© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/03 14. November 2003

Kinderwahlrecht ist Vereinnahmung
von Edgar Guhde

Auch Kinder haben eine Stimme", schrieb Wilfried Böhm werbend in der JUNGEN FREIHEIT vom 10. Oktober 2003. Vorgeschlagen wird ein Wahlrecht für Kinder analog zum lange verwehrten Frauenwahlrecht. Doch wie es auch genannt wird, Kinderwahlrecht, Familienwahlrecht, Stellvertreterwahlrecht, Vertretungsstimmrecht - alles ist irreführend. Denn worum es geht, ist die Privilegierung einer bestimmten Personengruppe.

Gemäß Artikel 38, Absatz 1 des Grundgesetzes gilt für alle Wahlen das Prinzip der Gleichheit jeder Wählerstimme. Die formale Gleichheit der Stimmbürger ist eine der Grundlagen des parlamentarisch-demokratischen Staatsverständnisses. Der Grundsatz der gleichen Wahl ist "wegen des Zusammenhangs mit dem egalitären demokratischen Prinzip im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen", erklärte das Bundesverfassungsgericht.

Jede Stimme muß die gleiche Kraft haben. Zähl- und Erfolgswert der abgegebenen Stimmen müssen gleich sein. Jeder Abstimmende verfügt über dieselbe Anzahl von Stimmen, weil der Grundsatz der Volkssouveränität in
Art. 20, 2 GG nur dann verwirklicht ist, wenn jeder Wahlbürger den gleichen Anteil an der Bildung des Volkswillens und der Zusammensetzung des diesen repräsentierenden Parlaments hat. Dies verbietet die Zuerkennung von Zusatzstimmen an bestimmte Wähler oder Wählergruppen. Ein Durchbrechen dieses Gleichheitsprinzips ist laut ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur zur Sicherung eines anderen Verfassungsgrundsatzes zulässig, nämlich der Funktionsfähigkeit des Parlaments und der Regierungsbildung bezüglich der Fünf-Prozent-Klausel.

Art. 3, 1 des Grundgesetzes, "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich", gilt selbstverständlich auch für das Wahlgesetz. Die Grundsätze der Gleichheit der Wahl sind Anwendungsfälle des allgemeinen Gleichheitssatzes, der als Grundrecht des Einzelnen in Art. 3, 1 garantiert und unveränderbar ist (vergleiche auch Art. 28, 1 GG).

Bereits nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. April 1952 genügt es nicht, daß "jeder Wähler eine Stimme und nur eine Stimme abgibt". Eine volle Gleichheit des Wahlrechts sei vielmehr "nur dann gegeben, wenn alle Stimmen auch die gleiche Kraft haben".

Die Formalisierung der Wahlrechtsgleichheit beim Verhältniswahlrecht führe dazu, daß "nicht nur der gleiche Zählwert, sondern grundsätzlich auch der gleiche Erfolgswert gewährleistet sein muß. Entscheidet sich der Gesetzgeber für das Verhältniswahlrecht, so unterwirft er sich damit dem prinzipiellen Gebot des gleichen Erfolgswerts jeder Wählerstimme als der spezifischen Ausprägung, die die Wahlrechtsgleichheit unter dem Verhältniswahlsystem erfährt, und stellt sein Gesetz unter dieses Maß" (Urteil vom 11. Oktober 1972).

Das Klassen- (Zensus-)wahlrecht in Preußen von 1849-1918 mit der damals unterschiedlichen Stimmengewichtung nach Stand wäre heute verfassungswidrig, weil die Gleichheit aller stimmberechtigten Bürger ein wesentlicher Grundsatz moderner Verfassungen ist. Mit dem Gleichbehandlungsgebot, dem Prinzip des gleichen Stimmengewichts, sind also alle Formen von Pluralwahlrechten verfassungswidrig - also auch Zusatzstimmen für Eltern mit Kindern im noch nicht wahlfähigen Alter. Darüber hinaus gibt es aber auch gesellschaftspolitische Argumente dagegen.

Das Prinzip der gleichen Wahl in Art. 38 GG ist sogar der wichtigste aller Wahlrechtsgrundsätze. Sein Garantiegehalt präge die Legitimationsfunktion der demokratischen Regierungsform. So erklärte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 29. November 1962: "Der Grundsatz der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl in seiner gegenüber dem Gleichheitssatz formalisierten Bedeutung verbietet dem Gesetzgeber, bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen oder das Stimmgewicht dieser Gruppen verschieden zu bewerten."

Da der Gleichheitssatz zum veränderungsfesten Kern des Grundgesetzes gehört, ist er jeder Veränderung durch das Parlament entzogen. Es gibt weitere rechtliche Gründe gegen das sogenannte Kinderwahlrecht: Es geriete in Konflikt mit dem Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Wahl. Aus dem Charakter des Wahlrechts als subjektivem Recht mit staatskonstitutiver Bedeutung wird abgeleitet, daß es sich um ein höchstpersönliches Recht handelt - unveräußerlich, unübertragbar und unverzichtbar.

