© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/03 03. Oktober 2003

 
Leiden ist nicht reformierbar
von Horst A. Hoffmann

Das Thema Gesundheitsreform, die Frage nach den Kosten der Gesundheit, nimmt jetzt in unseren Medien einen großen Raum ein. Denn verständlicherweise berührt die Menschen kein anderes Thema so direkt und "körpernah" wie die Veränderungen in der Gesundheitsversorgung. Aufgeschreckt durch das unerbittliche Diktat der Zahlen, durch leere Kassen in Bund und Ländern, werden quer durch alle Parteien jetzt auch Probleme angegangen, die Jahrzehnte lang ignoriert oder geleugnet wurden, weil deren Lösung demoskopisch unvorteilhaft war. Nun kommen auch vermeintlich feste soziale Besitzstände wie Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld und das Rentenalter auf den Prüfstand. Jede noch so drastische Leistungseinschränkung scheint möglich, alles ist offen. Der CDU-Nachwuchspolitiker Philipp Mißfelder forderte gar, daß es ab einem gewissen Alter keine Hüftprothesen und keinen Zahnersatz mehr geben dürfe, und wird darob prompt von Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth gescholten. Er hatte mit seiner Forderung in der Tat eine Grenze überschritten, die wir nicht überschreiten dürfen, wenn wir an einem Menschenbild festhalten wollen, das in einer christlich und humanistisch geprägten Tradition steht.

Nichtsdestoweniger bleibt festzuhalten, daß eine Reform des Gesundheitswesens, eine Anpassung an zwischenzeitliche Entwicklungen, seit langem überfällig ist. Medizinischer Fortschritt in Diagnostik und Therapie kann in vielen Bereichen nicht kostenneutral sein. Wenn steigende Lohnnebenkosten aus Gründen der in einem internationalen Kontext stehenden Ökonomie begrenzt werden müssen, dann muß das zwangsläufig zur Rationierung der Kosten im Gesundheitswesen führen. Und weil Gesundheit ein relativer Begriff ist, abhängig von sozialen Faktoren, dem Wohlstand einer Gesellschaft und der Anspruchshaltung seiner Menschen, müssen behandlungsbedürftige Krankheiten neu definiert werden, bevor dafür Mittel aus dem anonymen Topf der Solidargemeinschaft entnommen werden. Die Frage ist allerdings, wie das zu geschehen hat.

Es gibt harte Fakten, unerbittliche Zahlen, die schon seit langem auf die drohende Überdehnung unseres Gesundheitssystems hinweisen. Es ist eine schlichte Tatsache, daß medizinischer Fortschritt in Diagnostik und Therapie die Kluft zwischen dem, was medizinisch möglich ist, und dem, was unsere Solidargemeinschaft noch zu bezahlen in der Lage ist, immer größer werden läßt. So kostete zum Beispiel eine einfache Röntgenuntersuchung von anno dazumal nur einen Bruchteil einer Kernspintomographie von heute. Die Anschaffungskosten dieses Gerätes betragen je nach Ausstattung zwischen zwei un drei Millionen Euro.

Natürlich muß die Anwendung dieser Diagnostik mit ihrer exzellenten Darstellung auch von Weichteilstrukturen besonderen diagnostischen Fragestellungen vorbehalten bleiben. Aber es gibt heute diese Diagnostik, und viele Patienten verdanken ihr eine Diagnose, die erst zu ihrer Heilung führte. Die Fortschritte bei den Organtransplantationen, der Operation am offenen Herzen, die orthopädische Prothetik, Hörhilfen, Herzschrittmacher, aber auch das Forschen der Pharmaindustrie nach neuen Antibiotika angesichts zunehmender Resistenzen der Erreger, Fortschritte in der Endokrinologie und der Gen-Technologie und anderes führen zu neuen Dimensionen der Kosten. Daß diese Erweiterung der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten, die sich in Lebensqualität und verlängerter Lebenserwartung niederschlagen, kostenneutral zu erreichen wäre, diese Annahme wäre naiv.

Aber das Problem der Kostenexplosion im Gesundheitswesen wäre einfacher zu lösen, gäbe es nur diese nachvollziehbaren Gründe. Denn da ist noch der Markt und die Gesetze des Marktes, denen die Leistungserbringer, Pharmaindustrie, Krankenhäuser, die medizinisch-technische Industrie, auch die Ärzte unterliegen. Diese Leistungserbringer agieren zielstrebig und offensiv nach den Regeln des Marktes, nach den Prinzipien von Eigennutz und Gewinnmaximierung. Die Einflußnahmen der Gesundheitsindustrie auf den Konsumenten Patient sind vielfältig und nicht immer erkennbar. Sie reichen von selbst in Auftrag gegebenen Gutachten über eigene Produkte, von Sponsoring ärztlicher Fortbildung und Patienten-Selbsthilfevereinigungen, wo eigene Produkte offeriert werden, bis zur direkten Einflußnahme auf politische Funktionsträger durch eine einflußreiche Lobby. Ihre Größe und internationale Präsenz machen sie unangreifbar.

