© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de 44/03 24. Oktober 2003
 


Das Faß ohne Boden
EU-Parlament: Kompetenzlos, überversorgt und Endlagerstätte für abgehalfterte Politiker
Bernd-Thomas Ramb

Der alte Kalauer "Hast du einen Opa, schick in nach Europa" läßt sich nicht umgehen. Zu offensichtlich und zu häufig befolgen die etablierten Parteien seit vielen Jahren diese Maxime bei der Auswahl ihrer Kandidaten für die Europawahl oder die ihnen zugeschanzten Posten in den EU-Kommissionen. Durch Abschieben nach Straßburg oder Brüssel ließ und läßt sich manch unbequem gewordener Parteigenosse fern von der heimischen Politik auf das kommode Altenteil schicken. Ex-FDP-Chef Martin Bangemann, die ehemalige ÖTV-Vorsitzende Monika Wulff-Mathies und der erfolglose Reformkommunist Hans Modrow bieten besonders prominente Beispiele aus Gegenwart und Vergangenheit.

Auch bei der kommenden EU-Parlamentswahl 2004 werden die Beseitigungsbemühungen sichtbar. So soll die amtsmüde und farblose Grünen-Parteichefin Angelika Beer einen sicheren Listenplatz erhalten. Um die Futterplätze rangeln sich zudem die niedersächsische Fraktionsvorsitzende Rebecca Harms, der nicht mehr von den französischen Grünen ins EU-Parlament entsandte Daniel Cohn-Bendit und der abgehalfterte Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir. Der Erfolg dieser Entsorgungsstrategie ist allerdings nicht gewährleistet. Von den sieben Abgeordneten, die bei der Europawahl 1999 von den deutschen Grünen entsandt wurden, haben mittlerweile drei die Partei verlassen.

Der Streit um die Posten rentiert sich allemal. Ab dem nächsten Jahr erhalten die EU-Abgeordneten ein einheitliches monatliches Grundgehalt von 8.500 Euro, zuzüglich Spesen und Sonderzulagen. Eine Alterspension wird ab dem 60. Lebensjahr gewährt, nach einmaliger fünfjähriger Parlamentsmitgliedschaft 1.750 Euro und nach 20 Jahren EU-Parlament die Spitzenrente von rund 6.000 Euro. Das ist das Siebenfache der deutschen Durchschnittsrente. Auch die internationalen Vergleiche erschrecken. Die Grundvergütung wird den Europaparlamentariern ohne Ansehen der nationalen Herkunft gewährt. Für den künftigen polnischen EU-Parlamentarier bedeutet ein Monateinkommen von 8.500 Euro beispielsweise das 36fache Überschreiten der Armutsgrenze seines Landes. Ähnliches gilt für die anderen neuen Mitgliedstaaten des EU-Parlaments, ausgenommen Bulgarien und Rumänien. Diese Länder sind trotz ihres Beitritts zur Europäischen Union auch künftig nicht im Europaparlament vertreten.

Bei einer derart lukrativen Entlohnung ist der Drang nach einem EU-Parlamentssitz somit international verständlich. Die national differenzierte Rechtfertigung des Höchsteinkommens wird jedoch konsequent in den Hintergrund gedrängt. Eher wird - zumindest außerhalb Deutschlands - die Bemessung der Anzahl der Parlamentssitze diskutiert. Wieder auf das Beispiel Polen bezogen beschränkt das Europaparlament die polnische Vertretung auf 54 der 732 Abgeordneten. Mit dem Bevölkerungsanteil Polens an der Gesamtbevölkerung der Europäischen Union hat das allerdings wenig gemein. Der beträgt nämlich 8,6 Prozent, während der Anteil der polnischen Parlamentssitze nur bei 7,4 Prozent liegt. Ursache ist die prinzipielle Benachteiligung großer Mitgliedstaaten bei der Festlegung ihrer Parlamentarierzahl. Und Polen zählt zu den größeren Ländern.

