© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/03 03. Oktober 2003

 
Abenteuerlich und realitätsfern
Bildungspolitik: Die Behauptung des jüngsten OECD-Bildungsvergleichs, Deutschland bilde zu wenig Akademiker aus, bleibt nicht ohne Widerspruch
Christian Roth

Zu große Klassen, zu geringe Unterrichtszeit, zu wenige und vor allem zu alte Lehrer. Das deutsche Bildungssystem krankt. Und das ist wirklich nichts Neues. Doch das sind nur einige Dämpfer, die Deutschland beim neuesten Bildungsvergleich der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erhalten hat.

Seit der berühmt-berüchtigten Pisa-Studie ist bekannt, daß es um die Bildung hierzulande schlecht bestellt ist. Zwar gibt es inzwischen erste Lichtblicke, aber der 500 Seiten starke OECD-Bericht mit einer Fülle von Informationen "kann nicht beruhigen", räumte der Staatssekretär im Bildungsministerium, Wolf-Michael Catenhusen (SPD), bei der Präsentation Defizite ein.

Das deutsche Bildungssystem gehört international weiterhin zu den Schlußlichtern. Und die Bildungsmisere ist laut OECD mit schuld an der Wirtschaftsflaute in der Bundesrepublik. Vor allem die geringere Zahl an Hochschulabsolventen sei dafür verantwortlich. Nur 19 Prozent eines Altersjahrgangs schlossen im Jahr 2001 ein Studium ab, im OECD-Durchschnitt sind es dreißig Prozent. Spitzenreiter ist Australien mit 42 Prozent. Viele Studienabgänger seien nicht "arbeitsmarkgerecht", klagt die Wirtschaft. Immerhin, als "Trendwende" bewertet die Organisation die steigende Zahl der Studienanfänger: Im Jahr 2001 waren es 32 Prozent eines Jahrgangs gegenüber 28 Prozent 1998; die Bundesregierung sieht darin einen Erfolg der Bafög-Reform und rechnet mit einer weiteren Zunahme auf 35 Prozent. Ausreichend ist dies aber noch nicht: Im Schnitt der Industriestaaten beginnen 47 Prozent eines Altersjahrgangs ein Studium. Und während in "Spitzenländern" fast jeder junge Mensch Zugang zu Hochschul-Einrichtungen hat, wird in Deutschland eine Debatte über Quotierung von Plätzen geführt, kritisiert die OECD.

Die Quote, in der die Universitäten eigene Kriterien für die Auswahl ihrer künftigen Studenten einbringen können, stieg von 20 auf 24 Prozent. Gleichzeitig verringerte sich der Anteil der über die Abiturdurchschnittsnote zu vergebenden Plätze von 55 auf 51 Prozent. Die Wartezeitquote blieb jedoch unverändert bei 25 Prozent. Mit dieser Änderung setzte die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) in Dortmund eine Empfehlung der Kultusministerkonferenz um. Doch wie so oft bringen Änderungen im einstelligen Prozentbereich gar nichts. Es ging kein "Ruck" durch die Universitäten, sondern nur ein Stöhnen.

Während bis einschließlich Sommersemester 1999 die Studienplätze im wesentlichen nach den Kriterien Note (für 60 Prozent der Plätze) und Wartezeit (für 40 Prozent der Plätze) vergeben wurden, trat ab Wintersemester 2000/01 für 20 Prozent der Studienplätze als neues Element ein eigenständiges Auswahlverfahren der Hochschulen hinzu. Entsprechend verringerte sich die Leistungsquote von 60 auf 55 Prozent und die Wartezeitquote von 40 auf 25 Prozent der Plätze. Zum Wintersemester 2002/03 stieg die Hochschulquote nun auf den nach dem Hochschulrahmengesetz größtmöglichen Wert von 24 Prozent an. Allerdings war das Interesse der Hochschulen, etwa durch Auswahlgespräche einen Teil ihrer Studenten selbst auszuwählen, nach wie vor gering.

In den sieben ZVS-Fächern des vergangenen Wintersemesters (Betriebswirtschaft, Biologie, Medizin, Pharmazie, Psychologie, Tiermedizin und Zahnmedizin) haben etwa 86 Prozent der betroffenen Fakultäten dann doch wieder die alte Tante ZVS beauftragt, die Kandidaten in der Hochschulquote nach der Abiturdurchschnittsnote auszuwählen.

