© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/03 03. Oktober 2003

 
Die verklemmte Republik
Denk- und Meinungsfreiheit drohen in Deutschland immer mehr ausgehebelt zu werden
Doris Neujahr

Der Kirchenhistoriker und Leiter des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden, Gerhard Besier, hat auf einer Veranstaltung in Brüssel die Scientology-Kirche als Vorkämpfer einer "Toleranz, die jedem nutzt", bezeichnet. Er hat ihr "Mut gegenüber Hindernissen" attestiert und sie vor dem Vorwurf der "Verfassungsfeindlichkeit" in Schutz genommen. Wer Besiers Publikationen auch nur flüchtig kennt, der weiß, daß es ihm nicht um Scientology als Organisation und Glaubensverkünder, sondern um Demokratie und Freiheit geht und um Eigenschaften, durch die sie sich erfüllen. Staatliche Ausgrenzungs- und Zwangsmaßnahmen hart am Rande der Legalität bewirken das Gegenteil, nämlich Untertanenmentalität. Um so mehr, wenn sie von unkritischen Medien, Behörden und Gerichten unterstützt werden.

Besier ist Verfasser der Standardwerke "Der SED-Staat und die Kirche" und "Die Kirche und das Dritte Reich". Er weiß, daß Praktiken und Verhaltensweisen, die eine Diktatur ermöglichen, nicht plötzlich mit der Machtergreifung vom Himmel fallen, sondern daß sie eine ständige Versuchung sind, die im Menschen schlummert. Er fürchtet, daß sie sukzessive gesellschaftsfähig werden.

Der Weg in die Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Unter dem Vorwand "demokratischer Wachsamkeit" kann man heute im Handumdrehen Hexenjagden inszenieren. Naturgemäß sind es die Blockwarte und Denunzianten, die in dieser Atmosphäre gedeihen. Sie haben nicht viel Geist, dafür um so stärkere Ansichten. Aus Angst vor ihrem Aggressionspotential werden Wissenschaftler, Politiker und Publizisten, die die Selbstentleerung der öffentlichen Debatten mit neuer Inspiration beheben könnten, in die Wüste verbannt. Das Schicksal Jürgen Möllemanns ist bekannt. Öffentliche Auftritte von Ernst Nolte oder Alain de Benoist sind in Deutschland schon seit Jahren nicht mehr möglich. Im Sommer hat der Suhrkamp-Verlag Ted Honderichs Buch "Nach dem Terror" zurückgezogen, weil der Autor gewagt hat, die Nahost-Problematik unkonventionell zu beleuchten. Die Liste der Zensurmaßnahmen ließe sich fortsetzen. Die Wahrheit dahinter lautet: Der Bürger, der das Recht auf geistige Freiheit in Anspruch nimmt, ist unerwünscht.

In dieser Lage müßte es Bewunderung auslösen, wenn ein Intellektueller die Freiheit des Citoyens und Wissenschaftlers verteidigt und dies mit dem Einsatz seiner Person beglaubigt. Doch Besier hat einen Sündenfall begangen: Er hat einen Standpunkt außerhalb der linksliberalen Meinungsbogens eingenommen, dessen Medien ihr angemaßtes Protest-Monopol zäh verteidigen. Ihr Casus belli ist das drohende Exempel der Sezession, aus der heraus sich ihr selbstgefälliges Dauergeschwätz als absurd verwerfen ließe. Die gegenwärtige intellektuelle (und politische) Elite meint, es sich nicht leisten zu können, die geistige und politische Verhunzung des Landes radikal, an die Wurzel gehend, zu debattieren. Schon vergleichsweise harmlose Diskussionen werden durch disziplinarische Maßnahmen abgewürgt, aus Furcht, sie könnten sich zu einem geistigen Anarchismus auswachsen, der die Systemgrenzen überschreitet.

Gerade wird versucht, SPD-Abgeordnete, die gegen die Gesundheitsreform gestimmt haben, aus dem Bundestag zu mobben. Besier wurde aus der CDU-Fraktion im sächsischen Landtag bedeutet, seine Rede sei "völlig inakzeptabel", seine späte Einsicht werde aber anerkannt. Der Angegriffene hatte nämlich Selbstkritik geübt. Es ist beklemmend zu sehen, wie jemand, alleingelassen und allseits unter Druck geraten, das von ihm gesetzte, couragierte Beispiel selber entwertet. Alle Aufrufe, Mut zur Zukunft und zu schöpferischen Ideen zu haben, werden damit konterkariert. Die deutsche Krise hat System, und sie befestigt ihre Grenzen.

Aber haben wir nicht einen florierenden Meinungswettbewerb in Deutschland? Ja, und was für einen! Gerade hat der Bild-Chef eine Jubiläums-taz gemacht, bestimmt macht die taz bald eine Jubiläums-Bild, und alle haben viel Spaß dabei! So sieht die vorletzte Schwundstufe des Meinungspluralismus aus. Standpunkte sind beliebig und müssen nicht verantwortet werden, man stellt zur Diskussion, was einem gerade einfällt. Intellektuelles Plebejertum macht sich breit. Sich aus diesen Zusammenhängen zu befreien, indem man sie nicht länger zum Anlaß für Verführung, Erregung oder Ärger nimmt, sondern sie kühl als Symptome einer zu überwindenden Verrücktheit einordnet und analysiert, heißt, sich in Sezession zu begeben, in der sich geistige Freiheit verwirklicht.

Die Aggressionen, die die unterschiedlichen Sezessionisten auslösen, sind Hinweise auf eine unter Komplexen leidende Demokratie, die sich erst noch erfüllen muß. Alfred Döblin spottete beim Wechsel vom Kaiserreich zur Weimarer Republik: "Alle Menschen haben Ansichten, früher hatte nur Ludendorff eine. Während des Krieges sah man eine Herde, jetzt sieht man die Hammel." Die Hammel der Gegenwart haben den Aggressionstrieb und die Reißzähne von Wölfen! In der Polemik gegen die JUNGE FREIHEIT berufen sich Journalisten auf die Denunziationen des NRW-Verfassungsschutzes wie auf eine Heilige Schrift. Grotesk wirken da ihre Gesten der Überlegenheit gegenüber menschlichem Versagen in der DDR und im Dritten Reich. Damals gab es die Stasi oder Gestapo, die die Menschen in die Willfährigkeit hineinzwang. Heute geben die Zuträger der autoritären Versuchung schon unter weit bequemeren Umständen nach.

Die ideologische, linksliberale Nötigung wäre nicht so effektiv, wäre sie nicht mit dem wirtschaftsliberalen Anpassungsdruck gekoppelt, der noch gefährlicher ist. Man verfolge unter diesem Gesichtspunkt nur einmal die Reformdiskussionen zur Hochschul- und Bildungspolitik. Alles läuft darauf hinaus, die Schulen und Universitäten als Dienstleister für die Wirtschaft zu dressieren. Die geistige Beunruhigung der Gesellschaft gemäß dem sapere aude ("Wage es, weise zu sein") soll offiziell verabschiedet, der Intellektuelle von Anfang an auf den Virtuosen des Lern- und Verwertbaren zurückgestutzt werden. Nach dessen Sinn aber soll nicht gefragt werden. In der Schraubzwinge zwischen dem Inquisitor und dem Homo faber gehen Kultur und Freiheit vor die Hunde. Schöne neue Welt! Armes Deutschland!


 
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