Gemessen daran sind die Möglichkeiten der Gewinnmaximierung, die Ärzte in ihren Praxen haben, eher bescheiden. Sie sind mehr, als ihnen bewußt ist, selber Getriebene und Instrumentalisierte in einem großen, gut organisierten System, für das unser Gesundheitssystem nur ein Teilbereich einer allein auf Profitmaximierung ausgerichteten weltweit agierenden Industrie ist. Die Frage, ob unser Staat die Kraftanstrengung aufbringt, durch gesetzgeberische Maßnahmen und wirklich unabhängige Kontrollmechanismen diesen großen Kostentreibern Fesseln anzulegen, wird in der Eindämmung der Kostenexplosion entscheidend sein.

Aus der Sicht eines Nichtökonomen - und deshalb mit Vorsicht formuliert - gäbe es aber woanders Einsparmöglichkeiten.

Die Verwaltungskosten der Krankenkassen sind in den letzten 10 Jahren um 50 Prozent gestiegen. Sie liegen jetzt bei acht Milliarden Euro, das sind 157 Euro pro Versicherten jährlich, oder 5,6 Prozent der Einnahmen. Es gibt bei uns 350 verschiedene Krankenkassen, die untereinander mit hohen Werbekosten heftig konkurrieren. Die Vorstandsgehälter sogar der kleinsten Kassen liegen bei 120.000 Euro jährlich: Bei diesen Zahlen läßt sich einiges an Mitteln für den Dienst am Patienten abzweigen.

Die große Zahl der Fremdleistungen aus unseren Sozialkassen an Personengruppen, die nie in die Solidargemeinschaft eingezahlt haben, sind ein weiterer Kostenfaktor, der mit der ursprünglich angelegten Zweckbestimmung der Sozialkassen nichts zu tun hat. Dazu zählen die Kosten der Asylgewährung, die auch die Kosten für die mitunter viele Jahre dauernden Berufungsinstanzen zur Erlangung des Bleiberechts einschließt. Die Übernahme der Altlasten aus der ehemaligen DDR bei der Wiedervereinigung dürfte eine weiterer Fremdbelastung sein, wenn letztere auch als eine gerechtfertigte Solidarleistung aller angesehen werden sollte.

Aber im Prinzip sollte der Versicherte doch davon ausgehen können, daß seine in einem Arbeitsleben geleisteten Sozialabgaben vom Staat treuhänderisch vor fremden Zugriffen geschützt werden, denn sie sind als sein Guthaben anzusehen, mit dem er als berechtigter Teilhaber eines Solidarsystems für sich und seine Familie bei Krankheit und im Alter einen Anspruch auf Hilfe und Sicherheit erwirbt. Statt dessen bedient der Staat damit auch fremde Füllhörner. Wenn jetzt Gesundheitsleistungen nicht mehr nach medizinischer Indikation, sondern nach Kassenlage gewährt werden, dann handelt es sich um eine fraktionierte Enteignung des Versicherten.

Es gehörte zu den Eckpfeilern der sozialen Marktwirtschaft, als seinerzeit mit der Schaffung des Arbeitgeberanteils an der Sozialversicherung die Betriebe in die Verantwortung für ihre Arbeitnehmer einbezogen wurden. Ab 2006 soll der Arbeitnehmer das Krankengeld allein zahlen, der Arbeitgeber ist aus der Verantwortung entlassen. Hier werden unter dem Begriff Gesundheitsreform die Weichen zurück zu einem puren Ökonomismus gestellt. Dabei haben vor allem die Großbetriebe schon andere Leistungen aus dem Sozialsystem erhalten. Sie haben in schamloser Weise durch die Frühverrentungen ihrer Arbeiter ihre Betriebe zu Lasten der Sozialkassen saniert und damit wesentlich zur jetzt angespannten Kassenlage beigetragen. Zum Ausgleich soll es jetzt nach Maßgabe der Rürup-Kommission eine Spätverrentung erst mit 67 Jahren geben. Daß dies ausgerechnet unter einer sozialdemokratischen Regierung geschieht, ist schon bemerkenswert.