Die zu wenigen Studenten studieren oft das gleiche

Geändert wurden zum Wintersemester 2002/03 auch die Regeln über die Verteilung auf die Studienorte. Wenn im ersten Schritt ermittelt wurde, wer einen Studienplatz erhielt, wurde in einem zweiten Schritt über den Hochschulort entschieden. Maßgeblich sind hier die Wünsche der Bewerber, von denen zwischen 75 und 80 Prozent auch erfüllt werden konnten. Da die deutlich überwiegende Mehrheit aller Studienbewerber an der nächstgelegenen Hochschule studieren möchte, gibt es vor allem in den Ballungsgebieten Probleme, alle Ortswünsche zu erfüllen, während in den dünner besiedelten Gebieten noch Studienplätze verfügbar sind. Der Wunsch mancher Bildungsplaner, Studenten sollten sich doch bei der (für ihr Fach) besten und nicht bei der ortsnahen Uni bewerben, geht bei Erstsemester-Studenten nicht in Erfüllung. Dieses Kriterium wird erst für Studenten höherer Semester interessant, die eine wissenschaftliche Karriere anstreben.

Gut 208.000 Studenten haben im vergangenen Jahr an deutschen Hochschulen ihren Abschluß gemacht. Wie das Statistische Bundesamt mitteilt, lag der Anteil der Frauen bei 47 Prozent. Annähernd die Hälfte (92.200) der Hochschulabsolventen erwarb ein Universitätsdiplom oder einen vergleichbaren akademischen Grad, knapp ein Drittel (65.900) ein Fachhochschuldiplom. Weitere jeweils elf Prozent haben ein Lehramtsstudium oder ein Promotionsstudium sowie zwei Prozent ein Bachelor- oder Masterstudium mit Erfolg beendet. Die meisten Absolventen sind Rechts-, Wirtschafts- oder Sozialwissenschaftler (69.800 oder 33 Prozent), Ingenieurwissenschaftler (17 Prozent), Sprach- und Kulturwissenschaftler (17 Prozent) oder Mathematiker und Naturwissenschaftler (14 Prozent). Neun Prozent haben Humanmedizin studiert. Die Zahl der bestandenen Abschlußprüfungen an Hochschulen hat sich 2002 im Vergleich zum Vorjahr insgesamt kaum verändert (plus 0,2 Prozent). Allerdings ist die Entwicklung in einzelnen Studienbereichen sehr unterschiedlich.

Weniger Hochschulabsolventen gab es insbesondere in einigen Ingenieur- und naturwissenschaftlichen Studiengängen: Im Vergleich zum Jahr 2001 nahm die Zahl der Absolventen im Studienbereich Physik um neun Prozent, in der Chemie um knapp sechs Prozent, in der Elektrotechnik um gut fünf Prozent und im Bereich Maschinenbau/Verfahrenstechnik um drei Prozent ab. Hier setzte sich der seit Mitte der neunziger Jahre anhaltende Abwärtstrend weiter fort. Dagegen stieg die Zahl der erfolgreich abgelegten Hochschulprüfungen im Studienbereich Informatik erneut an, und zwar auf 6.600 (plus neun Prozent).

Doch das nackte Zahlenwerk spiegelt die Probleme nur unzureichend wider. Infolge der Diskussion um die sogenannte Green Card wurde ein eklatanter Mangel an ausgebildeten Informatikern deutlich. "Die deutschen Hochschulen hinken hinterher und passen sich kaum den Gegebenheiten des Arbeitsmarktes an", stöhnt die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und fügt hinzu: "Der Anstieg auf dem Gebiet der Informatik ist zwar begrüßenswert, aber nicht ausreichend."

