© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/03 19. Dezember 2003 u. 01/04 26. Dezember

Bundestag
Wer ist "Wir", Herr Thierse?
Dieter Stein

Auf einer seiner letzten Sitzungen vor der Weihnachtspause beschäftigte sich der Deutsche Bundestag am 11. Dezember noch einmal mit den Ausläufern der über das Land hinweggerollten Hohmann-Kampagne. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hielt in seiner unnachahmlichen Mischung aus Selbstgerechtigkeit und geübtem Betroffenheits-Tremolo eine Rede, die unfreiwillig dokumentiert, auf welch deprimierendes intellektuelles Niveau das deutsche Parlament inzwischen gesunken ist. Melancholisch erinnert man sich an die Redner vom Schlage Rainer Barzels, Willy Brandts, Franz-Josef Strauß', Kurt Schumachers oder Konrad Adenauers zurück.

Ein Grund, weshalb die Rede Martin Hohmanns verunglückte, ist eben auch, daß es keine geschichtspolitischen Debatten im Hohen Haus gibt. Man begnügt sich immer mehr mit dem Deklamatorischen, mit dem Herunterbeten einer Schuld-Liturgie, die an Gedenktagen routiniert abgearbeitet wird.

Jener immer formelhafter und gestanzter, aber auch immer inhaltsleerer werdenden Lyrik entstammt auch die - wahrlich gut gemeinte - "Antisemitismus-Erklärung" des Bundestages, die von den Parlamentariern einstimmig verabschiedet worden ist.

Doch was verrät die Sprache, mit der man sich zum "Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung" bekennt? Große Unsicherheit und ein gestörtes Selbstwertgefühl. So ist sowohl in der Erklärung als auch in Thierses rhetorisch erbärmlichem Vortrag immer nur dann von "den Deutschen", "uns Deutschen", "gerade wir Deutschen" die Rede, wenn es um "Schuld", "Verantwortung", "Wiedergutmachung", also das Negative geht, mit dem die Identität des Kollektivs bezeichnet werden soll, das auf dem Sims des Reichstages noch "deutsches Volk" genannt wird. Geht es einmal nicht um das "Tätervolk", das es für Thierse und Hohmann nicht geben soll, dann ist im neutralen oder positiven Sinne urplötzlich nicht mehr von "den Deutschen", "gerade wir" oder womöglich gar dem "deutschen Volk", sondern, wie in der "Antisemitismus-Erklärung", "den Menschen in Deutschland", der "Gesellschaft" die Rede.

Die Bundestagsresolution kritisiert vollkommen zu Recht die Gedankenlosigkeit dessen, der "'die Juden' sprachlich ausbürgert, indem er sie 'den Deutschen' gegenüberstellt und sie damit zu Fremden im eigenen Land macht". Wer soll sich dann aber angesprochen fühlen, wenn Thierse mit bebender Stimme und geballten Fäusten sagt: "Auch wir Deutschen haben gelernt." Und dann: "Michael Wolffsohn, der Jude und deutsche Patriot ..." Also hat noch nicht einmal der Bundestagspräsident seine eigene Resolution verstanden?

"Gerade wir Deutschen dürfen niemals darin nachlassen, antisemitische Vorurteile zurückzuweisen" (Thierse) - "wir Deutschen"? Also doch die Gemeinschaft der Täter, der Töchter und Söhne der Täter, aus der Juden in diesen philosemitisch gewandeten Worten freundlich lächelnd ausgebürgert werden ...


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