© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/03 10. Oktober 2003 |
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Neue Technologien: Morphium in der Palliativmedizin Unmerklicher Übergang in einen sanften Tod Angelika Willig Deutschland wird immer mehr zum Entwicklungsland. Dazu braucht es sich gar nicht zu verändern. Es genügt, wenn andere es tun, zum Beispiel Dänemark. Dieses kleine unscheinbare Land hat europaweit den höchsten Verbrauch an Morphium pro Einwohner. Das aus Schlafmohn gewonnene Mittel wird seit einigen Jahren wieder fleißig in der Schmerzbehandlung genutzt. Der Morphiumverbrauch ist daher in den Augen von Palliativmedizinern ein Maßstab, wie gut es Patienten im Finalzustand geht. Davon gibt es in Deutschland schätzungsweise 300.000. Für diese wird bei uns nur eine vergleichsweise geringe Menge Morphium angefordert, denn nach dem deutschen Betäubungsmittelgesetz darf auch der Arzt darüber nicht frei verfügen, sondern muß sich für jeden einzelnen Fall rechtfertigen. Dafür glaubte man gute Gründe zu haben. Vor allem der Mißbrauch durch den Arzt selbst sollte verhindert werden, weiter eine leichtfertige Gewöhnung des Patienten, der nach seiner körperlichen Genesung mit einer Suchterkrankung entlassen würde. Ein drittes Risiko bei der Morphiumbehandlung hatte man früher weniger bedacht, es ist aber gerade in diesen Tagen wieder einmal aktuell geworden. In der renommierten Paracelsus-Klinik in Hannover soll eine Krebsärztin über 70 moribunde Patienten so ausgiebig mit Morphium behandelt haben, daß sie daran starben. Wohlgemerkt, keine gezielte Tötung, das wird der 53jährigen Medizinerin gar nicht unterstellt, sondern die Inkaufnahme der Lebensverkürzung beim ernsthaften Versuch, die Lebensqualität von Schwerstkranken zu erhöhen - wenn man in dem Zustand noch von Qualität sprechen kann. Es stehen sich bei dem Fall zwei medizinische Grundauffassungen gegenüber. Die neuere Schule der Palliativ-, das heißt Abschirmungsmedizin und auch die Hospizbewegung neigen eher dazu, ab einem bestimmten Zeitpunkt das Sterben zu akzeptieren und möglichst zu erleichtern (nicht willkürlich zu beschleunigen!), während die Gegenseite auf der traditionellen Aufgabe der Medizin besteht, in jedem Fall Leben zu retten und zu erhalten. Hier befindet sich die deutsche Gesetzgebung und Rechtsprechung. Die Kontroverse würde vermieden, wenn es ein Medikament gäbe, das Schmerz optimal bekämpft, aber keinerlei Tötungspotential birgt. Leider gibt es das nicht. Selbst die synthetisch hergestellten "Opioide" - in der Wirkung ähnliche, aber anders aufgebaute Ersatzdrogen - helfen nicht so wirksam wie das gute alte Morphium. Es kann also sein, daß die Ärztin aus Hannover die Klagen ihrer Patienten durch nichts mehr zu besänftigen wußte als durch immer höhere Dosen des wohltuenden Giftes. Andererseits können Dosierungsfehler eine Ausrede sein, wenn es um aktive Sterbehilfe geht. Die Untersuchung kann beginnen. Als erstes werden jetzt die Leichen exhumiert. Die moderne Kriminalistik hat Methoden, da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich. |