Weitere Einsparmöglichkeiten würden sich ergeben, wenn der Patient zu mehr Eigenverantwortung angehalten würde. Das könnte schon in den Schulen mit einer Gesundheitserziehung anfangen, mit dem Ziel, die künftigen Eltern zu kritischen und mündigen Verbrauchern heranzubilden, was nicht nur ein Akt der Krankheitsprophylaxe wäre, sondern auch ein Beitrag zu Hygiene und Lebensqualität: bei immer schwerer zu durchschauenden Konsum- und Genußangeboten der Industrie eine dringende Maßnahme, die zu der Fürsorgepflicht eines Staates gehört. Schließlich praktiziert ein Kettenraucher oder ein Alkoholiker nicht unbedingt Solidarität gegenüber der Gemeinschaft der Versicherten, weil er durch seine Abhängigkeit eine wesentlich höhere Morbidität und eine schlechtere Gesamtprognose hat. Diese Einsicht ist in unserer Anspruchs- und Rundumversorgungs-Gesellschaft nicht unbedingt präsent.

Der Arzt in der Praxis oder im Krankenhaus findet sich heute zunehmend in einem Spannungsfeld. Nicht nur die älteren unter ihnen fühlen sich den immer noch gültigen hippokratischen Prinzipien verpflichtet, wonach der Arzt ohne Ansehen der Person nur im Sinne der Erhaltung des Lebens wirken soll. Dieses altehrwürdige Gelöbnis ist in seiner Neufassung auch heute für junge Ärztinnen und Ärzte bei der Aufnahme in ihre Ärztekammer im Sinne einer Stärkung des ärztlich-ethischen Bewußtseins wirksam. Diese Ethik bringt den Arzt aber in einen Konflikt, wenn er die "Ware Gesundheit" billigst verkaufen soll und das, was er nach seinem Fachwissen im konkreten Fall zur Wiedererlangung der Gesundheit leisten könnte, aus Kostengründen vorenthalten muß.

Es ist aufschlußreich, einen Blick auf die Situation an der Basis zu werfen, in die Arztpraxen, in denen eine schon seit Jahren kontingentierte Medizin an die Menschen herangebracht wird. So gab es bislang Budgets z. B. für sonographische, allergologische oder psychosomatische Leistungen. Wenn diese Budgets ausgeschöpft waren, wurden darüber hinaus notwendige Leistungen nicht mehr vergütet. Das Volumen der zu verordnenden Medikamente war ebenfalls festgelegt. Überstieg dieses Volumen eine bestimmte Höhe, drohte dem Arzt ein Regreß. Auf diese Weise trugen die Ärzte praktisch das Morbiditätsrisiko. Wenn z. B. bei einer Grippewelle mehr Leistungen und Verordnungen notwendig waren, bekam der Arzt für seine Mehrarbeit keineswegs mehr Honorar. Die Leistungsbegrenzung durch festgelegte Kontingente führte dazu, daß mitunter lange vor Quartalsende diese Kontingente aufgebraucht waren. Ob der Arzt weiter arbeitete oder in Urlaub fuhr, kam für ihn ökonomisch auf das gleiche heraus. Daß er in der Regel trotzdem an seinem Platz blieb, wird man schwerlich dadurch erklären können, daß er nur an Gewinnmaximierung interessiert ist.

Seit dem 1. Juli diesen Jahres gibt es wieder ein neues Verteilersystem. Jetzt entscheidet ein individuelles Praxisbudget, das sich aus dem Umsatz der letzten zwei Jahre berechnet, über die Höhe der "Kopfpauschale". Mehrleistungen aufgrund eines größeren Patientenzustroms oder erworbener Zusatzqualifikation bleiben unberücksichtigt. Dabei wäre doch ein praktischer Arzt zu loben, wenn er, ausgehend von dem täglich in seiner Praxis erlebten Bedarf, eine Zusatzqualifikation zum Beispiel in den Bereichen Psychosomatik oder Psychotherapie erwirbt, um seinen Patienten besser helfen zu können. Statt dessen wird dieser Arzt bestraft.

In unserer Gesellschaft arbeitet keine andere Berufsgruppe unter solchen Bedingungen. So nimmt es nicht Wunder, wenn heute in vielen Praxen Resignation, Frust und Apathie herrschen. Dies ist eine bedrückende Situation, ein Zustand, der per se für einen heilenden Beruf bedenklich ist, denn er erfordert Menschen, die motiviert sind und dem Patienten mit Empathie begegnen. Wenn das Wort "Reform" impliziert, daß etwas verbessert werden soll, so wäre hier einiges zu tun. Die Stimmungslage läßt sich nicht in Zahlen quantifizieren.

Was die Kassenärztlichen Vereinigungen betrifft, so versuchen sie sich schon seit vielen Jahren in der Quadratur des Kreises, indem sie in Ausübung ihrer Selbstverwaltung mit immer neuen Honorarverteilungs-Maßnahmen den Mangel gerecht zu verteilen suchen. Ein Bemühen, das nicht gelingen kann und bei dem sie Gefahr laufen, zum Büttel der Krankenkassen zu werden. Viele Ärzte haben sich enttäuscht und verbittert von ihrer Berufsorganisation abgewandt, der sie nur noch per Pflichtmitgliedschaft angehören.

Aus dem bisher Beschriebenen wird deutlich, daß einiges, das unter dem Begriff "Reform" daherkommt, eigentlich einen Wertewandel einleitet. In einigen Ländern ist diese Entwicklung schon weiter fortgeschritten. So gab es in Großbritannien vor einigen Jahren ein Aufbegehren, als Patienten über sechzig keinen Anspruch auf eine Nierendialyse mehr haben sollten. Jetzt scheint diese Regelung nach öffentlichem Protest wieder gelockert zu sein. Die Wartezeiten für lebensrettende Herzoperationen sind aber so lang, daß viele Patienten vorher sterben. In Australien und Neuseeland gibt es ebenfalls Altersbegrenzungen für gewisse medizinische Leistungen. In den Niederlanden beträgt die Wartezeit für eine Hüftprothese mehrere Jahre, das sind Jahre der Immobilität und der Schmerzen. So kommen jetzt viele ältere Menschen aus Holland zu uns, um endlich von ihren Schmerzen befreit zu werden. In unseren regierungsnahen Verlautbarungen wird aber gerade jetzt das holländische Gesundheitssystem ob seiner günstigen Kosten-Nutzen-Relation als vorbildlich dargestellt.

Wenn zahlungskräftige "Gesundheitstouristen" Zugang zu medizinischen Leistungen finden, die normalen Kassenpatienten nicht zur Verfügung stehen, dann bedeutet das eine Zweiklassenmedizin mit allen Konsequenzen für Lebensqualität und Lebenserwartung. Es gibt sie auch schon bei uns. Wenn wir jetzt im Zuge der Gesundheitsreform den Leistungskatalog der Krankenkassen ausdünnen, so gehen wir auf diesem Weg weiter.

Eine ökonomisch notwendige Leistungsbegrenzung darf aber nur linear gleichmäßig auf alle Altersgruppen verteilt werden. Hier ist ein klarer Standpunkt notwendig: Wer älteren Menschen eine Nierendialyse vorenthält, verändert in direkter Konsequenz ihre Lebenserwartung, was bereits eine Spielart der Euthanasie wäre. Oder sollten wir es besser ein sozial verträgliches Frühableben nennen? Es ist erstaunlich, wie schwach unsere Immunitäts-lage gegenüber solchen Ungeheuerlichkeiten ist, die in einigen Ländern schon Praxis sind. Aber sind wir als Mitglieder einer Gesellschaft, in der ein reines Nützlichkeitsdenken längst alle Lebensbereiche erobert hat, nicht schon längst in diese Richtung konditioniert worden? Der australische Philosoph Peter Singer (Wie sollen wir leben?, dtv; Praktische Ethik, Reclam) ist einer der Propheten dieser neuen Ethik. Er durchdenkt viele Phänomene eines puren Utilitarismus in unserer Zeit und bietet Rechtfertigungen an.

Doch die Enkel brauchen ihre Großeltern; nicht nur als Einhüter! Diese können ihren Enkeln Werte vermitteln, deren Vermittlung der Elterngeneration in ihrer mehr extrovertierten Aufbauphase ihres Lebens schwerer fällt. Nicht von ungefähr gibt es in allen menschlichen Kulturen das archetypische Bild der weisen Alten, des gütigen alten Mannes. Sie dürfen nicht entsorgt werden. Das Erleben von Güte, Geduld und Gelassenheit, die andere Gewichtung von Sinnfragen des Lebens sind unschätzbare Güter und heute wichtiger denn je. Sie bürgen für einen Werte-Kanon, für Bewahren, und runden das Menschenbild erst ab, das den kleinen Köpfen vermittelt wird. Was wird in diesen kleinen Köpfen nicht alles angelegt, wenn sie auf dem Schoß der Oma sitzen und ein Fotoalbum ansehen: "Oma, erzähl von früher"!

Die Art, wie wir mit unseren Alten und Kranken umgehen, wird ein besonders hartes Kriterium in der Frage sein, welchen Stellenwert Ethik und Humanität bei uns noch haben. Widerstand ist also angesagt.

 

Dr. med. Horst A. Hoffmann ist Kinderarzt und zur Zeit als Psychotherapeut in eigener Praxis tätig.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen