© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/03 26. September 2003

 
Sozialstaat abbauen
von Angelika Willig

Der Markt ist nicht gut und nicht böse, der Markt ist die Wirklichkeit. Und auch wer sich nicht danach richten will, stößt früher oder später auf die Realitäten. Den DDR-Deutschen ist es passiert, und den Westdeutschen passiert es jetzt. Keiner zweifelt mehr daran, daß "unabhängig von kurzfristigen Konjunkturschwankungen der deutschen Wirtschaft seit Mitte der neunziger Jahre nach und nach die Kraft ausgeht", wie es im Berliner Tagesspiegel heißt. Das Wachstumspotential ist inzwischen so niedrig wie in weltweit keiner anderen Industrienation, meldet gerade die Welt. "Die Normaltemperatur der deutschen Wirtschaft fällt ständig", erklärt Jens Ulrich vom Sachverständigenrat zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Schuld sind - auch hier stimmen alle Wirtschaftsfachleute überein - die hohen Lohn- und Lohnnebenkosten sowie eine allzu hohe Regulierungsdichte, gerade was die Forschung betrifft.

Das ist keine neue Erkenntnis. Die Frage bleibt, wer an diesen Zuständen schuld ist. Denn es ist selbstverständlich das Wahlvolk, das in den letzten 30 Jahren - so lange geht das ja schon - eben nicht aus moslemischen Zuwanderern und anderen Randgruppen bestand, sondern aus ganz normalen Deutschen, die es ganz normal fanden, daß von Jahr zu Jahr weniger gearbeitet und mehr gekurt, verreist, krankgefeiert und in Rente gegangen wurde - immer auf Kosten derer, die man als "Leistungsfetischisten" noch in die moralische Defensive drängte. Schuld ist, daß '68 sich nicht nur auf den Fleiß der Studenten auswirkte und auf deren Einstellung zu Fortschritt und Technik, sondern auch auf Metallarbeiter oder Verwaltungsbeamte. "Man gönnt sich ja sonst nichts", in dem geflügelten Werbeslogan hat sich die alte deutsche Tüchtigkeit ganz verschmitzt in eine Ausrede für die neue deutsche Faulheit verwandelt.

Nichts könnte bezeichnender sein. Schuld ist aber schließlich die demokratische Überzeugung, daß jede Stimme gleich zählt, egal wieviel ihr Besitzer leistet. Zwar gilt dieser Grundsatz in allen westlichen Ländern, doch nirgendwo wird er so genau genommen wie in Deutschland. In den USA ist die Demokratie etwas rein Formales. Keinen stört es, daß der Präsidentschaftswahlkampf eine gänzlich unpolitische Angelegenheit ist und daß ein Großteil gar nicht erst zu den Wahlen geht. Erst recht kommt keiner auf die Idee, daß die Gleichheit des Stimmzettels sich in einer sozialen Gerechtigkeit realisieren müsse.

Die Kritik an der Abstraktheit bürgerlicher Rechte und die Forderung nach ihrer ökonomischen Konkretisierung stammt von Karl Marx und hat etwas typisch Deutsches. Denn konsequent ist diese Forderung in der Tat. Freiheit ohne Gerechtigkeit sei verlogen, meinen die Sozialisten nicht ganz zu Unrecht und stacheln die Besitzlosen dazu an, finanzielle Forderungen zu stellen, die den hehren Versprechungen der Verfassung bezüglich Menschenwürde und Menschenrechte entsprechen. Die Folge ist nicht nur das fehlgeschlagene sozialistische Experiment, sondern auch jenes halbsozialistische System der Umverteilung, das sich in den vergangenen Jahrzehnten bei uns herausgebildet hat. Die fatale Macht der Leistungsschwachen und Leistungsunwilligen beruht letztlich auf der Unfähigkeit der Starken, ihre sozial privilegierte Stellung moralisch zu rechtfertigen.

Es gibt also kein "anständiges Volk", das von miesen Politikern irregeleitet wurde. Vielmehr hat sich in den fetten Jahren vom Ministerialdirektor bis hinunter zum Sonderschüler eine Frechheit und Anmaßung verbreitet, die zum Himmel schreit. Jeder trumpft auf und hat vor nichts und niemandem mehr Respekt. Konservative beklagen das in jeder ihrer Publikationen. Nur nützt das Klagen leider nichts.

Solange die Sozialsysteme alles abfedern, was der Einzelne aufgrund mangelnden Realitätssinns, familiärer Verwöhnung und allgemein-menschlicher Dummheit verbockt hat, wird sich jene Haltung nicht ändern, die man in Schulen, Universitäten, Lehrbetrieben und in vielen sogenannten Dienstleistungsberufen findet. Es ist die Haltung des reichen Erbens, dem "nichts passieren" kann und dem alle mal "den Buckel herunterrutschen" können. Mit dieser Einstellung treten seit Jahrzehnten Schüler ins Leben, und wenn nicht alles so läuft, wie sie sich das gedacht haben, so ist die Gesellschaft schuld. Wenn der Staat nicht sofort einspringt, machen sie Terror auf dem Sozialamt - oder ziehen gleich vor Gericht.

