© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/03 12. Dezember 2003

Jenseits der Bildungsreformen
von Konrad Paulsen

Wenn man die pädagogischen Vorschläge betrachtet, die in diesen Wochen ventiliert werden, so ergibt sich der Eindruck, daß die Deutschen aus dem "Pisa-Schock" des letzten Jahres nicht viel gelernt haben. Wieder werden alle möglichen Tricks und Schliche ausgepackt, wie man den Schülern das Lernen schmackhaft macht. Doch Arbeit ist kein Vergnügen, und das Leben ist keine Rund-um-die-Uhr-Party. Wenn wir das nicht begreifen, sind alle Reformbemühungen verschwendete Zeit.

Pisa war niederschmetternd, weil Defizite in den Bereichen Lesefähigkeit und Textverständnis, Reflexion, Problemlösungs- und Anwendungsfähigkeit und damit bei den Grundlagen des Lernens ans Tageslicht kamen. Ohne diese Kompetenzen sind die andere Lerninhalte wertlos.

Daher muß vor allem Schluß sein mit der Diskreditierung von Anstrengung, Leistung und Leistungsmessung. Es muß wieder ins Bewußtsein dringen, daß Lernen auch Anstrengung bedeutet und mit Üben, Wiederholen, kurz mit Arbeit zu tun hat. Begriffe wie Fleiß und Gewissenhaftigkeit oder auch Disziplin müssen wieder positiv besetzt werden. Denn eine positive Einstellung zur Leistung stärkt das Selbstwertgefühl junger Menschen. Die Probleme, die Pisa ans Licht brachte, treffen nicht nur die Schule, sie wirken in alle Lebensbereiche hinein, in die Hochschulen, die Ausbildungsstätten und Arbeitsplätze. Schon jetzt klagen Universitätsprofessoren über die unzureichende sprachliche Ausdrucksfähigkeit und die mangelnde Studierfähigkeit der Studienanfänger. Betriebe bejammern mangelnde Kenntnisse der Auszubildenden. Der Wortschatz ist zu eng, Grammatik und Syntax wackeln, die Orthographie stimmt nicht. Es kommt also darauf an, bei aller Freude am Leben die Kinder schon frühzeitig an Leistung und Anstrengung und vor allem an regelmäßiges Lesen zu gewöhnen.

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, hat jüngst in einer eingehenden Analyse des Bildungssystems von den "Lebenslügen" deutscher Schulpolitik gesprochen: "Der Grundsatz muß heißen: breite Allgemeinbildung und breites Wissen! Wer erfínderisch und innovativ sein möchte, der muß erst einmal viel wissen, viel können, viel lesen. Wissen hat zudem eine staatsbürgerliche Funktion. Wer nichts weiß, muß alles glauben. Wissen aber schafft geistige Unabhängigkeit. Erst durch Wissen wird der Mensch zum Individuum, das seine Freiheit nutzen kann. Ein Mensch ohne Wissensfundus wäre das Lieblingskind eines jeden Diktators oder Demagogen."

Wilhelm von Humboldt sieht in jedem Menschen eine ursprüngliche, lernende Kraft wirken, die ihm eine eigentümliche Entfaltung und Entwicklung ermöglicht. Auch ihm geht es um breite Allgemeinbildung, um breites Wissen. Er geht davon aus, daß der Mensch diese innewohnende Kraft nur zu aktualisieren brauche, um diese Allgemeinbildung in einem langen Prozeß Gestalt werden zu lassen. Der Mensch hat also das natürliche Streben, den Bereich seines Wirkens und seiner Erkenntnis zu erweitern. Auch für Nietzsche ist klar, daß ein solches Lernen nur auf der Basis von Selbstdisziplin, Selbstbesinnung und Selbstkritik stattfinden kann, also auf der Basis einer strikten Leistungs-, Bildungs- und Zukunftsorientierung.

Strukturelle Reformen mögen richtig sein, aber vor allem muß wieder ins Bewußtsein dringen, daß Lernen auch Anstrengung bedeutet und mit Üben, Wiederholen, kurz mit Arbeit zu tun hat. Und Arbeit ist kein Spaß.

