© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/03 10. Oktober 2003 |
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Ignoranz des Westens Der Kolonialismus nach 1918 reizt Muslime bis heute Tilman Nagel Ist die arabische Welt wütend? Oder sind, wie der Untertitel nahelegt, die Muslime insgesamt gemeint? Jedenfalls sehen sie die Verheißung scheitern, unter der - nach ihrem Selbstverständnis und nach ihrer von ihnen niemals kritisch hinterfragten Heilsgewißheit - ihre Geschichte steht: "Ihr seid die beste Gemeinschaft, die für die Menschen hervorgebracht wurde. Ihr gebietet, was recht ist, verbietet, was unrecht ist, und glaubt an Gott. Wenn die Leute der Schrift (d.h. die Juden und die Christen) auch glaubten, wäre es besser für sie ..." (Sure 3, 110). Diesen Koranvers, den bekanntesten unter etlichen gleichen Inhalts, hören sie von klein auf unzählige Male - aber mit der Wirklichkeit der arabischen bzw. islamischen Welt hat er wenig gemein. Im Kapitel "Das Scheitern der Modernisierung" kommt der mittlerweile 87jährige Altmeister der Islamwissenschaft und bis 1986 als Professor für Nahost-Studien an der Universität Princeton tätige Bernard Lewis auf die düsteren Fakten zu sprechen: Die Statistiken internationaler Organisationen zeichnen ein niederschmetterndes Bild von der Wirtschaftsleistung der islamischen Welt, von ihrem vernachlässigenswerten Anteil am wissenschaftlichen Erkenntniszuwachs der Menschheit, vom eklatanten Mangel an politischer und unternehmerischer Freiheit. Zwei Wege, mit diesem beklemmenden Widerspruch zwischen koranischer Zusage - dem Muslim ist der Koran Gottes authentisches Wort und daher unbezweifelbar wahr und real - und Wirklichkeit fertig zu werden, zeichnet das Buch nach. Der erste, scheinbar harmlose, ist der verklärende Blick in die Vergangenheit: Haben die Muslime nicht einst zahlreiche Länder erobert und dem Glauben des Propheten unterworfen? Haben sie nicht den Dschihad in das "Haus des Krieges", die Länder der Andersgläubigen, vorangetragen? Sich dessen zu erinnern, mag die trostreiche Einsicht fördern, daß die Andersgläubigen, die seit dem 18. Jahrhundert in der islamischen Welt Fuß faßten, nicht unbezwingbar sind. Solche Einsicht hätte zur nüchternen Analyse der eigenen Geschichte führen können, zu der schlichten Frage: "Was haben wir falsch gemacht, und was machen wir falsch?" Eine solche Diskussion ist aber gerade nicht in Gang gekommen; sie wird vielmehr ängstlich vermieden. Die wesentliche Rolle bei der fast schon tragisch zu nennenden muslimischen Realitätsverweigerung spielen die Ulama, die Sachwalter des Korans und seiner Auslegung sowie der normsetzenden Überlieferung vom Handeln und Reden Mohammeds. Für die Ulama erklären sich das Ausbleiben der den Muslimen gegebenen koranischen Zusagen und der Triumph der als jüdisch-christlich wahrgenommenen westlichen Zivilisation aus der unzureichenden Beachtung des Islams durch die muslimische Gesellschaft, allen voran durch die Machthaber. Die Anziehungskraft Saudi-Arabiens liegt eben darin, daß sich dort seit dem 18. Jahrhundert eine strenge, die Glaubensbrüder zensierende islamische Observanz mit erfolgreicher Machtpolitik verbindet. Der zweite Weg kommt ohne ausdrückliche Berufung auf die Vergangenheit aus. Wer ihn beschreitet, betrachtet die Aussage von Sure 3, Vers 110 als eine hier und jetzt gegebene Tatsache. Nur scheinbar geht jene Verheißung ins Leere; bei genauem Hinsehen müsse man feststellen, daß sie seit den Tagen Mohammeds in Kraft ist und sich nach wie vor machtvoll zur Geltung bringt. Haben nicht die Muslime den Kalten Krieg gewonnen, indem sie von Afghanistan aus die Sowjetunion zum Einsturz brachten? Sind sie nicht dabei, Europa allmählich ihrer Herrschaft zu unterwerfen, die USA in die Knie zu zwingen? Was den ominösen Osama bin Laden und seine Kämpfer antreibt, ist keineswegs die Verzweiflung von Underdogs, sondern die unerschütterliche Gewißheit der Triumphierenden; Lewis belegt dies durch eindrucksvolle Zitate. Daß der Westler die Dinge anders sieht und auf die für die islamische Welt desaströsen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fakten verweist, interessiert sie nicht. Denn die Sieger nehmen sich bei den Andersgläubigen, was sie brauchen; die Scharia hält dementsprechende Regelungen bereit. Das Gedankengut beider Wege, das hier zur Verdeutlichung getrennt skizziert wurde, überlagert sich in der Wirklichkeit auf vielfältige Weise. Lewis schildert es unter Rückgang auf die geschichtlichen Wurzeln und erschließt dem Leser so "Die Krise des Islams" - dies der Titel der amerikanischen Originalausgabe. Die hiesige politische Korrektheit, die es verbietet, die Religion des Islams mit ihren erschreckenden politischen Erscheinungsformen in Zusammenhang zu bringen, scheint den Verlag zum irreführenden deutschen Titel verleitet zu haben. Gerade die Sachwalter dieser - westlicher - Realitätsverweigerung sollten das bemerkenswerte, nüchtern geschriebene Buch des Nestors der amerikanischen Islamwissenschaft sorgfältig durchlesen. Aktuelle Anschauung für solche westliche Blindheit biete der Irak. Freie Wahlen sollen dort möglichst bald eine parlamentarische Demokratie begründen. Doch nicht am Beginn, sondern erst am Ende eines schwierigen Entwicklungsprozesses des Islams könnten freie Wahlen stehen, warnt Lewis. Denn bis heute sehen Islamisten in der Demokratie "den geebneten Weg zur Macht". In ihren Augen sei dieser Weg eine Einbahnstraße, auf der es nicht mehr vorgesehen sei, "die durch seine gewählten Stellvertreter ausgeübte Souveränität Gottes zurückzuweisen. Die Wahlpolitik der Islamisten wurde einmal treffned so auf den Punkt gebracht: 'Ein Mann (nur Männer), eine Stimme, einmal.'" Bernard Lewis: Die Wut der arabischen Welt. Warum der Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen weiter eskaliert. Campus Verlag, Frankfurt 2003, 192 Seiten, gebunden, 19,90 Euro Prof. Dr. Tilman Nagel lehrt seit 1981 Arabistik an der Universität Göttingen. Er publizierte unter anderem über "Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam" (1982) und über die "Geschichte der islamischen Theologie" (1994). |