Bevor diese Sichtweise sich nicht drastisch ändert, kann die Regierung sein, wie sie will: gegen die Dreistigkeit ihrer Bürger wird sie nicht ankommen. Strenge Politiker werden einfach abgewählt (ha, ha!), und bei dem Versuch, Reformen durchzusetzen, entstehen im pervertierten Rechtsstaat nur immer neue Gesetze, Verordnungen und Ausnahmen.

Gegen die Undiszipliniertheit verwöhnter Deutscher hilft kein Predigen und kein Appellieren, da hilft nur die radikale Streichung der gewohnten Zuwendungen, damit wir erst einmal wieder auf den Teppich kommen.

Falsch ist auch der Versuch, soziale Einschnitte als bloße Mißbrauchsbekämpfung zu verkaufen. Das ist tatsächlich verlogen, denn es geht nicht um den Sozialhilfeempfänger in Florida oder die vielköpfige Türkenfamilie mit Nebeneinnahmen, also nicht nur um die Korrektur von Auswüchsen. Es geht darum, daß die Zeiten härter werden für die meisten von uns. Und das ist gut so, denn andernfalls wäre es mit der Oberflächlichkeit und Spaßkultur immer so weitergegangen bis in eine geschichtslose Zukunft hinein. Konservative verteidigen gern das Recht der Nation, im Interesse ihrer Selbstbehauptung im Krieg auch Menschenleben zu opfern, und zwar das Leben junger gesunder Männer. Gleichzeitig halten sie es für unerträglich, wenn zugunsten wichtiger Zukunftsaufgaben Achtzigjährige nicht mehr intensivmedizinisch versorgt werden.

Warum scheitert jede Partei rechts von der Union? Weil der Wähler, wenn Kritik am System geübt wird, nur solche Kritik hören will, die anderen die Schuld gibt und ihn selbst entlastet. Eine Partei, die dies tut, verfällt aber zwangsläufig in billigen Populismus und zieht das entsprechende Personal heran. Diese Schills und Schönhubers kriechen schamlos vor ihrer sozial eher erfolglosen Klientel und dreschen ebenso unappetitlich auf Randgruppen ein, die nur marginal zur Misere beitragen.

Die Wende kann also nicht von der Politik, sondern nur von der Wirtschaft ausgehen. Das freie Unternehmertum ist nicht unbedingt die höchste Kulturstufe des Menschen. Einst hat man von der Höhe des Adels, des Klerus, des Militärs die "Pfeffersäcke" sogar verachten dürfen. Bei fortschreitendem Verfall aber ist die Wirtschaft jener Bereich, in dem sich die natürliche Rangordnung noch am längsten hält - einfach darum, weil es hier um Zahlen und Fakten geht. Um Klecksereien von Kunst zuverlässig zu scheiden, braucht es mindestens einen Abstand von 100 Jahren: Der Umsatz einer Firma stürzt bei falschen Geschäftentscheidungen erheblich schnel-ler ab.

Die Struktur der Wirtschaft ist antidemokratisch, und nur solange dies so bleibt, kann die Gesellschaft überhaupt funktionieren. Auch das egalitäre Treiben in Politik und Kultur nährt sich heimlich von jenen "grausamen" Entscheidungen, die in Betrieben und Vorstandsetagen täglich fallen und ohne Rücksicht auf "Mehrheiten" durchgezogen werden. Greift die Mitleidsideologie auch hier zu, dann läuft endgültig nichts mehr. Und jedes Liebäugeln mit "Volksgemeinschaft" vergißt, daß zu deren Funktionieren ein autoritärer Staat gehört, der die Gaben streng zuteilt.

Die "Zuwanderung in die Sozialsysteme" wird spätestens dann aufhören, wenn diese nichts mehr hergeben. Was aber nicht von selbst aufhört, ist der Abzug begabter und ehrgeiziger Deutscher in andere Länder. Der deutsche Biochemiker Hans Schöler, der an der Universität von Pennsylvania reüssierte, hat einmal ausführlich beschrieben, wie sein Auswanderungsentschluß zustande kam. Die Schwierigkeit, im akademisch zementierten Deutschland einen Lehrstuhl zu bekommen, reichte noch nicht aus, um den Familienvater zu vertreiben. Es war schließlich die Erfahrung, daß man ihn bei Bewerbungen wie einen hergelaufenen Studenten behandelte und zum Essen in die Mensa schickte, während in den USA schon im Vorfeld dem qualifizierten Bewerber das Gefühl gegeben wurde, daß man seinen Rang erkannte und anerkannte. Nur darum geht es, um die Rangordnung, weil es nur so Freude macht, etwas zu leisten. Und das haben Konservative schon gewußt, als die "Neoliberalen" noch Sozialliberale waren.

 

Dr. Angelika Willig, Jahrgang 1963, studierte Philosophie und Lateinische Philologie in Freiburg und München.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen