© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/03 10. Oktober 2003

 
Nicht so schlimm wie bei Lukaschenko
Martina Helmerich sieht die Ukraine ungerüstet für eine nahe Zukunft in der Europäischen Union - aus ähnlichen Gründen wie beim weißrussischen Nachbarn
Tatjana Montik

Die langjährige Herrschaft des Totalitarismus hat in den Ländern des ehemaligen Ostblocks zum Teil verheerende Folgen hinterlassen. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums haben beim Aufbau der freien demokratischen Gesellschaft in der Regel diejenigen ehemaligen Teilrepubliken der Sowjetunion den kürzeren gezogen, die in ihrer geschichtlichen Entwicklung kaum demokratische Traditionen aufzuweisen hatten.

Dazu zählt unter anderem die Ukraine, ein osteuropäisches Land, das bereits im kommenden Jahr an der Ostflanke der Europäischen Union liegen wird. Die EU-Osterweiterung sorgt nicht zuletzt dafür, daß der Ukraine im Lichte der europäischen Integrationsprozesse in letzter Zeit immer mehr Bedeutung beigemessen wird. Eine der wichtigen Fragen dabei lautet: Wie verläuft die Anpassung der politischen Strukturen dieses Landes an die westlichen Standards der Demokratie und des Parlamentarismus, die sich die Führung der unabhängig gewordenen Republik Ukraine 1991 auf ihre Fahnen geschrieben hat?

Auf diese und viele andere Fragen gibt Martina Helmerichs Dissertation "Die Ukraine zwischen Autokratie und Demokratie. Politische Institutionen und Akteure" Antwort.

Das Buch basiert auf sorgfältigen Recherchen in Primär- und Sekundärquellen zum Thema "Demokratische Transformationsprozesse in Osteuropa". Belege für ihre Arbeit sammelte die Autorin während ihrer journalistischen Tätigkeit sowie ihren Studienaufenthalten in der Ukraine, darunter auch als OSZE-Beobachterin bei der Präsidentschaftswahl im Jahre 1999. Durch ihre Tätigkeit in der Ukraine konnte sie zahlreiche Kontakte zu führenden Persönlichkeiten der ukrainischen Politik-, Medien- und Wissenschaftslandschaft herstellen und somit ihr Werk auf exklusiven Informationen aufbauen.

Helmerich gibt ein objektives Bild der Kulisse, hinter der die Transformationsprozesse in der Ukraine ablaufen. Dieses Land tut sich dabei im Vergleich zu anderen Staaten Osteuropas wesentlich schwerer. Einer der Gründe hierfür ist nach Helmerich die Tatsache, daß sich während der relativ kurzen Periode der Perestrojka unter Michail Gorbatschow in den Teilrepubliken der Sowjetunion keine selbstbewußte Zivilgesellschaft herausbilden konnte.

Als im Jahre 1991 nach dem mißlungenen Putschversuch der Altkommunisten das sowjetische Reich wie ein Kartenhaus zerfallen war, fühlten sich einerseits viele Ukrainer motiviert, an der Neugestaltung ihres Staates tatkräftig zu arbeiten.

Die Unabhängigkeit der Ukraine mußte andererseits nicht wie in den sonstigen Ländern des Ostblocks erkämpft werden. Ganz im Gegenteil: Den meisten Menschen widerfuhr sie ganz plötzlich, und sie stellte sich im nachhinein als Versuch der alten Sowjet-Eliten heraus, ihre eigene Macht durch pseudodemokratische Parolen und gewisse wirtschaftliche Reformen zu erhalten. Das Agieren der politischen Akteure in der Ukraine wird seit 1991 größtenteils durch das Streben nach eigennütziger Bereicherung motiviert.

Die Mehrheit der "Durchschnittsukrainer" zog sich dabei, bedingt durch die eigene schwere wirtschaftliche Situation, Ungewißheit und Perspektivlosigkeit, ins Private zurück. Gegenüber den Veränderungen in ihrem über Nacht unabhängig gewordenen Staat zeigen sie sich eher mißtrauisch. Eine von den Lastern der alten Zeiten freie und konsolidierte Oppositionsbewegung wie in Tschechien, Ungarn oder Polen hat sich in der Ukraine nie wirklich entwickeln können.

Die Organisation des politischen Lebens in den Parteien läßt sich zum heutigen Zeitpunkt als mißlungen bezeichnen: Laut soziologischen Erhebungen beteiligen sich nur zwei Prozent der ukrainischen Bevölkerung an der Parteiarbeit, und nur zwanzig Prozent der Wähler sind bereit, bei den Wahlen irgendeine politische Partei zu unterstützen. Das Ausmaß der Politikverdrossenheit ist gravierend.

Helmerich versucht, anhand der jüngsten Geschichte des ukrainischen Staates zu begründen, warum auf dem Weg zu einer modernen pluralistischen Gesellschaft bisher noch keine Erfolge erzielt wurden bzw. warum das wenige Erreichte auf diesem Gebiet wieder rückgängig gemacht worden ist.

Ein sorgfältig recherchiertes Kapitel wird der sogenannten Gongadse-Affäre gewidmet, die in der Ukraine zur größten innenpolitischen Krise seit 1991 führte. Der systemkritische Journalist Georgij Gongadse wurde angeblich im Auftrag des Präsidenten Leonid Kutschma ermordet. Mit Hilfe des "Falls Gongadse" entlarvt Helmerich antidemokratische Praktiken des ukrainischen Polit-Establishments und stellt somit den gesamten Demokratisierungsprozeß in der Ukraine in Frage. Weitere Problembereiche der ukrainischen Innenpolitik werden beleuchtet: der verspätete Verfassungsgebungsprozeß, der bis heute fortdauernde Krieg zwischen Exekutive und Legislative sowie die autoritäre Wende des Präsidenten Leonid Kutschma. Behandelt werden ebenfalls die unzureichende Entwicklung der oppositionellen Bewegungen, der Klientelismus und die wirtschaftspolitische Macht der ukrainischen Oligarchen und Regionalbarone.

Vor den Parlamentswahlen im Jahre 2004 haben sich viele führende Politiker der Ukraine das Ziel auf die Fahnen geschrieben, in absehbarer Zeit die EU-Mitgliedschaft zu erlangen. Helmerich gibt in ihrem Buch eine eindeutige Wertung: Die Ukraine ist auf die Integration in die europäischen Strukturen nicht vorbereitet, denn die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung, der Prozeß der Demokratisierung sowie die Entwicklung einer selbstbewußten Zivilgesellschaft stecken im modernen ukrainischen Staat noch in den Kinderschuhen.

Martina Helmerich: Die Ukraine zwischen Autokratie und Demokratie. Institutionen und Akteure. Duncker & Humblot, Berlin 2003, 251 Seiten, kartoniert, 74,80 Euro