© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de 44/03 24. Oktober 2003
 


Didaktisch dialektisch
Kino: Mit "Dogville" ist Lars von Trier sein bisher irritierendster Film gelungen
Werner Olles

Ein spartanisches Bühnenbild, mit Kreide auf den Boden gezeichnete Häuser, die alle in der einzigen Straße des Ortes, der Elm Street, stehen. Nachts ist die Bühnenrückwand schwarz, tagsüber weiß, aber dies sind auch schon die einzigen Zugeständnisse, die der Regisseur Lars von Trier ("Breaking the Waves", "Dancer in the Dark") an die Sehgewohnheiten der Zuschauer macht.

"Dogville" ist großes Theater, jedoch von der Art, wie es auf unseren Bühnen schon seit Jahrzehnten nicht mehr gespielt wird. Ob er im gemeinhin hektischen Betrieb des Kinogeschäfts untergehen oder kommerziellen Erfolg haben wird, muß man abwarten. Daß "Dogville" auf den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes keine Auszeichnung bekam, lag jedoch ganz allein daran, daß die Jury von Trier nicht schon wieder mit einem Preis ehren wollte. Allerdings soll der ebenfalls mit Kreide auf den Boden skizzierte Dorfhund Moses inoffiziell die "Palme Dog" für die beste Hundedarstellung erhalten haben.

Wenn das Licht angeht, sieht man - genau wie oben beschrieben - aus der Vogelperspektive die kleine, isoliert gelegene Berggemeinde Dogville in den Rocky Mountains. Eine halbverfallene Mine zeugt davon, daß hier früher einmal - ohne großen Erfolg, so scheint es die Armut der Dörfler auszudrücken - nach Silber geschürft wurde.

In dieses elende Nest platzt eines Tages die schöne Grace (Nicole Kidman), die auf der Flucht vor einer Gangsterbande ist. Tom (Paul Bettany), ein junger Möchtegern-Schriftsteller, versteckt sie vor ihren Häschern und plädiert bei einem Gemeindetreffen dafür, ihr zu gestatten, in Dogville zu bleiben. Und Grace macht sich aus Dankbarkeit nützlich. Die Ladenbesitzerin Ma Ginger (Lauren Bacall) erlaubt ihr, sich um ihre Stachelbeerbüsche zu kümmern, dem blinden Jack McKay (Ben Gazarra) geht sie zur Hand, und auch die anderen Einwohner profitieren von ihrer ruhigen, liebenswerten Art. Nach einer zweiwöchigen Probezeit entlohnt man sie sogar für ihre Tätigkeiten, und Grace ist überglücklich, zumal sich zwischen ihr und Tom zarte Liebesbande zu entwickeln beginnen.

Als eines Tages der Sheriff nach Dogville kommt und ein Fahndungsplakat mit ihrem Konterfei aufhängt, auf dem sie des Bankraubs beschuldigt wird, ändert sich die Situation urplötzlich. Grace muß nun erfahren, daß Gastfreundschaft und Güte in Dogville relative Begriffe sind. Man läßt sie nun von morgens bis abends schuften, ohne Entgelt versteht sich, schikaniert die junge Frau nach Kräften, und die Männer des Ortes nehmen sich zunehmend größere Frechheiten heraus. Der blinde Jack grabscht jetzt schon einmal ein bißchen, und Chuck (Stellan Skarsgard) vergewaltigt sie schließlich im Garten hinter seinem Haus. Als die Erniedrigungen immer schlimmer werden, überredet Grace den Lastwagenfahrer Ben (Zeljko Ivanek), sie heimlich aus dem Ort zu bringen. Doch statt ihr die Flucht zu ermöglichen, die sie mit ihren Ersparnissen bezahlte, vergeht er sich an ihr und bringt sie dann nach Dogville zurück.

Die guten Menschen von Dogville greifen nun zu drastischeren Maßnahmen. Um ihre Flucht zu verhindern, muß Grace das mit einer Glocke versehene Halsband des Dorfhundes Moses tragen und eine schwere Kutschenfelge hinter sich herziehen. Nachts kommen abwechselnd alle Männer von Dogville zu ihr, bis Tom schließlich einen Anruf macht. Bald darauf nähern sich mehrere Autos der Stadt ...

"Dogville", in neun Kapitel und einen Prolog aufgeteilt und drei Stunden lang, ist episches Theater, wie man es von Brecht kennt. Und es ist zweifellos von Triers bisher irritierendster Film, gerade weil er sich in einer so asketisch-schlichten und sehr bestimmten Abwendung von allen gewohnten Haltungen am Ende gegen jeglichen Kompromiß einsetzt.

Ein weiteres Mal setzt der Anti-Cineast von Trier hier gegen den üblichen aktuellen Bilder-Informations- und Gefühlsverbrauch kultisch Bilder des Nichtvergessens, des Widerstands gegen Demütigung und Erniedrigung. Mit "Dogville" hat er nicht nur einen seiner persönlichsten und kompromißlosesten Filme gedreht, in dem sich viele der aus seinen Filmen bekannten Motive - um eine Spur dem Absoluten nähergebracht - wiederfinden, als besonders ausgeprägt erscheint hier auch seine Methode, das Geschehen aus den Figuren entstehen zu lassen, in einer für ihn typischen Tendenz zur Einheit der Zeit: Immerhin hat er vertraglich zugesichert, "Dogville" notfalls auf 140 Minuten zu kürzen. Dabei richtet sich seine Schwerpunktdramaturgie nach emotionellen Zusammenhängen, nicht nach Handlungsfunktionen. So erfährt man das Wesentliche über Grace in Entwicklungsstationen, auf die untereinander verwiesen wird.

Der Schlußteil des Films gewinnt lange Zeit Spannung aus der Ungewißheit, ob und wie Grace auf die ihr angetane Gewalt und Schmach reagieren wird. Es sei nur soviel verraten, daß von Trier das Verhältnis von Bühne und Zuschauer einmal zerreißt, einmal zusammenfügt. Die Dialektik theatralischer Wirkung erfährt so eine fast schon didaktische Erklärung und zwingt dem Betrachter am Ende, wenn die klaustrophobischen Interieurs mit pathologischer Folgerichtigkeit in einem jähen Blutbad explodieren, eine Entscheidung ab.


 
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