© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/03 31. Oktober 2003

Die Familie als Risiko
In Deutschland fehlt der Mut zu einer aktiven Bevölkerungspolitik
Paul Rosen

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat dem Gesetzgeber auferlegt, in der Sozialversicherung etwas für Familien mit Kindern zu tun. Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD) denkt an Summen von ein bis drei Euro im Monat, aber nicht für die Familien, sondern als Beitragszuschlag für Kinderlose. Spätestens an dieser Aktion zeigt sich, daß die Bevölkerungspolitik bei der Bundesregierung keinen Stellenwert hat.

Die Entwicklung zum kinderarmen Land dürfte niemanden überrascht haben. Dem Statistischen Jahrbuch ist zu entnehmen, daß zwischen 1950 und 1965 jeweils zwischen einer und 1,2 Millionen Kinder bis zu einem Alter von einem Jahr in Deutschland lebten - die Zahlen der ehemaligen DDR sind eingerechnet. Seitdem ging es kontinuierlich bergab. 1999 waren es noch rund 770.000 Kleinkinder. Das heißt, für einen gesunden Bevölkerungsaufbau fehlen seit Jahrzehnten mindestens eine Viertelmillion Kleinkinder pro Jahr. Andererseits stieg die Zahl der über 65jährigen seit 1965 von 9,6 auf 13,3 Millionen.

Alle Politiker dürften diese Zahlenreihen gekannt haben. Getan wurde jedoch nichts. Höheres Kindergeld wurde stets nur dann gezahlt, wenn das Verfassungsgericht die jeweiligen Regierungen dazu verpflichtete. Dabei wurde der häßliche Begriff vom "Existenzminimum" geboren, das jedem Kind angeblich zustehe. Der Begriff ist zudem entlarvend: Mit dem Minimum wird den Eltern nur das als steuerfreier Teil vom Einkommen beziehungsweise an Kindergeld zugestanden, was für den Nachwuchs unbedingt erforderlich ist. Von einem auskömmlichen Leben war nie und ist bis heute nicht die Rede.

Vom Nettogehalt blieb den Familien jedoch immer weniger. Einer Übersicht des Instituts der deutschen Wirtschaft ist zu entnehmen, daß sich der Gesamtsozialversicherungsbeitrag seit 1950 von 20 Prozent des Bruttolohns auf derzeit 42 Prozent erhöhte. Obwohl die Arbeitgeber bisher noch die Hälfte des Beitrages zahlen, ist die Wirkung dieser ständigen Erhöhungen für die Familien dennoch enorm: Von (umgerechnet) 100 Euro Lohn, die ein Arbeitnehmer 1950 erhielt, gingen nur zehn Euro für die Sozialversicherung weg. Heute müssen pro 100 Euro Lohn 21 Euro für Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung abgezweigt werden. Da bleibt nach Adam Riese weniger netto übrig. Die Bürger sparen auf ihre Weise und treten in den Zeugungsstreik. Denn auch die Steuerbelastung stieg in den letzten zehn Jahren und Jahrzehnten kontinuierlich an. Zuletzt wurde vergeblich versucht, mit der Ökosteuer die Rentenbeiträge zu senken.

Der Versuch der Sozialministerin Schmidt, durch eine Beitragserhöhung bei der Pflegeversicherung für Kinderlose das Urteil des Verfassungsgerichts zu erfüllen, zeigt, daß in der SPD immer noch kein Bewußtsein für die notwendige aktive Bevölkerungspolitik entstanden ist. Die Fehler der Vergangenheit lassen sich zwar nicht mehr korrigieren. Dafür ist es zu spät. Doch wenigstens in Gegenwart und Zukunft können Eltern durch das Schaffen von besseren finanziellen Bedingungen zu mehr Kindern animiert werden. Frau Schmidt will die Zusatzeinnahmen durch die Belastung Kinderloser nicht etwa den Familien zur Verfügung stellen, sondern die seit ihrer Gründung 1995 unverändert gebliebenen Leistungen der Pflegeversicherung verbessern. Damit würde im wahrsten Sinne des Wortes das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: Statt etwas für die Familien zu tun, feiert die Umverteilung fröhliche Urständ.

Leider ist das Urteil des Verfassungsgerichts etwas unpräzise geblieben. Die Klage richtete sich gegen die Benachteiligung von Eltern bei der Beitragszahlung für die Pflegeversicherung. Darauf bezieht sich das Urteil. Schon die analoge Anwendung auf die Krankenversicherung, die aus bevölkerungspolitischer Sicht zwingend notwendig wäre, ist unter Juristen und Politikern heftig umstritten. Von der Rentenversicherung war in diesem Zusammenhang ohnehin nie die Rede. Die Politiker haben bei der Altersversorgung stets versucht, die Leistung der Mütter mit Kindererziehungszeiten abzuspeisen. Dabei dürfte heute eigentlich jedermann klar sein, daß die Kindererziehungszeiten, die auf den Rentenbeitragskonten gutgeschrieben werden, auf keinen Fall mehr eingelöst werden können. Es fehlt an Kindern, die entsprechend einzahlen würden.

Die rot-grüne Koalition stellt sich dem demographischen Problem nicht. In allen Erklärungen fehlen jegliche Hinweise, wie die Geburtenzahl wieder erhöht werden könnte. In der Pflegeversicherung plädieren die Grünen dafür, Eltern durch steuerliche Subventionen zu entlasten, ohne daß dafür Geld vorhanden wäre. Die CDU setzt mit ihrem Herzog-Konzept weiter auf die Gewährung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung. Der Wert dieser Garantien entspricht einem ungedeckten Scheck. Auch enthalten Herzog-Vorschläge keine Vorschläge zur Familienförderung in anderen Zweigen der Sozialversicherung.

Allein in Bayern hat man sich der Problematik angenommen. CSU-Chef Edmund Stoiber spricht schon seit längerem von der Notwendigkeit einer "aktiven Bevölkerungspolitik". Aus den sozialpolitischen Grundsätzen, die die CSU in den nächsten Wochen vorlegen will, ist bereits bekannt, daß man Eltern mit Kindern mit zwölf Jahren um 50 Euro pro Monat und Kind bei den Rentenbeiträgen entlasten will. Das wäre neben dem Kindergeld und anderen Leistungen tatsächlich eine spürbare finanzielle Entlastung und würde den Generationenvertrag wieder stärker ins Bewußtsein zurückbringen: Wer Kinder in die Welt setzt, braucht nicht so viel zu bezahlen wie Bürger ohne Kinder.

Die Entlastung der Familien bei den Rentenbeiträgen hat natürlich auch eine andere Seite: Für diejenigen, die - aus welchen Gründen auch immer - keine Kinder haben, wird das Nettogehalt sinken. Die Steuergelder, wie sie zum Beispiel die CDU zum sozialen Ausgleich für die durch Kopfpauschalen in der Krankenversicherung zu hoch belasteten Familien vorsieht, gibt es doch in der Realität nicht. Die Staatskassen sind leer, und sie werden es auch auf unabsehbare Zeit bleiben. Daher muß innerhalb der Sozialversicherung im Sinne der Bevölkerungspolitik umverteilt werden.

Die Umverteilung zugunsten der Familien wird und muß die Quittung für eine verfehlte Sozialpolitik der letzten Jahrzehnte sein. Die Zeiten, wo sich Doppelverdiener ohne Kinder drei Urlaubsreisen pro Jahr leisten konnten, während sie darauf hofften, daß andere für die Beitragszahler der nächsten Generation sorgen, gehen dem Ende entgegen. Zwei Urlaubsreisen dürften es doch auch tun.


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