© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de 44/03 24. Oktober 2003
 


Sozialen Umbruch nutzen
von Matthias Seegrün

Die Position der Rechten in den gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen ist deshalb so schwach, weil sie dazu neigt, die Probleme der deutschen Gesellschaft auf die Zuwanderungs- und Staatsangehörigkeitsfrage zu verengen. Eine ganze Reihe anderer Bedrohungen darf darüber jedoch nicht aus dem Blick geraten.

Zunächst wäre hier der immer mehr um sich greifende Individualismus liberaler Provenienz zu nennen, der untrennbar verbunden mit einer alle Lebensbereiche erfassenden Tendenz zu instrumentellem Denken die weitere Atomisierung der Gesellschaft befördert. Die Verheerungen des herrschenden Ökonomismus kommen außer in den ökologischen Problemen des Planeten in den kulturzerstörenden Wirkungen der global auf dem Vormarsch befindlichen kommerzialisierten Massenkultur zum Ausdruck. Entfremdung, Sinnverlust und Entwurzelung sind allenthalben die Folgen. Gegenwärtig tragen insbesondere die auf die informationstechnologische Revolution zurückzuführenden Veränderungen der globalisierten Ökonomie zur Erschütterung der überkommenen Strukturen unserer Industriegesellschaft bei.

Die Rechte scheint jedoch die gegenwärtigen Strukturen und Funktionsweisen unseres Wirtschaftssystems als unabänderliche Gegebenheiten hinzunehmen. Sie hat in weiten Teilen Vorstellungen des Wirtschaftsliberalismus verinnerlicht. Die unvermeidlichen Widersprüche zu ihrer nationalen Orientierung versucht sie mit dem Verweis auf jenseits menschlichen Einflusses liegende vermeintliche Naturgesetzlichkeiten zu rationalisieren.

Selbst in ihrer Ökonomismuskritik, die sich deshalb weitgehend auf bloße Rhetorik beschränkt, bleibt dies spürbar. Hier rächt sich einmal mehr, daß wichtige sozialwissenschaftliche Diskussionen von der Rechten kaum zur Kenntnis genommen werden. Will sie einen Beitrag zur Gesundung unseres Volkes leisten, wird sie nicht um eine kritische Analyse der ökonomisch-sozialen Rahmenbedingungen unserer Existenz herumkommen, die sich auch von undogmatischen Linken inspirieren läßt. Insbesondere wird sie sich über die Tragweite der im Rahmen der Globalisierung sich vollziehenden tiefgreifenden Veränderungen bewußt werden.

Der vor unseren Augen erfolgende Übergang von einer Arbeits- zu einer Wissensökonomie, also einer Ökonomie, in der die menschliche Arbeitskraft gegenüber lebendigem ("Humankapital") und totem (in Computern gespeichertem) Wissen im Produktionsprozeß tendenziell immer mehr an Bedeutung verliert, ist mit einer schweren gesellschaftlichen Krise verbunden. Seit mittlerweile fast dreißig Jahren hat im Zuge des vor allem auf den Einsatz neuer Technologien zurückzuführenden Rückgangs des Erwerbsarbeitsvolumens die strukturelle Massenarbeitslosigkeit ständig zugenommen. Nachdem zunächst fast ausschließlich die industrielle Produktion von Rationalisierungsmaßnahmen betroffen war, ist inzwischen auch der Dienstleistungssektor, auf dessen langfristige Fähigkeit zur Aufnahme sämtlicher freigesetzter Arbeitskräfte spekuliert wurde, in zentralen Bereichen von entsprechenden Entwicklungen erfaßt worden. Die Wachstumsraten, die erforderlich wären, um die Produktivitäts- und Effizienzsteigerungen auszugleichen, werden schon lange nicht mehr erreicht, wären zudem unter ökologischen Gesichtspunkten auch nicht wirklich wünschenswert. Die Tendenz zur Verringerung des Erwerbsarbeitsvolumens dürfte somit letztlich unumkehrbar sein. Angesichts der Konsequenzen dieses Vorgangs wird in den Sozialwissenschaften von der "Krise der Arbeitsgesellschaft" gesprochen.

Diese Systemkrise globalen Ausmaßes wird jedoch in der öffentlichen Wahrnehmung nicht als grundsätzliche Infragestellung der bestehenden Wirtschaft und Gesellschaft verstanden. Viel zu sehr sind die Menschen nach wie vor in arbeitsgesellschaftlichen Denkstrukturen gefangen. Deutlich wird dies in der völlig realitätsfernen Hoffnung, eines Tages wie in der Hochphase der fordistischen Ökonomie (also ungefähr dem Zeitraum von 1950 bis 1975) den Zustand der Vollbeschäftigung wieder erreichen zu können, der unter den damaligen Bedingungen breiten Schichten materiellen Wohlstand brachte und sozial integrierend wirkte.

