© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/03 03. Oktober 2003

 
Opfergedenken
Warum sich Enzensberger zu Recht wehrt
Andreas Wild

Viel Aufmerksamkeit und Käuferzuspruch findet zur Zeit das Buch einer "Anonyma", das unter dem Titel "Eine Frau in Berlin" in Hans Magnus Enzensbergers "Anderer Bibliothek" beim Eichborn Verlag erschienen ist. Es ist die dramatische, erschütternde Geschichte einer inzwischen verstorbenen Dame über ihr Schicksal im von den Russen besetzten Berlin der Jahre 1945/46, insbesondere über die tausendfachen Vergewaltigungen deutscher Frauen durch Rotarmisten, die zum Teil von der sowjetischen Militärbehörde angestiftet wurden.

Die Erinnerung an dieses in der Kriegsgeschichte absolut einmalige Verbrechen gegen wehrlose Frauen eines bereits besiegten Landes kommt den linken deutschen PC-Aufsehern und Schuldverwaltern natürlich sehr ungelegen, und so konnte man darauf warten, bis sie etwas gegen das Buch der Anonyma und seinen Herausgeber Enzensberger anzetteln würden. Tatsächlich erschien in der Süddeutschen Zeitung eine als "philologische Kritik" getarnte Attacke, die sich die größte Mühe gab, die Glaubwürdigkeit des Berichts zu untergraben und den Herausgeber mangelnder Sorgfalt und manipulativer Absichten zu überführen.

Aufgehängt wurde die Polemik an der Tatsache, daß der Bericht der Anonyma bereits einmal, in den fünfziger Jahren, gedruckt worden ist, damals ediert von dem bekannten Sachbuchautor Karl W. Marek, ("Ceram"), mit dessen Familie die Anonyma befreundet war. Ceram, so wurde unterstellt, habe den Bericht wohl selber geschrieben, zumindest komplett redigiert, und dieser Autor sei ja eine Art NS-Reporter und für seine freischweifende Phantasie bekannt gewesen. Das Buch sei also "ein wertloses zeitgeschichtliches Dokument", wenn nicht gar eine Fälschung.

Nichts wurde in dem SZ-"Dossier" bewiesen, alles einfach nur behauptet; etwas werde bei den Lesern schon hängenbleiben, scheint das Kalkül gewesen zu sein. Glücklicherweise hat sich Enzensberger nicht einschüchtern lassen und der Münchner Zeitung und ihrem Schreiber Jens Bisky energisch widersprochen. Es werde Bisky "nicht gelingen, einer Autorin zu schaden, deren Mut ich ebenso bewundere wie ihren Stil".

Die SZ ist inzwischen eingeknickt und hat sich halb und halb von ihrem "Dossier" distanziert. Die Authentizität der Anonyma wird nun ausdrücklich bestätigt und sogar gerühmt, nur müsse eben bei einer so wichtigen Sache äußerste editorische und textkritische Sorgfalt walten, damit es nie wieder so weit kommen könne wie bei jenem seinerzeit im Suhrkamp Verlag erschienenen Weltbestseller eines gewissen Binjamin Wilkomirski über seine Leiden in deutschen KZs, der von A bis Z erlogen und getürkt war.

In der Tat müssen die Leiden der Opfer mit äußerster Sorgfalt und größter Wahrhaftigkeit dokumentiert werden. Aber zu den Opfern gehören natürlich auch die Geschändeten und Getöteten der Nachkriegszeit, sie dürfen nie und nimmer zynisch gegen Kriegsopfer "verrechnet", sondern müssen "hinzuaddiert" werden. Nur so kann die Erinnerung nicht auf Dauer vergiftet werden.


 
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