© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/03 07. November 2003

Reden über Deutschland
Der "Fall Hohmann" zeigt, wie weit wir von der Normalität entfernt sind
Doris Neujahr

Die Rede, die der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann am 3. Oktober in seinem hessische Wahlkreis gehalten hat, soll "antisemitisch" sein und eine "Verharmlosung des Holocaust" darstellen. Wo solche starken Worte fallen - das mußte man in den vergangenen Jahren lernen -, wird mehr vernebelt als aufgeklärt. Man weiß inzwischen, daß die Presse- und Medienvielfalt in Deutschland nur vordergründig ist. Sie camoufliert - immer notdürftiger - die Tatsache, daß die offene, streitbare Rede unerwünscht ist. Wo es um Fragen der deutschen Geschichte geht, treten Journalisten und Politiker zum unsichtbaren Befehlsempfang an. Danach setzen sie die Skandalisierung in Gang.

Das erlebte Martin Walser, als er 1998 in seiner Frankfurter Friedenspreisrede die Schamlosigkeit der deutschen Trauer-Orgien anprangerte. Das mußte am 9. November 1988 der Bundestagspräsident Philipp Jenninger erleben, der genau jene Rede gehalten hatte, die eigentlich Richard von Weizsäcker zugestanden hätte. Nur hatte der es am 8. Mai 1985 vorgezogen, die politische, juristische und moralische Hinterlassenschaft seines Vaters, des Ribbentrop-Adlatus Ernst von Weizsäcker, zu verdrängen. Jahre später ereignete sich ein Treppenwitz, als Ignatz Bubis die Jenninger-Rede wiederholte, ohne allerdings die Quelle zu nennen, und dafür allgemeinen Beifall erntete.

Hohmann hatte seine Rede unter das Motto "Gerechtigkeit für Deutschland" gestellt. Für die aktuelle Mutlosigkeit im Land machte er die Zerstörung des Gemeinsinns verantwortlich. Darauf ist inzwischen auch Wirtschaftsminister Wolfgang Clement gekommen, der sich sonst als Technokrat gebärdet. Der Minister mahnte mehr "Patriotismus" bei der Reformarbeit an. Was Hohmann, anders als Clement, auszusprechen wagte: Dem notwendigen Patriotismus steht die weitverbreitete "Tätervolk"-Propaganda entgegen.

Das "Tätervolk" stellt eine semantische Verschärfung des Vorgängertopos "Volk der Täter" dar, der in der Diskussion um das Holocaust-Mahnmal aufkam. Dieser benannte lediglicheine Eigenschaft des im Bezugswort bezeichneten Kollektivs, ohne sie absolut zu setzen. Das Determinativkompositum "Tätervolk" hingegen legt das deutsche Volk auf die "Täter"-Eigenschaft, auf ein kriminelles Wesensmerkmal also, fest. Diese Kollektivzuschreibung denunziert jeden Appell an den Gemeinsinn als Räubermoral. Sie läuft auf die kollektive Selbstnegation hinaus und lädt zur moralischen und materiellen Erpressung Deutschlands ein.

Die "Tätervolk"-Propaganda ist mit dem Holocaust und den Juden als komplementäres "Opfervolk" verknüpft. Hohmann ist daher auf die Idee verfallen, eine hypothetische Retourkutsche zu fahren und die Juden als ausschließliches "Opfervolk" in Frage zu stellen. Er stellte heraus, daß der Anteil von Juden an der Ausformung der kommunistischen Ideologie und ihrer Exekution in Rußland und Deutschland besonders hoch war: Zum Zeitpunkt der russischen Oktoberrevolution 1917 gehörten dem siebenköpfigen Politbüro der Bolschewiki vier Juden an, und 1934 lag der jüdische Anteil in der Tscheka-Führung bei 39 Prozent. Die Geheimpolizei Tscheka stand in vorderster Front bei der Ausrottung des Bürgertums, der Kulaken und der alten Intelligenz. Hohmann schlußfolgerte: "Daher könnte man Juden mit einiger Berechtigung als 'Tätervolk' bezeichnen. Das mag erschreckend klingen. Es würde aber der gleichen Logik folgen, mit der man Deutsche als Tätervolk bezeichnet." Erkennbar ging es ihm darum, die Unmöglichkeit kollektivistischer Schuldzuschreibungen zu illustrieren. Einige Sätze später heißt es glasklar, "weder 'die Deutschen', noch 'die Juden' (sind) ein Tätervolk".

Verunglückt ist die Rede dennoch. Er hätte das Wort Tätervolk auch nicht hypothetisch mit den Juden in Verbindung bringen dürfen. Es ist ungemessen, am "Tag der Deutschen Einheit" über jüdische Schuld zu philosophieren. Hohmann weckt damit Assoziationen an den Aufsatz, mit dem Heinrich von Treitschke 1879 den "Berliner Antisemitismusstreit" auslöste. Treitschke hatte die Diskrepanz zwischen dem äußeren Erfolg des Deutschen Reiches und der innenpolitischen Lethargie thematisiert. Statt den Widerspruch aufzulösen, externalisierte er ihn sogleich und leitete zum angeblichen Einfluß "der Juden" über. Unangemessen ist aber auch die öffentliche Reaktion auf die Rede. Die Zeitungen, soweit sie Auszüge daraus abdrucken, lassen das empirische Zahlenwerk weg, auf das Hohmann sich stützte. Der deutsche Wähler soll sich erregen, ohne Bescheid zu wissen, durch verordnete Blödigkeit soll er zur Überzeugungsstärke gelangen!

Wer den Skandal ausruft, statt sich auf Fakten zu beziehen und zu argumentieren, der hat etwas zu verbergen. Man verschweigt vornehm, daß in Hohmanns Rede der Schatten des ungeklärten Historikerstreits von 1986/87 sichtbar wird. Für den überproportionalen jüdischen Anteil unter den kommunistischen Revolutionären führt die Wissenschaft eine Reihe überzeugender Gründe - so die Unterdrückung der Juden durch den Zarismus - an. Der inkriminierte Umstand wird also historisiert, noch lieber aber tabuisiert. Denn er evoziert die Frage nach einer Historisierung des Nationalsozialismus als die überschießende Reaktion auf eine tief empfundene Bedrohung, als "die biologistisch umgeprägte Kopie des sozialen Originals" (Ernst Nolte). Diese Historisierung soll aus politischen und machttaktischen Gründen verhindert werden.

Mit dem Begreifen solcher Zusammenhänge sind unsere Spitzenpolitiker überfordert. Mehr als "unglaublich", "unmöglich", "indiskutabel" fällt Merkel, Merz und Meyer nicht ein. Der Umgang mit Hohmann, seine Versetzung aus dem Innen- in den Umweltausschuß, ist aber vergleichsweise moderat. Vermutlich hat der Unionsführung zu denken gegeben, daß er an der Basis großen Zuspruch erfährt und - was die Medien empört - niemand unter seinen Zuhörern vom 3. Oktober sich zur Denunziation bemüßigt gefühlt hat.

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, will gegen Hohmann den Kadi einschalten. Es ist so neudeutsch wie mittelalterlich, Lehrmeinungen über die Historie gerichtlich sanktionieren bzw. kanonisieren zu lassen. Auch die jüdischen Verbandsvertreter werden sich daran gewöhnen müssen, daß ihr öffentlicher Einfluß künftig weniger auf ihrer Eigenschaft als Repräsentanten einer geschichtlichen Leidenserfahrung beruht, sondern von der Stichhaltigkeit ihrer Argumente abhängt. Wir alle haben Lücken im Geschichtsbild. Solche Lücken lassen sich füllen. Aber nicht durch Geschrei und Prozesse, sondern in offener, streitbarer Rede!


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