Deutschland als bevölkerungsreichstes Mitgliedsland der EU ist und bleibt dabei am stärksten demokratisch benachteiligt. Mit seinen nach wie vor 99 EU-Parlamentariern verringert sich nach der Erweiterung des Parlaments die Vertretungsquote von 15,8 auf 13,5 Prozent. Es sinkt zwar auch der Bevölkerungsanteil der Deutschen an den nunmehr 450 Millionen im EU-Parlament vertretenen Europäern, der Prozentsatz liegt jedoch mit 18,5 Prozent immer noch deutlich höher als die Parlamentsquote von 13,5 Prozent. Den nächstgrößeren Staaten Frankreich, Großbritannien und Italien ergeht es ähnlich, wenn auch besser als den Deutschen. Die elementaren Gesetze der Demokratie "Alle Menschen sind gleich" und vor allem "One Man - One Vote" bleiben im Europaparlament weiterhin außer Kraft gesetzt.

In Anbetracht der Neudiskussion des deutschen Föderalismus ist es keinesfalls müßig, einmal durchzurechnen, wie sich eine direkte Vertretung der einzelnen Bundesländer im Europaparlament auswirken würde. Immerhin ist Nordrhein-Westfalen bevölkerungsreicher als die Niederlande. Bayern hat mehr Einwohner als Griechenland und Baden-Württemberg mehr als Tschechien, Belgien, Ungarn, Portugal, Schweden oder Österreich. Selbst das kleinste Bundesland Bremen übertrifft die Einwohnerzahlen von Luxemburg und Malta. Wären die deutschen Länder mit der entsprechenden Zahl an Parlamentssitzen ausgestattet, müßte das EU-Parlament auf 841 Sitze erweitert werden. Die Parlamentarier deutscher Länder verfügten dann allerdings mit 208 Sitzen über fast ein Viertel der Stimmen.

Schon aus der Sicht der erweiterten Möglichkeiten, verdiente Parteifreunde zu versorgen, ist kaum zu begreifen, warum die Berliner Politiker noch nicht auf diese Idee gekommen sind. Noch dringlicher aber wird die Überlegung zu einer verbesserten Vertretung Deutschlands, wenn der Blick auf die geplante Machtausweitung des EU-Parlaments fällt. Bislang galt Straßburg eher als Selbstbeschäftigungstherapie für kaltgestellte Parlamentarier. Zu gering bemessen war der Einfluß auf die europäische Politik und speziell die EU-Kommission, und noch weniger ausgeprägt offenbarte sich die praktische Durchsetzung der Beschlüsse. Mit der häufig fruchtlosen Weigerung, der EU-Kommission die jährliche Entlastung zu erteilen, übertraf die Parlamentsohnmacht sogar noch die des Europäischen Rechnungshofes bei seinen wiederholten Abmahnungen Brüsseler Verschwendungssucht.

Wenn nun insbesondere mit der Verabschiedung einer Europäischen Verfassung das EU-Parlament mehr und vor allem gesetzgeberische Gewalt erlangt, sollten in Deutschland die Alarmglocken auf Dauerton gestellt werden. Das EU-Parlament wird zweifellos die Gelegenheit zur Gesetzgebung nutzen, und die Folgen sind absehbar: mehr Gesetze für die Bürger, Widersprüche zu nationalen Gesetzgebungen und Ab- bis Auflösung nationaler Gesetzgebungskompetenzen. Das alles bei einer undemokratischen Besetzung einer "Volksvertretung", deren "Volk" im staatsrechtlichen Sinne nicht existiert. Das EU-Parlament in dieser nationalstaatskritischen Situation dann auch noch mit "Sozialfällen" zu besetzen, die als ungeeignet für die Gestaltung der nationalen Politik ausgemustert wurden, würde die Europa-Torheit der deutschen Politiker endgültig auf die Spitze treiben.


 
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