Diese Zeiten dürften ein für allemal vorbei sein. Bei realistischer Betrachtung muß vielmehr davon ausgegangen werden, daß die gegenwärtige Entwicklung auf die Spaltung und Zerstörung der Gesellschaft hinausläuft. Abhängig von den sozialen Machtstrukturen (erkennbar vor allem an der Ausprägung des Sozialstaates und den Rechten der Arbeitnehmer) kommt die "Krise der Arbeitsgesellschaft" in den einzelnen Ländern allerdings auf sehr unterschiedliche Weise zum Ausdruck. Im internationalen Vergleich könnte so der Eindruck entstehen, als wäre Kontinentaleuropa den Veränderungen weniger gewachsen als beispielsweise die angelsächsische Welt. Jenseits der oberflächlichen Betrachtung zeigt sich jedoch, daß deren angeblich so vorbildliches marktliberales Modell mittel- und langfristig ebensowenig in der Lage sein dürfte, die über bloße Funktionsstörungen weit hinausgehende Krise unserer überkommenen Wirtschaftsordnung zu bewältigen, und bereits heute an Menschenverachtung kaum zu überbieten ist.

Viele hegen noch die realitätsferne Hoffnung, eines Tages den Zustand der Vollbeschäftigung und des allgemeinen Wohlstands in gewohnter Manier wieder zu erreichen. Diese Zeiten dürften endgültig vorbei sein.

Die höhere statistisch ausgewiesene Arbeitslosigkeit, die Deutschland oder beispielsweise auch Frankreich gegenüber den USA oder Großbritannien in einem schlechten Licht erscheinen läßt, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die sich in sämtlichen Industriegesellschaften abzeichnende und von seiten des Kapitals forcierte Auflösung des "Normalarbeitsverhältnisses" (reguläre Vollzeiterwerbstätigkeit), an dessen Stelle zunehmend unsichere, häufig diskontinuierliche Beschäftigungsverhältnisse treten (Zeitarbeit, Leiharbeit, Arbeit auf Abruf, Teilzeitbeschäftigung, geringfügige Beschäftigung usw.), hier lange Zeit wenn nicht verhindert, so doch wenigstens hinausgezögert werden konnte. Die finanziell halbwegs komfortabel abgesicherte Arbeitslosigkeit einer zunächst nur ganz allmählich größer werdenden Minderheit war der Preis, um die sicheren Arbeitsverhältnisse der Mehrheit erhalten zu können. Erst die Verschärfung der Konkurrenz im Rahmen der Globalisierung unter dem Druck der Finanzmärkte brachte das derartig instrumentalisierte, ursprünglich nur zur Abfederung der Folgen konjunktureller Schwankungen konstruierte System der Arbeitslosenversicherung schließlich an die Grenzen seiner Belastbarkeit.

Auch wenn mit Rücksicht auf organisierte Interessen nach wie vor versucht wird, grundsätzlich an diesem Modell festzuhalten, dürfte mittlerweile für fast jedermann erkennbar sein, daß es allein aus finanziellen Gründen auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten sein wird. Das Anwachsen der strukturellen Massenarbeitslosigkeit macht eine Anpassung unumgänglich. Es wäre jedoch ein fataler Trugschluß, sich beispielsweise das amerikanische "Jobwunder" zum Vorbild nehmen zu wollen. Eine weitgehende Liberalisierung des Arbeitsmarktes und ein massiver Abbau der sozialen Sicherungssysteme würde zwar den Staat finanziell entlasten, langfristig jedoch die Zerstörung der Gesellschaft nach sich ziehen. Neue Arbeitsplätze entstehen in diesem Modell nämlich in erster Linie durch eine Erweiterung des Dienstleistungssektors im Bereich niedrigproduktiver und entsprechend schlecht bezahlter persönlicher Dienstleistungen.

Zu den Voraussetzungen der vielbeschworenen Dienstleistungsökonomie angelsächsischer Prägung zählt daher neben einer zunehmenden ökonomischen Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche auch eine immer krassere Ungleichheit in der Einkommensverteilung. Wer in dieser Struktur eine berufliche Stellung ergattert, durch die er zu den finanziell bessergestellten Erwerbstätigen gehört, kann sich zweifellos zu den Leistungsträgern dieser Gesellschaft zählen, wird jedoch nicht selten durch seine Arbeit zeitlich derart in Beschlag genommen, daß er persönliche Dienstleistungen (insbesondere solche im Haushaltsbereich) gerne in Anspruch nimmt. Das Bedürfnis, entsprechende Dienstleistungen nachzufragen, entsteht somit zum Teil aus der Eigendynamik einer solchen sozial polarisierten Gesellschaft, muß aber in vielen Feldern des Sektors (vor allem im Bereich der Kulturindustrien) auch erst geweckt werden. Es entsteht eine radikal durchökonomisierte Gesellschaft, in der der privilegierte Konsum persönlicher Dienstleistungen den prekären Erwerb der ansonsten Überzähligen gewährleisten soll.

