© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/03 12. Dezember 2003

CD: Industrial
Wilde Schwermut
Tobias Wimbauer

Viele Künstler aus der Industrial/Neofolk-Szene berufen sich auf Ernst Jünger (1895-1998), zitieren ihn, ohne sich je wirklich mit seinem Werk auseinanderzusetzen. Ausnahmen gibt es freilich, zu denken wäre hier an Gerhard P. (Allerseelen), Nick Nedzynski (Lady Morphia) oder Michael Moynihans (Blood Axis) unübertroffenes "The Storm before The Calm". Einer, der es ebenfalls nicht nötig hat, mit dem Namen Jüngers zu protzen, ist der dem Vernehmen nach französische, ungenannt bleibende Künstler, der sich hinter dem Ambient-Musikprojekt His Divine Grace (HDG) verbirgt. Das zweite Studioalbum von HDG ist jüngst erschienen und heißt so, wie Jünger ursprünglich seine Erzählung "Auf den Marmorklippen" nennen wollte: "Die Schlangenkönigin", veröffentlicht auf dem Hau-Ruck!-Label von Albin Julius (Der Blutharsch) in Kooperation mit Tesco-Distributions (Tesco/Hau Ruck!-CD 42).

Wer Jüngers Œuvre kennt, dem fällt bei den Titeln dieser CD (etwa "Das Rote Waldvögelein" oder "Die Rautenklause") natürlich sofort der Bezug zu den "Marmorklippen" auf. Aber, und das spricht sehr für HDG, weder der Name des Werkes noch der Ernst Jüngers werden genannt. Denn es scheint dem Künstler nicht darum zu gehen, sich mit Schlagworten werbeträchtig in Szene zu setzen, sondern eher darum, eine stille Hommage an Jünger bzw. an die Welt der Großen Marina der Marmorklippen zu geben. Kürzere Rezitationen aus Jüngers Erzählung sind eingebettet in eine sanfte und mitunter bedrohliche Musik. Die Wortzitate stammen aus Christian Brückners Lesung der Erzählung.

Das Album spinnt den Hörer in eine Traumwelt ein, die jenseits der profanen Gegenwart zu liegen scheint. Es ist ganz Stimmung und Wirkung: eine "akustische Landschaft", um diesen Begriff von Gerhard P. zu verwenden. Der Schrei des Kuckucks ertönt - das war im "Abenteuerlichen Herz" des Oberförsters Art zu lachen -, und immer wieder sind Donnerklänge zu vernehmen, Symbol der Bedrohung, die über der alten Kulturlandschaft, der Marina, schwebt.

His Divine Grace bieten meditativ-ruhige Klänge, die trefflich die der Erzählung innewohnende Melancholie hörbar machen. Die Musik scheint sich an verschiedenen Vorgängern zu orientieren: etwa das Album "The Sadness of Things" von David Tibet (Current 93) und Steven Stapleton (Nurse with Wound). Auch eine innere Verwandtschaft ist zu erkennen: Handelt Tibet/Stapletons Kollaboration von der Traurigkeit der Dinge, so ist es bei HDG die "wilde Schwermut" des Weltenlaufs, dem das Individuum und die tradierte Kultur ausgesetzt sind. Andere Vorbilder vermag man zu sehen in Tor Lundvall/Tony Wakefords (Sol Invictus) CD "Autumn Calls" von 1998, die - im Gegensatz zur genannten "Sadness of Things" - ebenso wie His Divine Grace mit Streichern arbeitet. Und schließlich der im Winter 1996 eingespielte Klassiker "Die Weiße Rose" von Les Joyaux de la princesse Regard Extrême.

Die "Legendenbildung", die um HDG betrieben wird, ist reichlich albern. Da wird von ungarisch-französischen Geheimbünden, von Asiaten oder einem Moonchild geraunt ("Moonchild" war ein Buchtitel von Aleister Crowley und späterhin beliebter Spitzname in Gruftie-Kreisen). Sofern das nicht eine ironische Replik auf verschwörerische Anwandlungen der "Szene" sein soll, ist das schlicht überflüssig. Das vorgelegte Album spricht für sich und kann eigenständig bestehen ohne jeden Firlefanz.

Bleibt nur, auch denjenigen, die nicht so sehr szene-involviert sind, daß sie ohnehin alle einschlägigen Neuheiten erwerben, diese so stille wie gelungene CD zu empfehlen als Untermalung für dunkle Herbst- und Winternachmittage.


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