Aber Humboldt sieht auch, daß es nur wenigen Menschen gelingt, diesem Ideal zu genügen. Heute sind es die Medien, welche die Menschen von sich wegführen und die Individualität einem Massendasein opfern. Mit dieser allgemeinen Nivellierung nach unten wird Einseitigkeit, Ich-Schwäche und Egozentrismus hervorgerufen statt Harmonie, Ganzheit und Stärke des Selbst. Leben heißt evolutionsgeschichtlich stets Überwinden von Schwierigkeiten, aktive Anpassung an die materiellen Gegebenheiten des Kosmos und der Kultur. Man fördert das Verständnis der nationalen kulturellen Standards am ehesten, wenn man nicht bloß ehrfürchtig die kulturellen Leistungen der Vergangenheit und Gegenwart anstaunt, sondern sich diese in einem Akt aktiven Strebens nach seinem Horizont aneignet. Immanuel Kant hat in seiner kleinen Abhandlung "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" erklärt, daß alle Lebewesen ihren Naturzweck darin finden, daß sie ihre Organe entfalten und entwickeln. Das spezifisch menschliche Organ ist dabei die Vernunft.

Der Mensch muß sich durch seine Taten schaffen, er ist nolens volens das Ergebnis seiner Leistungen und Fehlschläge, seiner Unterlassungen und Entscheidungen, in jedem Falle also das Produkt seiner Eigenaktivität. Für den Bereich des Bildungs- und Weisheitsstrebens bedeutet dies das Bemühen, möglichst differenzierte und weitläufige Bildungsinhalte für die Entwicklung und Erkenntnis der eigenen Person wirksam werden zu lassen.

Die Mittel zur Selbsterziehung bekommt man erst dann in den Griff, wenn der vernünftige Mensch sich mit den Künsten, mit Politik und den Wissenschaften beschäftigt, wenn er eine praktische Lebensphilosophie überhaupt ausbildet, die in der Kultur und ihrem Aufbau fundiert ist.

Nicht Spielball fremder Mächte, des Zufalls, der Politik, der göttlichen Vorsehung soll der Mensch sein, sondern er entnimmt einem vorgegebenen Rahmen seiner jeweiligen Epoche, der Kultur, seiner Familie und seines Volkes die Bausteine seines Lebens. Doch sind Fatum und Geschick allgegenwärtig, von der Geburt an bis zum Tod, jederzeit kann man von Schicksalsschlägen getroffen werden, und insofern kann unsere Existenz nicht beliebig frei gestaltet werden.

Ein wesentliches Mittel des sich Bildenden und Freien ist die Welt der Bücher. Bücher sind unsere angenehmsten Freunde; sie verharren stumm auf ihren Plätzen und öffnen uns bei Bedarf ihr Gedankenmagazin. Es geschieht mühelos, Schriften in die Hand zu nehmen, aus denen die klügsten und vornehmsten Geister der Jahrhunderte und Jahrtausende zu uns sprechen.

Durch Bücher von Goethe, Schiller, Humboldt, Fichte, Nicolai Hartmann, Montaigne, Seneca, Nietzsche und Schopenhauer ist man im Nu im Gespräch mit diesen Koryphäen und wird für die triste Gegenwart entschädigt. So sagt Seneca: "Bei bestimmten Geistern muß man verweilen und sich von ihnen durchdringen lassen, wenn du etwas gewinnen willst, was in der Seele zuverlässig Platz finden soll." Nietzsche nennt es ein "großes Geistergespräch", was zwischen den Philosophen über die Jahrhunderte stattfindet.

Daß ein großes Lebenswerk - 143 Bände umfaßt die Sophienausgabe der Werke Goethes - überhaupt entstehen kann, hat Einsamkeitsfähigkeit und große Strebsamkeit zur Voraussetzung. Goethe konnte sich jederzeit in sein Gartenhaus zurückziehen, dort umfing ihn große Stille. Denn Personwerden braucht nicht nur Mut, sondern auch Ruhe, in der die Ideale keimen können.

Heute gehören Inseln der Stille zu den knappsten Gütern der Erde. Die Hauptsignaturen des Zeitalters sind Informationsüberschwemmung und Verlärmung, endloses Geschwätz mit steter Hintergrundmusik, die den Menschen einer Außensteuerung überläßt, die ihn unfähig macht, sein Selbst auszubilden. Überall steigen Lärmsäulen hoch, Stille wird nirgendwo mehr geduldet, obwohl sie doch Voraussetzung weisheitlichen Lebens ist. Ein anschwellendes Wort-, Musik- und Lärmband umhüllt die Erde - aus Gedankenlosigkeit (im wortgenauen Sinne), aus Angst vor Stille (horror vacui) und aus Gewinnsucht ... Wir bestaunen die letzten Naturoasen, fühlen uns beglückt, wenn wir in einsame Berge steigen und auf dem Gipfel den Rundblick genießen dürfen. Wo immer möglich, muß sich der Weise dem Dauergelaber entziehen, er meidet Talkshows und endlose Podiumsdiskussionen, die nicht der Sache dienen, sondern der ablenkenden Unterhaltung.

Wer sich in der Geschichte umschaut, wird bald feststellen, daß die großen Geister - Philosophen, Soziologen, Schriftsteller, Dichter, Komponisten oder Maler - ihr Werk stets in der Stille schufen, ja, Stille und Einsamkeitsfähigkeit sind die Voraussetzung für kreatives Schaffen und Bilden. Auch die Kunst des Schweigens gehört hierher, sie ist gelebte Erkenntnis, auch wenn der Weise dadurch den Anschein des Unwissenden, des Unzeitgemäßen oder Überheblichen erweckt. Mitten im Wortgeklingel einsam für sich bleiben zu können, stärkt das Selbst, wenn es einen auch zum Diskussionsverderber macht. Entschlossene Tätigkeit gibt ihm mehr existentielle Tiefe als die Teilhabe an Diskursen.

Denn die postmodernen Jetzt-Euphoriker, die durch Musik und Drogen, Sex und bildungsloses Ego-Gelaber ihren Selbstkult perpetuieren, haben weder Erdenschwere noch Bindungen an die Vergangenheit. Die "erfahrungslosen Erwarter" (Odo Marquard) der kollektiven Massenraserei kennen nur Kurzzeitbedürfnisse; in diesem Siegeszug des Situativen wird jede Stille getötet. Der Einzelne muß sich daher von den Vielschwätzern und Zeitdieben, von den Geistlosen und Denkfaulen, von den Unhöflichen, Vergnügungssüchtigen und Oberflächlichen absetzen und seiner Wege gehen, denn diese Protagonisten der Wegwerfgesellschaft leben "herkunftsvergessen und hinkunftsblind". Was bedeutet dies?

Die Augenblickskulte wollen die "erfüllte Jetztzeit" anhalten, aber genau dies ist dem Menschen nicht möglich. Man kann weder die Zeit anhalten noch dauerhaft in glücklicher Erfüllung leben; so muß der Absturz unabwendbar folgen. Das natürliche Altern ist ohne die Perspektive der Zukunft kaum zu ertragen. Wer keine eigenen Nachkommen hat, muß sich wenigstens mit einer lebendigen Gesellschaft identifizieren können. Sonst verfällt man der Melancholie oder dem Selbstbetrug. Der ganze westliche Kulturkreis, der nur noch genießen und wenig arbeiten will, wird erleben, daß ohne den Horizont der Vergangenheit keine lange Zukunft dieser Völker zu erwarten ist.

Wer sich in der Geschichte umschaut, wird bald feststellen, daß die großen Geister ihr Werk stets in der Stille schufen. Einsamkeit ist die Voraussetzung für eigenes Schaffen, nicht aber Lärm und endloses Geschwätz.