In einer derartigen "Dienstbotengesellschaft", wie Kritiker treffend polemisierten, kommt also eine letztlich widersinnige gesellschaftliche Arbeitsteilung zum Ausdruck. In dieser schlägt sich die Tendenz nieder, daß die (wissens)kapitalintensive Produktion von Waren und Dienstleistungen (im Verhältnis zu Produktionsausstoß und Unternehmensgewinnen) in den heutigen Strukturen nicht mehr ausreichend Zahlungsmittel in Umlauf bringt, um das Gesamtsystem (in Hinblick auf eine in angemessenem Verhältnis zum gesellschaftlichen Reichtum stehende Verteilungsgerechtigkeit) dauerhaft stabilisieren zu können.

Der Versuch einer Verschleierung dieser Tatsache findet insofern statt, als in diesem Modell durch Umwandlung sonst vorrangig in Eigenarbeit verrichteter Tätigkeiten in Erwerbsarbeit eine in gewisser Weise künstliche Ausdehnung des Erwerbsarbeitsvolumens vorgenommen wird, durch die die Existenz einer Krise geleugnet und weiterhin suggeriert werden kann, jeder habe eine realistische Chance, sich hochzuarbeiten und zu Wohlstand zu gelangen. Die Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse zeugt jedoch davon, daß die Realität eine andere ist. Für einen wachsenden Personenkreis wird es trotz harter Arbeit immer schwieriger, in den Genuß eines existenzsichernden Einkommens zu kommen, sozial aufzusteigen oder den erreichten Wohlstand zu halten. Synonym hierfür steht das Phänomen der "working poor", in dem nicht zuletzt der Zerfall der Mittelschichten in den USA wie in Großbritannien zum Ausdruck kommt. In momentan noch abgeschwächter Form nähern wir uns auch hierzulande derartigen Verhältnissen an. Deutlich wird dies vor allem an der bereits angesprochenen Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses. Während um 1980 in Deutschland noch gut 80 Prozent der Beschäftigten einer regulären Vollzeiterwerbstätigkeit nachgingen, sind es gegenwärtig nur noch rund die Hälfte. Der Verdrängungswettbewerb verschärft sich, die soziale Fragmentierung ist in vollem Gange.

Die Bewahrung von Volk und Heimat wäre unter diesen Voraussetzungen unmöglich, der Kampf für die Wiederverwurzelung des Menschen wohl ein für allemal verloren. Gerade aus einer nationalen Perspektive müßte einer solchen Entwicklung also konsequent entgegengetreten werden. Bislang ist leider eher das Gegenteil der Fall. Forderungen nach Sozialabbau und "mehr Eigenverantwortung" bestimmen das Bild. Was auf den ersten Blick vielen vernünftig erscheint, erweist sich jedoch unter den heutigen Bedingungen, denen in keiner Weise Rechnung getragen wird, als blanker Zynismus.

Die Bewahrung von Heimat und Tradition setzt bestimmte wirtschaftliche Bedingungen voraus. Daher dürfen Rechte die soziale Frage auf keinen Fall ignorieren oder als zweitrangig einstufen.

Will die Rechte nicht zerstören, was sie eigentlich verteidigen will, wird sie andere Wege beschreiten müssen. Als Grundvoraussetzung jeder Erneuerung hat im Zentrum ihrer Bemühungen die Erhaltung bzw. Wiederherstellung eines solidarischen Gemeinwesens zu stehen. Es gilt, eine eigene Konzeption jenseits überkommener (neo)liberaler wie keynesianischer Dogmen zu entwickeln, in der nationale und soziale Frage konsequent zusammengedacht sind. Der soziale Zerfall wird nur dann aufgehalten werden können, wenn endlich begriffen wird, daß die bislang favorisierten Ansätze, die sich eine Lösung von einem neuen Wachstumsschub versprechen, mittel- und langfristig sämtlich zum Scheitern verurteilt sind. Die Wachstumsraten, die erforderlich wären, um die Massenarbeitslosigkeit in nennenswertem Umfang abzubauen, sind kaum erreichbar und zudem unter ökologischen Gesichtspunkten nicht unbedingt wünschenswert. Vor allem muß bedacht werden, daß die hierbei realisierbaren Beschäftigungszuwächse größtenteils nur kurzfristig wirksam sind, da Wachstumsgewinne nicht zuletzt auch Reinvestitionen in neue arbeitssparende Technologien, also weitere Rationalisierung, ermöglichen.