Dieses Wahlrecht duldet weder eine Stellvertretung noch einen Auftrag. Bei einer Stellvertretung müßte der Beauftragte vom Auftraggeber durch Vereinbarung bevollmächtigt werden. Der Auftraggeber weist seinen Bevollmächtigten an, innerhalb klar umrissener Grenzen könne dieser für ihn sprechen oder handeln, wobei der Bevollmächtigte immer an die Zustimmung des Beauftragenden und an dessen Recht, neue Weisungen zu erteilen oder die ganze Abmachung aufzuheben, gebunden bleibt. Daß Kinder zu solchen Aufträgen nicht fähig sind, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden.

Der Einwand, daß minderjährige Kinder auch in zivilrechtlichen Angelegenheiten von ihren Eltern vertreten würden, ist in diesem Zusammenhang nicht stichhaltig, handelt es sich doch bei einer politischen Wahl zuvörderst um eine politische und ideelle Willensentscheidung und nicht um ein spezielles Privatinteresse. Zudem hat ein Vertragsabschluß nur für die Vertragsparteien direkte Konsequenzen. Dagegen hat ein Wahlausgang zugunsten oder zuungunsten einer bestimmten Partei immer nachhaltige Auswirkungen für die gesamte Staatsbevölkerung. Somit kann die zivilrechtliche Minderjährigenvertretung nicht mit einer solchen bei öffentlichen Wahlen gleichgesetzt werden.

Es geht nicht an, in politisch-weltanschaulichen Fragen Bevollmächtigte zuzulassen, die "Klienten" vertreten, die davon gar nichts wissen oder dem nicht zustimmen können oder wollen. Das berührt sogar deren Menschenwürde, denn hier wird über den Kopf der Kinder hinweg anmaßend entschieden. Hier liegt eine Form des Kindesmißbrauchs zumindest dann vor, wenn sich - zeitgleich oder später - herausstellt, daß die Kinder die elterliche Wahlentscheidung mißbilligen und sie somit fremdbestimmt wurden.

Das Kinder- oder Stellvertreterwahlrecht unterstellt ja, daß die Eltern bei den Wahlen im (späteren?) Sinn und Einverständnis ihrer Kinder entscheiden, sozusagen treuhänderisch, daß also die Kinder später die für sie mitgetroffenen Wahlentscheidungen im nachhinein billigen.

Eben dies kann keineswegs unterstellt werden, sonst gäbe es zum Beispiel keine Generationenkonflikte. Es würde angesichts der Fremdbestimmung zu mehr oder minder erheblichen Vorwürfen von Kindern an die Eltern kommen, wenn etwa der oder die Sechzehnjährige erfährt, daß die Eltern in den vergangenen fünfzehn Jahren die CSU wählten, obwohl er oder sie Anhänger einer anderen, entgegengesetzten Partei ist. Natürlich wird sich der Sechzehn- oder Siebzehnjährige sehr fremdbestimmt vorkommen, wenn seine Stimme einer Partei gegeben wird, die er selbst ablehnt. Die jetzige Regelung, nach der er selbst zwar nicht wählen darf, aber auch nicht andere über seine Stimme verfügen können, wird der Betroffene dem vermeintlichen Stellvertreterwahlrecht zweifellos vorziehen. Der Schutz vor Fremdbestimmung ist also ein Grund, warum das Wahlrecht höchstpersönlich bleiben muß.

Verschärfen würde sich dieser Konflikt noch, wenn dabei eine radikale Partei eine Rolle spielte. Und es ist zu bezweifeln, ob alle Eltern die eigenständige politische Meinung der Heranwachsenden akzeptieren und bei der Wahl berücksichtigen.

Ein unterstelltes Treuhandverhältnis würde sich also immer dann als von den Eltern mißbraucht erweisen, wenn diese andere Wahlpräferenzen haben oder hatten als die urteilsfähig gewordenen Kinder. Eine Ermächtigung an die Eltern haben die Kinder schließlich nicht erteilt, also sind sie nicht wie im Treuhandrecht Treugeber. Wählen kann jeder nur für sich selbst und aus sich selbst.

Es ist auch mitnichten damit zu rechnen, daß Eltern - wie argumentiert wird - mit zusätzlichen Wahlstimmen die Verantwortung für ihre Kinder in höherem Maße reflektieren würden, als dies jetzt der Fall ist. Geht man von einem realistischen Menschenbild aus, so ist es illusionär, zumindest rein spekulativ, anzunehmen, daß die Leute mit mehreren zur Verfügung stehenden Stimmen anders als sonst wählen würden. Bevorzugt jemand diese oder jene Partei, dann aus einem komplexen Bündel bewußter und unbewußter Motive, wie die Wahlforschung ergab. Da spielen Faktoren wie die eigene Sozialisation, eine gegenwärtige und angestrebte soziale Lage, Tradition, Ideologie, Emotionen, Vorurteile, persönliche Erfahrungen und Informationsgrad hinein. Was sollte man sich also von den Zusatzstimmen im Ergebnis versprechen? Daß langfristige Interessen mehr berücksichtigt werden? Die werden aber parteipolitisch, ideologisch, gefühls- und mentalitätsmäßig sehr unterschiedlich interpretiert und zugeordnet. Diejenigen Eltern, denen die fernere Zukunft nicht weiter wichtig ist, sondern nur die nächsten drei bis vier Jahre, ändern ihre Mentalität nicht durch Zusatzstimmen. Je nach sozialer Prägung, Ideologie usw. gibt es Überschneidungen mit anderen Interessen, die nicht dadurch verschwinden, daß man Kinder hat.