Anders sieht es im Fachbereich Rechtswissenschaft aus. Der Traum von einer erfolgreichen Anwaltskarriere übt auf viele Abiturienten immer noch eine geradezu magische Anziehungskraft aus. Der Deutsche Juristentag befürchtete schon vor Jahren eine Juristenschwemme. "Die Aussichten für Berufseinsteiger sind nicht gerade rosig", heißt es, "es werden zu viele Juristen ausgebildet". "Der Trend auf dem Arbeitsmarkt geht in allen Industrienationen eindeutig in Richtung Hochqualifizierung", sagt dagegen der Autor der OECD-Studie, Andreas Schleicher. Deutschland bilde im weltweiten Vergleich einfach zu wenig Akademiker aus. Der Mangel an Höchstqualifizierten, vor allem bei Ingenieuren und Naturwissenschaftlern, sei absehbar.

OECD-Studie unterschlägt die deutsche Berufsausbildung

Diese Einschätzungen widersprechen sich nicht einmal. "In Deutschland studieren zu wenig Menschen. Und oft studieren zu viele das gleiche", sagt Schleicher. Seine düstere Prognose: "In einigen Bereichen erwarten wir eine Akademikerschwemme, in anderen eine Diaspora. Die Auswirkungen für die Wirtschaft werden enorm sein."

Der Widerspruch ließ nicht lange auf sich warten: Die unionsgeführten Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg und Hessen machen zusammen mit Österreich und der Schweiz massiv Front gegen den neuen Bildungsbericht. Die Autoren müßten den Stellenwert der beruflichen Bildung anerkennen und nicht ständig die Zahl der Abiturienten und Hochschulabsolventen herausstellen, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der drei Kultusministerien der deutschen Bundesländer, der österreichischen Bildungsministerin Elisabeth Gehrer (ÖVP) und der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren.

Die Behauptung, eine zu geringe Zahl von Abiturienten und Hochschulabsolventen in Deutschland sei mitverantwortlich für die aktuelle Wirtschaftsschwäche, sei "abenteuerlich und realitätsfern", sagte Bayerns Kultusministerin Monika Hohlmeier (CSU) in der Erklärung. Dann müßten Länder wie Bayern, Baden-Württemberg und Hessen mit einer niedrigen Abiturientenzahl "wirtschaftlich Schlußlicht in Deutschland sein". Das Gegenteil sei aber nachweislich der Fall.

Auch Josef Kraus, Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes, bemängelte, daß derartige Studien lediglich Hochschulabschlüsse werteten. Dabei bleibe unberücksichtigt, daß es Berufe gebe, die in Deutschland über die betriebliche Ausbildung vermittelt würden, während in anderen Ländern dafür ein Hochschulstudium nötig sei. Bildungsforscher Schleicher wies die Kritik der Kultusminister umgehend zurück: Seiner Meinung nach seien die aktuellen Probleme auf dem Lehrstellenmarkt ein Beleg für sich ändernde Qualifikationsanforderungen. Es ergebe wenig Sinn, Betriebe mit einer Abgabe, wie sie in Deutschland diskutiert wird, dazu zu zwingen, Lehrstellen in Berufen zu schaffen, die in diesem Umfang bald nicht mehr gebraucht würden. Akademiker hätten weltweit die geringsten Probleme mit Arbeitslosigkeit. Der OECD-Autor bekräftigte: Bessere Bildung der Erwerbsbevölkerung habe in allen Industrienationen zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität geführt.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat inzwischen einen dramatischen Akademikermangel in Deutschland vorhergesagt. Bis 2019 werden laut einer neuen Studie etwa eine Viertelmillion neu ausgebildeter Akademiker fehlen. Die GEW-Vorsitzende Eva-Maria Stange beklagte den maroden Zustand des Bildungssystems und mahnte Reformen auf allen Ebenen an - von der Kindertagesstätte bis zur Weiterbildung. "Deutschland ist auf dem Weg, den internationalen Anschluß in Sachen Bildung zu verlieren", sagte Stange. Sie forderte eine von Bund und Ländern angestrengte Reform des Bildungswesens. "Ohne zusätzliches Geld wird es keine Reform geben", erklärte sie. Zur Aufstockung des Bildungshaushaltes sei etwa eine Steigerung von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts notwendig.

Der Autor der GEW-Studie, der Es-sener Bildungsforscher Klaus Klemm, erklärte, um den Bedarf zu decken, müßten in diesem Jahrzehnt etwa 2,4 Millionen Absolventen von Fachhochschulen und Universitäten kommen. Dies sei jedoch bei gleichbleibenden Abiturientenzahlen und unveränderter Studierneigung nicht möglich. Es sei dringend notwendig, die Abiturientenzahlen zu steigern.

Doch die Ausbildung in Deutschland ist teuer. Bis zum Abitur gibt der Staat pro Schüler zirka 60.000 Euro aus, der Weg bis zum Uni-Examen verschlingt noch einmal die gleiche Summe. Das Institut der deutschen Wirtschaft rechnet vor: Recht günstig ist der Start ins Schulleben. Pro Grundschüler gab der Staat jährlich lediglich 3.600 Euro aus. Entschieden teurer wurde es auf dem Gymnasium mit 5.200 Euro. Noch einmal 200 Euro mehr kostete ein Gesamtschüler. Die geringere Schülerzahl pro Lehrkraft und der Ganztagsbetrieb treiben hier den Preis nach oben.

Aber nicht nur der Staat investiert viel Geld in seine Zukunft. Für die Ausbildung von 1,7 Millionen Lehrlingen zahlten Unternehmen in Deutschland fast 28 Milliarden Euro. Dafür verdienten die Firmen mit ihren Azubis gute 13 Milliarden Euro, bleiben unter dem Strich Nettokosten von 15 Milliarden Euro. Nach Angaben des arbeitgebernahen Instituts kostet eine dreijährige Lehre damit durchschnittlich 26.000 Euro netto.

Technisch anspruchsvolle Berufsausbildungen wie die zum Mechatroniker oder dem Industriemechaniker schlagen pro Kopf und Jahr mit 24.400 beziehungsweise 14.800 Euro netto zu Buche. Ein angehender Einzelhandelskaufmann kommt nur auf netto 8.000 Euro - er macht sich schneller im Betrieb nützlich. So viel kostet in etwa auch die Ausbildung eines Studenten im Jahr. Günstiger sind die Fachhochschulen: Daß Professoren dort mehr unterrichten, aber weniger verdienen, merkt der Finanzminister an lediglich 4.300 Euro pro Student und Jahr.

Die Ausbildung der Ärzte beansprucht den halben Etat

Die teuersten Studenten sind die Mediziner - einer allein kostet so viel wie vierzehn Betriebswirtschaftler. Die Ärzteausbildung verschlang knapp die Hälfte der gesamten Hochschulausgaben - je angehenden Mediziner wandte der Staat 28.000 Euro auf, wie das Kölner Institut meldet. Ein echter Preishit ist das klassische Bücherstudium ohne aufwendige Geräteausstattung. Ein Studium der Betriebswirtschaft zum Beispiel geht mit 1.900 Euro an der Fachhochschule und 2.000 Euro an der Universität geradezu als Schnäppchen durch. Die Kosten variieren aber nicht nur von Fach zu Fach, sondern auch je nach Bundesland. Sachsen-Anhalt etwa bezahlt pro Student im Jahr etwa 13.000 Euro, weit über dem Bundesdurchschnitt von gut 8.000 Euro. Billiger lehrt es sich im studentenstärksten Land Nordrhein-Westfalen mit nur 5.000 Euro.

Derzeit studieren in Deutschland übrigens um die zwei Millionen Menschen. Einmal angenommen, daß sie alle ihr Studium beenden und dafür die durchschnittlichen Kosten von 118.000 Euro benötigten, beliefen sich die Kosten dafür auf 224 Milliarden Euro - eine Zahl mit neun Nullen. Tatsächlich allerdings verzichtet allerdings jeder vierte Student auf den Abschluß und läßt das Studium sausen.

Diese hohe Zahl an Abbrechern schreckt die Experten auf. Gerade in "populären" Studiengängen wie Jura oder Betriebswirtschaft ist die Abbrecher-Quote außergewöhnlich hoch. "Es ist bitter mit anzusehen, daß von denjenigen Studienanfängern, die im kommenden Wintersemester voller Euphorie ihr Glück versuchen, in manchen Studiengängen fast die Hälfte auf der Strecke bleibt. Der finanzielle Schaden ist enorm", klagt die Hochschulrektorenkonferenz.


 
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