Wer Bleibendes hinterlassen will, muß einen Lebens- und Kulturstil entwickeln und pflegen; wer nur Berge von Abraum und Müllpyramiden hinterläßt, geht unter, wenn er nicht auf Kultur und Mythos soviel Wert legt wie auf den äußeren Erfolg. Goten und Vandalen hatten ebenso wie die Phönizier, Griechen und Römer nur relativ kurze Auftritte auf der Weltbühne. China aber hält bis heute, durch alle Systeme hindurch, an seiner vieltausendjährigen Geschichte und Kultur fest.

Dies sah auch Nietzsche, der will, daß die Bildungskraft nicht beim Nihilismus stehenbleibt. So beschwört er das "aufsteigende Leben", der Nihilismus soll durch neu zu setzende Werte überwunden werden, er will den höheren Menschen. Zwar erlitt der Übermensch des Zarathustra eine Entzauberung, doch einen "höheren Typus", freilich einen entgöttlichten, visiert Nietzsche weiterhin an; so sagt er: "Euer Kinder Land sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel, das unentdeckte, im fernsten Meere! Nach ihm heiße ich eure Segel suchen und suchen!" Hans Carossa ergänzt dies, denn wir seien "Widerhall ewigen Halls!"

Es kommt also darauf an, in den jeweiligen Völkern und Kulturen persönlichkeitsstarke Menschen und Träger von Kulturwerten hervorzubringen, die jene mehr oder weniger zeitlosen Werte in die Zukunft zu transferieren vermögen. Ottmar Kliem kommt zu dem Befund: "Persönlichkeitsstarke Naturen sind überzeugt, daß sie die Ursachen für Erfolg oder Mißerfolg in sich selber zu suchen haben. Sie pflegen eine verantwortungsethische, unternehmerische Gesinnung, sind wißbegierig, setzen ihr Wissen in Handlungen um und fühlen sich selten psychisch und sozialkulturell entfremdet. Man nennt sie intern Kontrollüberzeugte, im Gegensatz zu persönlichkeitsschwachen Menschen, die das Schicksal, den Zufall, die Gesellschaft oder andere Menschen für ihre Erfolge oder Mißerfolge verantwortlich machen. Verhaltenssteuernd ist also der Überzeugungsbezug (intern oder extern)." Hinzu kommen noch unerschrockenes Denken und Wertbindung, also ein starker Glaube an einen Lebenssinn, verbunden mit Selbstbewußtheit im Können und Lösungsfreude im Handeln. Ihr Denkmotto lautet: "Was immer kommen mag, ich werde es schon schaffen."

Doch diese sinngebenden Werte werden anderen nicht - wie dies bei den religiösen und politischen Führern weltweit zu beobachten ist - aufgezwungen; dies ist, da sie "Fehlerfreundlichkeit" zeigen, auch gar nicht möglich. Und von Nietzsche am allerwenigsten gewollt.

Das Individuum befiehlt sich dabei nur die ihm eigenen und von der Kultur und dem Volk vorgegebenen Ziele und bewirkt dadurch Einzigartigkeit, Ausdifferenzierung, Gestaltung und Koordination seines eigentümlichen inneren Reichtums samt wechselseitiger Durchdringung der Sinne und des Geistes. Selbständiges Denken setzt ferner die Fähigkeit voraus, sein Denken auch methodisch zu kontrollieren. Diese Fähigkeit nennt man Disziplin. Selbstdisziplinierung des Denkens war eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Überwindung der mittelalterlichen offenbarungsreligiösen Denkungsart.

Erst mit der Disziplinierung des Denkens beginnt die Vernunft autonom zu werden. Ziel einer solchen Individuation und des Differenzierungsprozesses ist also der einmalige, unverwechselbare Mensch, als der man angelegt ist. Der Mensch soll zu einem kulturbezogenen Einzelwesen werden, abgelöst von den Maßstäben des Kollektivismus und der vermaßten Gesellschaft, wie sie schon Martin Heidegger Mitte der 1920er Jahre beschrieb. Abgelöst also von Rollenerwartungen, von dem, was "man" denkt und tut. Selbstwerdung ist nicht nur Selbstbestimmung, sondern auch ein Prozeß des Mündig-Werdens, der Selbstzentrierung, also des Erlebens der Schicksalhaftigkeit der jeweiligen Lebenssituation.


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