Begründet wird das Stellvertreterwahlrecht mit der These, Eltern trügen für mehrere Personen besondere Verantwortung. Verantwortung für andere tragen nicht nur Eltern, sondern auch Sozialarbeiter, Lehrer, medizinisches Personal und ähnliche. Gleichwohl ist noch niemand auf den Gedanken gekommen, ihnen zusätzliche Stimmen zu verleihen. Es wird auch behauptet, Familien seien finanziell und sozial benachteiligt und deshalb bei den Wahlen zu privilegieren. Doch das sind Langzeitarbeitslose, Schwerbehinderte oder Pflegeheimbewohner auch. Sollen die nun ebenfalls deshalb ein besonderes Wahlrecht erhalten? Und was ist mit den Menschen, die Kinder haben wollen, aber unfruchtbar bleiben? Mit welcher Berechtigung sollen solche Wähler zusätzlich benachteiligt werden?

Wem wäre also mit diesem sogenannten Kinderwahlrecht geholfen? Den Kindern am wenigsten, weil sie mehr Kindergärten, mehr Lehrer und bessere Schulen, Ausbildungsplätze vor Ort, mehr Jugendzentren und dergleichen benötigen und nicht eine in vieler Hinsicht problematische Änderung des Wahlrechts. Geholfen wäre allenfalls denjenigen Parteien und Politikern, die versäumt haben, eine kinder- und jugendfreundliche Politik zu betreiben, weil sie auf diese Art billig zu einem Image kommen, "etwas für die Kinder getan" zu haben.

Nicht gering zu achten ist der enorme bürokratische und kostenmäßige Aufwand, den Böhm einfach ignoriert: Vor jeder Wahl müßte behördlich festgestellt und dokumentiert werden, wer überhaupt zu dieser Zusatzstimmengruppe gehört, was nämlich in zahllosen Fällen keineswegs eindeutig ist, so bei nichtehelichen Kindern, bei Stief- und Pflegeeltern, (Waisen)kindern unter staatlicher oder privater Vormundschaft, entmündigten Vätern und Müttern und solchen, denen die Erziehungsgewalt entzogen wurde, bei Strafgefangenen, dauernd getrennt lebenden oder geschiedenen Eltern und Eltern ausländischer Staatsangehörigkeit mit eingebürgerten Kindern.

Sollen zum Beispiel Väter, die kaum ihren Unterhalt zahlen, ebenso über zusätzliche Stimmen verfügen wie Väter, die sich tagtäglich um die Kinder kümmern? Wer entscheidet in den vielen unklaren und strittigen Fällen, wer das Wahlrecht stellvertretend wahrnimmt, wie beispielsweise in den Fällen, wo der Wohnsitz der Eltern bzw. eines Elternteils nicht mit dem der Kinder identisch ist? Wo wird das Stellvertreterwahlrecht ausgeübt? Am Wohnort des Kindes bzw. der Kinder oder dort, wo der Vertreter wohnt? An welche Anschrift erfolgt die Wahlbenachrichtigung? Wird diese an die Adresse des Kindes oder der Kinder geschickt, um von dort an die Stimmrechtsvertreter weitergeleitet zu werden? Oder müssen die Stimmrechtsvertreter direkt benachrichtigt werden? All dies hat nämlich verwaltungstechnische Bedeutung für die Gemeinden, die eine Wahl vorbereiten müssen, und für die Führung der Wählerkartei.

Bei den Auszählungen dürfte es zusätzliche Schwierigkeiten geben, weil die Zahl der Wahlberechtigten und damit auch die Zahl der zu zählenden Stimmzettel ansteigt und die Unterscheidung von ganzen und halben Stimmen zusätzliche Zählarbeit und Aufmerksamkeit bedeutet. Dadurch sind erhöhte Fehlzählungen vorprogrammiert - die Wahlanfechtungen dürften deutlich zunehmen. Damit entstünden stark erhöhte Kosten für den Verwaltungsaufwand, für zusätzliche Wahlbenachrichtigungen, mehr Stimmzettel und Wahlkarten, mehr Aufwandsentschädigungen für mehr Wahlhelfer usw., Gerichtskosten für Streitigkeiten und die Kosten bei Wahlwiederholung.

"Reformen" werden heute allerorten gefordert, und das Ergebnis ist häufig nur eine noch größere Bürokratie. Dahinter liegt nämlich die Vorstellung, in einem genialen Handstreich eine komplexe Problemlage über Nacht beseitigen zu können. Dies aber ist eine Naivität, die Politiker und auch die Wähler sich nicht leisten können.

 

Edgar Guhde ist Diplom-Politologe und in der Erwachsenenbildung tätig.


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