© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/03 12. Dezember 2003

Vorbei an den Völkern
Europäische Union: Der Entwurf des Verfassungskonvents ist tendenziös und bruchstückhaft - vor allem wird aber das plebiszitäre Element geschwächt
Alain de Benoist

Eine Verfassung ist ein Dokument von grundlegender Wichtigkeit, weil sie einer politischen Einheit erst eine rechtliche Existenz verleiht. Die Bedeutung des Entwurfs für eine europäische Verfassung, den der EU-Konvent unter Vorsitz Valéry Giscard d'Estaings nach sechsmonatiger Arbeit am 20. Juni beim Gipfel von Thessaloniki vorstellte und über den die Regierungskonferenz momentan berät, läßt sich also nicht bestreiten. Die Unterzeichnung des Textes ist für Mai 2004 vorgesehen.

Mit einer gewissen Berechtigung kann man sagen, daß eine schlechte Verfassung Europa immer noch besser bekäme als gar keine. Alles weitere läßt sich erst nach eingehender Beschäftigung mit dem Text, mit seinen Stärken und Schwächen, beurteilen.

Was aber sofort ins Auge sticht, ist, daß der Verfassungsentwurf seinem Namen zum Trotz kein Entwurf einer Verfassung ist. Eine Verfassung setzt eine konstitutive Gewalt voraus. Weil sie das wichtigste juristische Dokument jeder demokratischen Gesellschaft ist, muß eine Verfassung vom Volk - oder zumindest von einer Versammlung, die von den Bürgern eigens zu diesem Zweck gewählt wurde - aufgesetzt, angenommen und verabschiedet werden.

Im vorliegenden Fall hätte also eine verfassungsgebende Versammlung gewählt werden oder wenigstens das Europaparlament selber in eine solche Versammlung umgewandelt werden müssen. Statt dessen wurde das Projekt einem aus Vertretern von Regierungen, Staaten, Nationalparlamenten, Europaparlaments und Europäischer Kommission zusammengesetzten Gremium anvertraut. Kein einziger unter ihnen hatte ein spezifisches Mandat, einen Verfassungsentwurf auszuarbeiten. Nach derzeitigem Stand sollen die Bürger nicht einmal durch eine Volksabstimmung an dem Projekt beteiligt werden.

Es handelt sich also weniger um eine Verfassung als um eine Art Vertrag mit Verfassungsrang, der wie ein Gesetz oder eine Vorschrift von den beteiligten Staaten angenommen wird - und das ist etwas völlig anderes. Ist die Verfassung erst einmal unterzeichnet, kann sie nur noch mit Einverständnis aller Parteien geändert werden. Das entspricht nicht verfassungsrechtlichem, sondern diplomatischem Verfahren. Mag der Entwurfstext noch so sehr betonen, die Europäische Union sei "durch den Willen der Bürger und Staaten" entstanden, tatsächlich spielt nur der Willen der Staaten eine Rolle.

Europa wird zum totalen Liberalismus verdammt

Darüber hinaus müssen bei jeder Verfassungsgebung zum einen die Werte festgelegt werden, die allen Mitgliedern der betreffenden politischen Einheit auferlegt werden sollen, zum anderen die Zuständigkeiten der verschiedenen Institutionen sowie ihr Verhältnis zueinander. Die Frage der Werte ist vor allem im Hinblick auf zukünftige Beitritte von besonderer Bedeutung, denn Artikel 1 des Entwurfs öffnet die Union "allen Staaten Europas, die ihre Werte achten".

Dementsprechend müßte der Verfassungstext so aufgesetzt werden, daß sich alle Bürger in ihm wiedererkennen - unabhängig von ihren sonstigen politischen Entscheidungen, die unter einem demokratischen Regime sehr verschieden ausfallen können. Die europäische Verfassung aber ist weit davon entfernt, alle politischen Richtungen unter einen Hut zu bringen. Im Gegenteil schließt der Text vieles von vornherein aus, indem er einzig und allein liberale Orientierungen berücksichtigt.

Der Textentwurf macht einen "gemeinsamen Markt", auf dem ein "freier, unverfälschter Wettbewerb" stattfindet, zum zentralen Ziel und höchsten Wert der Europäischen Union. Die Europäische Zentralbank erhält die wesentliche Funktion, die Preise stabil zu halten. Den Bürgern oder den Staaten wird keinerlei Einfluß auf die Währungspolitik zugestanden. Das Ziel einer unbedingten Handelsfreiheit wird so über alle anderen Zwecke gesetzt.

Das bedeutet nicht nur, daß nichts die Kapitalflüsse behindern darf, sondern auch, daß alle sozial- oder fiskalpolitischen Maßnahmen - ob es um Einwanderungskontrolle oder Umweltschutz geht - mit der Begründung abgelehnt werden können, sie "verfälschten" den freien Wettbewerb. Festzulegen, daß keine Politik möglich sein darf, die gegen diesen Wettbewerb gerichtet ist, läuft darauf hinaus, den Wettbewerb zum Selbstzweck zu erklären statt zu einem Mittel im Dienst der Beschäftigung, des Wachstums, des ökologischen Gleichgewichts oder der sozialen Gerechtigkeit.

Mit anderen Worten meißelt der Entwurf eine im strengsten Sinn liberale Politik als einzig verfassungskonform in Stein, die heutzutage aufgrund ihrer Auswirkungen zunehmend in die Kritik gerät. Wie Dominique Rousseau, Professor an der Universität Montpellier, schreibt, verleiht "dieser Verfassungsentwurf dem Prinzip des Liberalismus die Qualität des wichtigsten Rechtsgrundsatzes, auf dem die Legitimität aller Politik basiert, und zwingt die europäischen Bürger und ihre Vertreter, ihre Gesetze in die marktwirtschaftliche Ordnung einzuschreiben".

Sind sie einmal zur Verfassung erhoben, werden sich diese Orientierungen den Institutionen wie den Staaten aufzwingen. Der Entwurf verdammt Europa somit zum Liberalismus in allen Lebensbereichen, das heißt zur Herrschaft der Logik des Kapitals, während er zugleich das eigentliche Wesen der Politik und der Demokratie verleugnet, indem er dem souveränen Volk untersagt, seine Präferenzen und Entscheidungen frei zum Ausdruck zu bringen.

Es ist kein "Hüter der Verfassung" vorgesehen

Hinzu kommt, daß Artikel 40 verfügt, daß "bei der Umsetzung der engeren Zusammenarbeit im Bereich der gegenseitigen Verteidigung die beteiligten Staaten eng mit der Nordatlantikvertrags-Organisation zusammenarbeiten". Vorher heißt es, die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik müsse mit den Beschlüssen der Nato "vereinbar" sein. Diese Bestimmung schränkt die Außenpolitik der Europäischen Union von vornherein in ihrer Autonomie ein und vermindert fraglos ihre Unabhängigkeit.

Was die Entscheidungsorgane der Union angeht, verschlimmert der Entwurf in mancher Hinsicht noch die bereits herrschende Verwirrung, statt Klarheit zu stiften. Die Europäische Union soll künftig von drei unterschiedlichen Köpfen regiert werden: Der Vorsitzende des Europarats wird von den Ratsmitgliedern für eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren gewählt. Der Kommissionspräsident wird vom Rat vorgeschlagen und vom Parlament gewählt. Der Außenminister wird mit Zustimmung des Kommissionspräsidenten vom Europarat ernannt und soll als Vize-Präsident der Kommission zugleich mit dem Europarat zusammenarbeiten! Keinerlei Vorkehrungen sind für den Fall getroffen worden, daß diese drei Schlüsselfiguren untereinander uneinig sind.

Parallel dazu erhält das Parlament ein Vetorecht gegen Abkommen zwischen den Regierungen. Im Fall anhaltender Uneinigkeit zwischen dem Ministerrat und dem Parlament muß der betreffende Vorschlag automatisch zurückgezogen werden. Die neu hinzugekommenen parlamentarischen Gewalten sind somit ausschließlich negativer Natur, so daß die Institutionen in Zukunft eher noch schlechter funktionieren werden als bislang.

Zwar sieht der Entwurf ein Recht auf Volksinitiativen vor: Gesetzesvorschläge, die von einer Million EU-Bürger per Unterschrift unterstützt werden, können bei der Europäischen Kommission eingereicht werden (Artikel I-46 Paragraph 4). Aber eine solche Petition führt weder zu einem Referendum noch zu einer direkten Prüfung seitens des Europarats und des Parlaments. Es handelt sich also um eine rein formelle Handlungsaufforderung, der die Kommission nicht nachzukommen braucht.

Auch auf die Frage, wer die Verfassungskonformität juristischer Erlässe der Union überprüft, gibt der Entwurf keine Antwort. Es wird also eine Verfassung geben, aber keinen "Hüter" dieser Verfassung!

Im heute gebräuchlichsten Wortsinn ist eine Verfassung das Grundgesetz eines souveränen Staates. Der vorliegende Entwurf aber schreibt der Europäischen Union keinerlei Merkmale einer politischen Souveränität zu. Statt dessen soll die Union nur diejenigen Kompetenzen haben, die ihr in zwischen den Mitgliedsstaaten ausgehandelten Abkommen oder Verträgen zugesprochen werden.

Allgemein gesprochen erkennt der Text weder die Souveränität Europas an noch die der Völker, aus denen sich Europa zusammensetzt. Nirgends kommt die Absicht zum Ausdruck, Europa zu einer autonomen Macht zu entwickeln. Nirgends wird das politische Europa zu einem vorrangigen Ziel erklärt. Ohne ein solches politisches Europa aber kann es keine europäische Verteidigung und keine europäische Gesellschaft geben. Die europäische Staatsbürgerschaft soll die nationale lediglich ergänzen, statt sie zu ersetzen.

Natürlich weiß jeder, daß es sich bei diesem Verfassungsentwurf um einen Kompromiß handelt, dem schwierige Verhandlungen zwischen den Staaten vorausgingen. Wie jeder Kompromiß hat auch dieser den Nachteil, auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu basieren. Strittige Themen - die oft die wichtigsten sind - werden dabei umgangen. (Der Kompromiß zeigt sich eindeutig zum Beispiel daran, daß Großbritannien sein Vetorecht in Fragen der Fiskal-, Verteidigungs- und Außenpolitik behält.) In dieser Hinsicht stellt der Verfassungsentwurf keineswegs einen Schritt nach vorne dar, sondern paßt sich nahtlos in das "Stückwerk" der Verträge von Amsterdam und Nizza ein.

Der Vertragsentwurf bringt Europa keinen Schritt voran

Trotzdem ist der aus diesem Kompromiß hervorgegangene Text manchen noch "zu gewagt". In der auf 25 bzw. 30 Mitglieder erweiterten Union werden einstimmige Beschlüsse ein Ding der Unmöglichkeit sein. Es führt also kein Weg an dem Mehrheitsprinzip vorbei, das ab 2009 im Ministerrat gelten soll und vorsieht, daß ein Beschluß mit den Stimmen einer Mehrheit der Mitgliedsstaaten, die insgesamt mindestens sechzig Prozent der Bevölkerung ausmacht, angenommen wird. Staaten wie Polen oder Spanien wehren sich dennoch dagegen, weil sie in diesem Prinzip die Abschaffung der im Vertrag von Nizza eingeführten "blockierenden Minderheiten" sowie die ständige Gefahr einer gemeinsamen deutsch-französischen Übermacht sehen.

Der zur Debatte stehende Verfassungsentwurf bringt die Schaffung eines politischen Europas keinen Schritt voran. Gewiß läßt die Einsetzung eines europäischen Außenministers auf eine stärkere sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit innerhalb der Union hoffen. Wird aber das Mehrheitsprinzip nicht beibehalten, so kann diese Zusammenarbeit nur auf dem Papier bestehen.

Noch ist nicht abzusehen, welche Zugeständnisse noch in den endgültigen Text Eingang finden werden. Fest steht jedoch eins: Wenn Staaten wie Polen und Spanien auf ihrem Standpunkt beharren, wird genau jenes Europa entstehen, das die USA sich wünschen - ein Europa nämlich, das sich selber zu lähmender Ohnmacht verdammt hat.


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