzminister Gerrit Zalm. Seine Zielvorgabe ist es, den Wachstums- und Stabilitätspakt einzuhalten, den die Länder der Euro-Zone geschlossen haben. Die staatliche Verschuldungsquote soll im Jahr 2007 nicht höher liegen als 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) - der Maastricht-Vertrag sieht eine Obergrenze von 3,0 Prozent vor.

Anstieg der Arbeitslosigkeit auf sieben Prozent erwartet

Die aktuelle Wirtschaftskrise in den Niederlanden spiegelt sich in einem rasanten Anstieg der Arbeitslosenzahl wider. Monat für Monat verlieren etwa 13.000 Niederländer ihre Stelle. Derzeit sind 408.000 Menschen (5,5 Prozent) arbeitslos - doppelt so viele wie 2002. Für 2004 rechnet die Regierung mit einem Anstieg auf sieben Prozent.

Die Regierung will jedoch zugleich in das niederländische Unterrichtssystem investieren, um den Lehrermangel aufzufangen und die Qualität der Schulen zu verbessern. Balkenende betonte, die Regierung sehe es auch als ihre Aufgabe, den Bürgern Perspektiven zu bieten. Harte Entscheidungen und eine "Veränderung der ganzen Kultur" seien unerläßlich, um langfristig eine Besserung zu erreichen. Die Regierung strebe mit ihrer Politik auch eine Mentalitätsänderung an. Der Bürger solle künftig mehr Eigenverantwortung tragen und weniger vom Staat verlangen. Der Staat werde den Bürgern mehr Raum für Eigeninitiative bieten.

Der wirtschaftliche Rückgang sei in den Niederlanden deutlich spürbar, so auch Königin Beatrix in ihrer Thronrede vor dem Parlament in Den Haag. Nach Jahren wirtschaftlichen Aufschwungs führe dies zu einer wachsenden Unsicherheit unter den Bürgern. Es sei jedoch notwendig, harte Maßnahmen zu treffen, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen und so den Standort der Niederlande zu verbessern. "Wir müssen die wirtschaftlichen Strukturen verstärken und unsere soziale Sicherheit gründlich reformieren", sagte die Monarchin in der von der Regierung verfaßten Rede zur Eröffnung des parlamentarischen Jahres.

Auch die Probleme in der Integrations- und Immigrationspolitik sprach das niederländische Staatsoberhaupt an. "Es gibt viele Sorgen um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Die Werte der verschiedenen Bevölkerungsgruppen liegen manchmal weit auseinander; die Integration verläuft nicht nach Wunsch." Ein zu großer Teil der Ausländer nehme nicht genügend an der niederländischen Gesellschaft teil.

Einwanderung soll künftig weiter begrenzt werden

Die neue Ministerin für Ausländerpolitik und Integration, Rita Verdonk (VVD), kündigte einen harten Kurs an. Wer in den Niederlanden wohnen will, solle sich als "verantwortlicher Bürger" zeigen. Dies bedeute, daß man Niederländisch spreche, sich an die niederländischen Normen und an die niederländische Verfassung halte, so die Ministerin in ihrer Antrittserklärung. Neben Maßnahmen, um die Integration zu verbessern, werde die Einwanderung künftig weiter begrenzt. Für Neueinwanderer soll die Beherrschung der niederländischen Sprache zur Aufnahmebedingung gemacht werden.

Die Frage ist, ob das niederländische "Poldermodell", welches lange Zeit auf der Formel "Arbeitsplätze für Lohnmäßigung" beruhte, auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten standhält. Die niederländischen Gewerkschaften haben bereits Proteste angekündigt und schon letztes Wochenende 20.000 Menschen in Amsterdam auf die Straße gebracht.

Auch die linke Opposition im Parlament kritisierte die Regierungspläne heftig. Der Chef der ex-kommunistischen Sozialisten, Jan Marijnissen, geißelte den "Ausverkauf des Sozialstaats". Der Sozialdemokrat Wouter Bos sprach bei der Diskussion des Regierungsprogramms im Parlament von einer "inhumanen Politik". Die Dreier-Koalition verfügt im Parlament aber über eine bequeme Mehrheit. Dennoch muß das zweite Kabinett Balkenende sich anstrengen, den harten Kurs den Bürgern gegenüber zu erklären.

Nach Umfragen ist eine Mehrheit der niederländischen Bevölkerung bereit, auf Lohnerhöhung zu verzichten, wenn die Wirtschaft insgesamt dadurch besser wird, doch nicht um jeden Preis. "Das niederländische Kabinett hat den mutigen Schritt genommen, nachzuweisen, daß starke Einsparungen unumgänglich sind", so der bekannte niederländische Kommentator Willem Breedveld. Tatsache sei aber auch, daß der von Balkenende gewünschte Wandel "sich nicht per Dekret verkündigen läßt".


 
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