Eine Wendung zum Positiven wird nur dann möglich sein, wenn die dem ökonomischen Umbruch inhärenten Chancen klar erkannt und zur Entwicklung einer auf der alten zwar aufbauenden, aber dennoch in vielem völlig neuartigen Wirtschaftsstruktur genutzt werden. Hierzu gilt es zunächst anzuerkennen, daß das Festhalten an der Zentralität der Erwerbsarbeit im Leben jedes Einzelnen - wie es sich im gesellschaftlichen Leitbild der Vollzeiterwerbstätigkeit manifestiert - strukturell wie bewußtseinsmäßig Kern der gegenwärtigen Gesellschaftskrise ist und einer sozialverträglichen (an den Prinzipien der Gerechtigkeit und der Solidarität orientierten) Flexibilisierung des Arbeitsmarktes im Wege steht, die in Verbindung mit einem entsprechenden Umbau des Sozialstaates zu deren Bewältigung beitragen könnte. Ein geistiger Bruch mit dem die bisherige Arbeitsgesellschaft bestimmenden Lebensmodell ist unumgängliche Voraussetzung der erforderlichen revolutionären Reformen. Nur so würde mittel- und langfristig der Übergang zu einer neuen Wirtschaftsweise möglich, die es erlauben würde, die krisengeschüttelte und auf lange Sicht zum Sterben verurteilte Arbeitsgesellschaft hinter sich zu lassen. Die sich eröffnende Perspektive besteht in der Entwicklung einer Kultur- oder Tätigkeitsgesellschaft, in der die Wirtschaft nicht länger eine alles dominierende Stellung einnehmen, sondern sich wieder organisch einfügen würde und somit auf ihre ursprünglich dienende Funktion zurückgeführt wäre. Anknüpfungspunkte bietet hier vor allem der französische Sozialphilosoph André Gorz, der sich in der Diskussion um die "Krise der Arbeitsgesellschaft" mit seinen bahnbrechenden Veröffentlichungen "Kritik der ökonomischen Vernunft" (1989) und "Arbeit zwischen Misere und Utopie" (2000) hervorgetan hat.

Das gesellschaftliche Reformprojekt einer Kultur- oder Tätigkeitsgesellschaft zielt darauf ab, das emanzipatorische Potential des technischen Fortschritts (die von Arbeit befreite Zeit), das im Rahmen der Arbeitsgesellschaft nicht wirksam werden kann (statt dessen in Gestalt von Arbeitslosigkeit eine Verallgemeinerung der Unsicherheit nach sich zieht), für den Menschen nutzbar zu machen. Parallel zu ihrer schrittweisen Umsetzung müßte sich allerdings wie bereits angeklungen ein erheblicher Bewußtseinswandel vollziehen. Neben der Ausbildung inklusiver statt exklusiver Solidaritätsmechanismen ist dabei die Entwicklung eines anderen Wohlstandsmodells von zentraler Bedeutung. In konkrete Politik umgesetzt, würde dies bedeuten, statt wie im Modell der angelsächsischen Dienstbotenökonomie Arbeitsplätze um der Arbeitsplätze willen zu schaffen, eine Neuverteilung der gesellschaftlich notwendigen Erwerbsarbeit in die Wege zu leiten. Verkürzte Kernarbeitszeiten bzw. eine Kombination verschiedenster (branchenspezifisch angepaßter) Arbeitszeitmodelle würden sich hier anbieten. Das Ziel ist, allen Erwerbsfähigen einer Volkswirtschaft den Zugang zu Erwerbsarbeit zu eröffnen und zugleich eine ebenso flexible wie sozialverträgliche - gleichermaßen Arbeitgeber- wie Arbeitnehmerinteressen berücksichtigende - Anpassung an konjunkturelle Schwankungen zu ermöglichen. Um den Übergang von der exklusiven Solidarität der Arbeitsplatzbesitzer zu einer neuartigen Form inklusiver Solidarität zu unterstreichen, sollte das allen Bürgern zustehende "Recht auf Arbeit" auch im Grundgesetz verankert werden.

 

Matthias Seegrün schrieb in JF 38/03 unter dem Titel „Das Feindbild überdenken“ über die Fehler rechtskonservativer Parteien.


 
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