© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/03 05. Dezember 2003

Vorbild und ein bißchen Held
von Heino Bosselmann

Daß der Unterricht vor allem interessant und spannend sein muß, gilt entweder als lapidare Binsenweisheit oder als utopisch-illusionärer Vorsatz, bei dem Kollegen nur müde abwinken. Oft werden Schulstunden, Stoffe, ja ganze Fächer als grau und öde verstanden - sowohl von den Schülern als auch von ihren Lehrern. Man geht davon aus, das müsse so sein: Schule sei nun einmal langweilig. Doch Bildung muß verlockend erscheinen. Dazu bedarf es echter und ernster Leidenschaftlichkeit des Lehrers, eine spürbare Identifizierung mit dem Fach, das er sich irgendwann mit Sendungsbewußtsein ausgesucht hat.

Ja, Sendungsbewußtsein! Brennt es nämlich nicht, fließen keine Energien. Dabei hat der Lehrer vorzustellen und vorzuleben, wie er selbst angestrengt zu ringen versteht, und daß er ein Überwinder ist. Großen Lehrern war stets ein Zug von Kraft und Askese eigen. Der modernen Pädagogik dürfte das zu nietzscheanisch sein, aber zweitausend Jahre abendländischer Bildungsgeschichte dokumentieren den Lehrenden als eine starke Persönlichkeit, die Heranwachsende sowohl halten als auch führen kann. Der Lehrer begeistert, schützt auf unsicherem Terrain und schafft Ruhe, anstatt labile Klassen noch zu verunsichern. Dieser Lehrer fängt bei der Persönlichkeit - nicht beim Staatsexamen - an.

Zieht man etwa 40 Prozent der Schüler ins Gymnasium, so führt das nur zum landläufig gewohnten Etikettenschwindel mit den Begriffen Gymnasium, Abitur, Leistungskurs. Dann ist man arg gefordert, die RTL-Generation zumindest so positiv oder subversiv anzuregen, daß überhaupt Interesse entsteht. Es sollte erlebbar sein, daß der Lehrer in seiner Thematik nicht nur zu Hause ist, sondern daß sie ihn infiziert hat und immer ein weiterzudenkendes Rätsel bleibt.

Dazu bedarf es eines spezifischen Charismas. Schüler akzeptieren ein lauwarmes Neutrum mit kaum wahrnehmbarer Persönlichkeitsspezifik allenfalls aus Artigkeit oder Mitleid; sie bedürfen eines Lehrers, der lebendige und frische Impulse gibt, der Größe und Kontur hat, angreifbar ist, etwas vorleben kann, der dem Schüler zu raten weiß, ihn zu begleiten vermag und selbst durch spürbare Herzensbildung ausgezeichnet ist. Dazu braucht es Lebenserfahrung und eine Haltung, der nichts Menschliches fremd ist. Ein breites Spektrum an Fachlichkeit, aber ebenso gewachsene Lebenskompetenz, die eine Beamtenexistenz mit fehlerfreier Philisterbiographie selten zu bieten hat.

Von Durchsetzungsfähigkeit und natürlicher Autorität gar nicht zu reden. Schwache Persönlichkeiten bringen die nicht mit, gerade nicht in der komplizierter und abenteuerlicher gewordenen Schule. Ja, Lehrer müssen mehr noch als andere Berufe mit allen Wassern gewaschen sein. Der Lehrer wird in seinem Lebensentwurf von seinen Schülern im Sinne Sartres "erblickt". Selbst der schwächste Schüler vermag Echtheit zu spüren, und akzeptiert wird nur der Pädagoge, der diese streitbare Authentizität vor der Klasse offensiv, aber herzlich präsentiert.

Unterricht ist dort langweilig, wo Langweiler am Werk sind. Selbst dem stumpfsinnigsten Schüler kann man das Staunen beibringen. Und damit hat er nach Aristoteles schon das Terrain der Bildung betreten.

Lehrer heute sind in der Mehrzahl genau die Karikaturen, als die sie in ihren eigenen Fach- und Gewerkschaftsblättern dargestellt werden: welke Halbintellektuelle mit weinerlichem Rest-Idealismus, physisch abgeschlafft, seelisch-charakterlich farblos, voll von plüschigen Erinnerungen an bessere Zeiten. Schüler wollen Typen: Sie wollen nach vorn schauen, weil es da etwas zu sehen gibt, weil dort eine markige Figur agiert, die für sich genommen schon das Interesse verdient.

Außerdem sind immer weniger Pädagogen überhaupt in der Lage, eine kommunikative Situation herzustellen. Entweder sie unterrichten aus dem Abseits als Leisegeiger oder wie aus der Einsamkeit eines MG-Nests heraus. Bevor nicht kommuniziert werden kann, kann nicht unterrichtet werden. Doch hat der Lehrer sich in die Lage zu bringen, aus der gesellschaftlichen Seichtheit und Verlogenheit zum klaren Wort, zur deutlichen Ansage und zur verbindlichen Absprache zu finden. Verschnarchten Langweilern und säuerlichen Aposteln hört eben keiner zu. Kollegen mag der Schreck in die Glieder fahren, doch alles Unterrichten beginnt zwangsläufig mit dem zu Unrecht verschrienen Frontalunterricht. Denn nur von dort kann man sich schließlich auch freieren Formen zuwenden.

Es gibt leider nur wenige Deutschlehrer, die echte Leser sind oder ihre Vorlieben und Leidenschaften im Bereich des Faches überhaupt formulieren und darstellen können. Kaum jemand ist ein homme de lettre alter Schule, also Sprachvirtuose und Stilempfinder mit interessanter Bibliothek.

Es wird vorausgesetzt, daß fähige Lehrer aus den Staatsprüfungen hervorgehen. Doch Lehrer ist, wer seiner Substanz nach das Zeug dazu mitbringt und sich dann in Studium und Praxis verfeinert. Das kann jemand sein, der von Universitätspädagogik nie etwas gehört hat, der aber wachen Sinnes und Verstandes sowie empfindsamen Naturells genug ist, um anregen und führen zu können. Wenn man nichts eigenes zu sagen hat, also keine Idee von sich und somit keine Sendung und keine Urteilskraft, dann ist eben schlecht Lehrer sein. Unterricht ist dort langweilig, wo Langweiler wirken, und selbst den stumpfsinnigsten Schüler kann man das Staunen lehren. Damit betritt er - mit welchem Enderfolg auch immer - zumindest das Terrain der Bildung.

Für die Kultusministerien, die Lehrer für staatliche Schulen bestellen, spielen fachliche Leistung und methodisches Talent keine Rolle. Hier zählen nur die bestandenen Staatsprüfungen, von denen allerdings gerade die zweite, also die vermeintlich schulpraktische, kaum aussagefähig ist, weil sie den wechselnden Marotten der Lehrerinstitute für Schule und Ausbildung der Länder folgt, die für ihre Praxisferne sattsam bekannt sind, obwohl sie auf den Unterricht orientieren wollen. Haben die Referendare die Torturen der Zweiten Staatsprüfung überstanden, werden ihre Bewerbungen von den Kultusministerien digitalisiert. Und so entscheidet schließlich ein Rechnerprogramm darüber, wer sich überhaupt vorstellen darf.

Mit dem Ende des bildungsbürgerlichen Kanons verschob sich das Hauptanliegen des Unterrichts vom Inhalt und von der Systematik auf die Methode. Es soll weniger darauf ankommen, was vermittelt wird, als eher darauf, wie das geschieht. Eine Verschiebung vom Was zum Wie gilt als modern und angemessen. Also nicht nur weg vom Fachwissenschaftlichen hin zum Didaktischen, sondern sogar weg vom Didaktischen hin zum bloß Methodischen. Damit wird dem Quantitativen Vorrang gegenüber dem Qualitativen eingeräumt und vernachlässigt, daß substantielle Inhalte und echtes Anliegen sich ihre Methoden schaffen. Ohne festes inhaltliches Fundament ist jedenfalls die innovativste Methode nur eine Farce. In der Vorbereitung auf das Zweite Staatsexamen kommt es den Seminarleitern der Lehrerinstitute so vor allem darauf an, die Referendare auf methodische Kabinettstückchen zu trimmen und Stunden erteilen zu lassen, in denen "handlungsorientiert" irgend etwas Effektvolles geschieht, statt daß Inhalt vermittelt würde. Bildung ohne Idee und Anspruch bleibt ja tatsächlich nur noch die Methode als eine Art Spielwiese von Verfahren ohne eigentlichen Sinn.

Für pädagogische Naturtalente und handfeste Persönlichkeiten, die fast naturgemäß nicht aus diesen hohlen Gassen kommen, ist bislang kein Platz. Nur der Lehrernotstand gibt einigen die Gelegenheit, sich nun doch - von den Schulbehörden beargwöhnt - ausprobieren zu dürfen. Zahlen entscheiden, nicht etwa Persönlichkeit und Eignung. Viele Ostlehrer etwa haben in der DDR trotz ideologischer Überfrachtungen eine praxisnahe Ausbildung erhalten, die nun auch in der Bundesrepublik hier und dort erwogen wird.

Diese Art der Lehrerbildung kannte allerdings nicht den Begriff des "Zweiten Staatsexamens", sondern statt dessen das "Große Schulpraktikum", und so haben Ostlehrer, legen sie keine "Bewährungsfeststellung" ihres Landesministeriums vor, im Westen praktisch keine Bewerbungschance, weil sie bereits vom Computer der Regierungspräsidien ausselektiert werden. Dabei hatten sie in der DDR-Variante der Lehrerbildung ab zweitem Semester bereits im Rahmen schulpraktischer Übungen unterrichtet und nach Abschluß des achten Semesters ein einjähriges und effektives Schulpraktikum absolviert.

Pisa-Analysten sind verwundert über die permanente Erschöpfung, den hohen Krankenstand und das frühe Ausscheiden von Lehrern. Diese Tatsachen und vor allem das immer wieder fast als Markenzeichen der Berufsgruppe benannte "Burnout"-Syndrom dürften durch die besondere Belastungsweise verursacht sein: Lehrer sind permanent gefordert, beeindruckende Auftritte zu liefern, Konflikte zu moderieren, Anfeindungen auszuhalten und Ausdauer zu beweisen. Das halten nur durchtrainierte Persönlichkeiten aus. Unterricht hält nur durch, wer auch einen Marathonlauf durchhält. Die Kollegen aber werden mit dem ersehnten Klingelzeichen aus dem Unterricht geschwemmt - und brauchen Kaffee. Es mag lächerlich klingen, aber ebenso wie ihre blassen und entweder überspannten oder sedierten Schüler bräuchten sie statt dessen frische Luft und Ausgleich in der Freizeit.

Der Lehrer, den wir aber alle unwillkürlich vor Augen haben, ist eben das Burnout-Gespenst im Sakko. Er hält nichts aus, obwohl er im Vergleich zum Beamten im Bauamt eine Menge auszuhalten hat. In diesem Zusammenhang ein weiteres Sakrileg: Schüler hören nur Lehrern zu, deren Verfassung, deren Form sie beeindruckt. Der Vermittelnde muß auch Idol und ein bißchen Held hergeben. Wir sind auf Vorbilder orientiert. Und natürlich konkurriert die Schule mit den Medien. Übt der Lehrer weniger Anziehungskraft aus als ein Game-Boy, so wird eben das Piepsgerät favorisiert - ebenso wie früher das Skatblatt bei den renitenten jungen Herren in der letzten Reihe. Die "Feuerzangenbowle" ist nicht nur ein charmanter Film, sondern bis in die pädagogische Gegenwart hinein gültiger Mythos.

Gelernt wird für Noten und einen irgendwann erfolgenden Abschluß. So argumentieren Lehrer: "Du willst doch das Abitur machen!" Das ist viel zu abstrakt. Man lernt nur aus dem eigenen Sachinteresse heraus.

Zwischen Schule und Leben setzt die pädagogische Konvention eine immer noch schwer zu überbrückende Distanz. Gelernt wird für Noten und einen irgendwann erfolgenden Abschluß. Diese langweilige und lähmende Argumentation vertreten die Lehrer vor den Schülern: "Du mußt aber mehr machen! Du willst doch eine gute Note im Test! Du bist doch wegen des Abiturs hier!" Das ist zu abstrakt. Man lernt nur aus der Anschauung und aus dem authentischen Ereignis heraus. Alle Reformpädagogik, von Hermann Lietz bis Rudolf Steiner, versuchten das zu berücksichtigen und den seiner Umwelt bereits entfremdeten und heute zunehmend körperlich degenerierten Schüler einfach der freien Luft auszusetzen. Sport allein leistet das jedoch nicht. Um diesem reformpädagogischen Konzept zu folgen, inszenierten auch die Staatschulen seit den siebziger Jahren so inflationär "Projektunterricht", bis auch nur wieder fader Unterricht mit etwas Bastelei heraus kam. Begegnungen mit der Natur und mit der Arbeit sind aber unabdingbare Voraussetzungen für die Entwicklung der Schülerpersönlichkeit. Unterricht muß mit das Ursprüngliche berühren und Bewährungsmöglichkeiten bieten, die eher handlungs- und praxisorientiert sind. Daß in Gymnasien das Werken, die Technik und das Arbeiten keine Rolle spielt, ist ein schlimmer Nachteil. Zumindest junge Gymnasiasten hätten gern mal ein Stück Holz in der Hand, würden sich an Stabilbaukästen ausprobieren oder selbst gärtnern. Das spräche natürlichen Empfindungen an und bildete außerdem ein Verhältnis zur Arbeitswelt, dieser terra incognita. Statt dessen ist von Laptop-Klassen die Rede!

Nur pars pro toto: Ein Test der Artenkenntnis von Pflanzen und Tieren dürfte für das Fach Biologie derzeit katastrophaler ausfallen als das schlimmste Pisa-Ergebnis - und dies in unserem ökologischen Krisenjahrhundert. Man kann nur das lieben, was man kennt. Die früheren Ausflüge mit Schmetterlingsnetz dürften uns schmunzeln lassen, aber sie sind so abseitig nicht. Wer Bäume pflanzt, achtet sie; wer ein Feld abernten hilft, weiß, daß Nahrung nicht im Kühlregal wächst; wer einen Stall ausmistet, der sieht ein Mitgeschöpf beim Leben und Leiden. Das sind Erlebnisse, die zählen und auf die Unterricht Bezug nehmen kann.

Die Gegenwart kennzeichnet ganz im Sinne Oswald Spenglers ein auffälliger Kulturverlust. Die Stunde der Pädagogik schlug aber stets in Phasen kulturgeschichtlicher Aufbrüche, also zum Beispiel während der Aufklärung oder, was die Reformorientierung betrifft, um 1900. In Stagnations- und Niedergangsperioden geriet die Schule, gesellschaftlicher Grundtendenz folgend, in die Krise. In einer solchen Phase befinden wir uns offensichtlich.

Hoffnung ist da nur am Rande und, wie stets, im Subjektiven zu finden. Statt auf Erlasse und neue salomonische Formulierungen in Rahmenrichtlinien zu warten, ist der Lehrer als Persönlichkeit gefordert, um in seinem Bereich wie auf einer Lichtung im Dickicht des Unfugs auf "existentialistische" Weise zu wirken. Diese Möglichkeit bleibt ihm trotz aller kultusbürokratischen Schwachheiten, denn in der Klasse wirkt er immer noch allein und eigenverantwortlich, wenn er über Courage und Urteilsvermögen verfügt. Alfred Andersch fällt einem ein, der seinen Pfarrer Helander in "Sansibar oder der letzte Grund" sagen läßt: "Was aber treibt ihn an, das Richtige zu tun? fragte sich der Pfarrer, und er gab sich selbst die Antwort: Das Nichts treibt ihn an, das Bewußtsein, in einem Nichts zu leben, und der wilde Aufstand gegen das leere, kalte Nichts, der wütende Versuch, die Tatsache des Nichts (...) wenigstens für Augenblicke aufzuheben."

 

Heino Bosselmann ist Lehrer an einem Internatsgymnasium.


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