© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/03 05. Dezember 2003

Der Mann im Mond wird sich noch wundern
Ist es gleich Wahnsinn, hat es doch Methode: Warum die chinesische Mauer immer mehr bröckelt
Richard Stoltz

Nicht einmal auf die chinesische Mauer ist mehr Verlaß. Dieses stolze, mehr als siebentausend Kilometer lange Bauwerk war bisher das einzige Artefakt von Menschenhand, das auch aus dem Weltraum, etwa vom Mond aus, erkennbar war. Es prägte das Antlitz der Erde wie die großen Werke der Natur, Bergketten oder gigantische Flußsysteme. Doch bald wird es damit vorbei sein.

Denkmalschützer schlagen schon Alarm. Höchstens ein Drittel der chinesischen Mauer sei überhaupt noch als Mauer wahrnehmbar, sagen sie. Vom zweiten Drittel existierten nur noch traurige Reste, und das letzte Drittel sei bereits vollständig verschwunden. Und der Auslöschungsprozeß gehe immer weiter und beschleunige sich immer mehr. Schuld seien die umliegenden Bewohner, die die Mauer wie eh und je als willkommenen Steinbruch und Ziegel-Lieferanten für ihre mickrigen eigenen Bauten benutzen, von denen mit Sicherheit kein einziger je vom Mond aus erkennbar sein wird.

Das Hemd ist den Menschen eben näher als der Rock, auch wenn es Löcher hat, und die eigenen vier Wände näher als das ehrwürdigste Relikt nationaler Größe aus fernen Zeiten. So wie die Chinesen mit ihrer Mauer sind die Mittelmeervölker mit den großartigen Bauten der Antike umgegangen. Sie haben sie abgetragen und als Material für Profanbauten be- und vernutzt. Nicht anders erging es Kathedralen und Ritterburgen aus dem Mittelalter.

Wenn es um die Frage "Schönes oder Nützliches?" geht, siegt stets das Nützliche, auch wenn dieses, genau betrachtet, das Unnützeste von allem ist, wie zum Beispiel Ariel Scharons neue Mauer um Palästina oder die Berliner Mauer unheiligen Angedenkens, deren Reste jetzt nach dem Willen starker Kräfte als "Kulturerbe der Menschheit" unter Denkmalschutz gestellt werden sollen. Ist es gleich Wahnsinn, hat es doch Methode. Der Mann im Mond wird sich noch wundern.


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