© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/03 19. Dezember 2003 u. 01/04 26. Dezember

Ein Elefantenzahn von Albert Schweitzer
Wenn die Geschichte ihre Furchen zieht: Am 18. Dezember wäre Willy Brandt 90 Jahre alt geworden
Doris Neujahr

Im Rückblick erscheinen der Zerfall der DDR und die Wiedervereinigung als Folgen einer selbstverständlichen Entwicklung. Doch diese Selbstverständlichkeit existierte nicht. Immer wieder gab es Weggabelungen, Situationen, wo die Zukunft offen war, wo es mutige Entscheidungen brauchte und das Stehvermögen, um diese durchzukämpfen. Wären die Akteure zaghaft gewesen, wäre es ganz anders gekommen. Entscheidend für die Wiederherstellung der deutschen Einheit war das Schicksal Berlins, die Behauptung der westlichen Teilstadt. Mit der Grenze entlang der Elbe oder durch den Harz hätte man sich irgendwann abgefunden, die DDR-Bürger resignierend, die Westdeutschen pragmatisch bis gleichgültig. In Berlin aber, wo die Grenze Straßen durchschnitt, wirkte die Teilung als Wunde und anhaltende Provokation.

Die Stadt erlebte nach 1945 mehrere lebensgefährliche Momente. Der erste war die Berlin-Blockade 1948/49. Damals erwuchs der Stadt im Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter eine charismatische Führungsgestalt. Willy Brandt, sein engster Mitarbeiter, schrieb in seinen Memoiren, daß der amerikanische Militärgouverneur, General Lucius D. Clay, sich unter dem Eindruck von Reuters Festigkeit entschloß, die Luftbrücke zu bauen. Sie endete mit der ersten großen Niederlage der Sowjetunion.

Die zweite Risikophase leitete das Chruschtschow-Ultimatum von November 1958 ein, das mehrmals erneuert wurde. Regierender Bürgermeister war in dieser Zeit Willy Brandt. Die Sowjetunion verfügte inzwischen über Wasserstoffbomben und Interkontinentalraketen. Dadurch unangreifbar geworden, erschien ihr die Neutralisierung Deutschlands als Gegenleistung für die Herausgabe der DDR - was Stalin noch 1952 vorgeschlagen hatte - nicht mehr attraktiv.

Chruschtschow wollte Deutschland und dem Westen einen Schlag an ihrer schwächsten Stelle versetzen. Er spekulierte - und zwar über den Mauerbau hinaus - auf die Zermürbung West-Berlins, das ihm als reife Frucht in den Schoß fallen sollte. Er verlangte seine Umwandlung in eine "Freie Stadt" und den Abzug der Westalliierten, andernfalls würde er Ulbricht die Kontrolle der Zugangswege überlassen.

Nicht wenige Politiker schwankten. Verteidigungsminister Franz Josef Strauß forderte von Brandt anzuerkennen, daß West-Berlin zu einer unzumutbaren Belastung für den Westen geworden sei und man zu einer "halbwegs akzeptablen Frontbegradigung" kommen müsse. Brandt widersetzte sich solchen Vorhaltungen energisch auf allen Ebenen. Die "Freie" sei in Wahrheit eine "vogelfreie" Stadt. Der Urwaldarzt Albert Schweitzer sandte ihm einen Elefantenzahn mit dem Hinweis, der Berliner Bürgermeister habe jetzt Zähne zu zeigen.

Es war wesentlich Brandt zu verdanken, daß die Berliner nach dem Mauerbau am 13. August 1961 genügend Vertrauen zu sich selber faßten, um nicht massenhaft zu exilieren. Auf der Kundgebung am 16. August vor dem Rathaus Schöneberg mit 300.000 Teilnehmern - auf Plakaten war unter anderem "Berlin bleibt deutsch!" zu lesen - lief Brandt zur Hochform auf. Er sprach von Zorn, Verzweiflung und Erbitterung - Gefühle, die ihn selber bewegten. Es gelang ihm, seiner Stimme Festigkeit zu geben. Er prangerte Chruschtschow und dessen "Kettenhund Ulbricht" an. Die DDR-Militärs fordert er auf: "Laßt Euch nicht zu Lumpen machen! Schießt nicht auf die eigenen Landsleute!" An die Westalliierten richtete er die Forderung: "Berlin erwartet mehr als Worte!" Es ging ihm darum, wenigstens psychologisch in die Offensive zu gehen, wo die Handlungsmöglichkeiten so gering waren.

In der Deutschen Zeitung vom 18. August 1961 warf Johannes Gross ihm vor, "Demagogie" zu betreiben. "Seine rhetorische Anstrengung, gerichtet gegen Ulbricht, wirkt als Bumerang gegen das Vertrauen in das westliche Bündnis, die Grundlage unserer Sicherheit und Freiheit."

Was Brandt aber aufwühlte, war die Tatsache, daß die bisherige Politik die Teilung vertieft hatte und der Westen sich nur zu gerne damit abfand. In den achtziger Jahren äußerte er mehrmals, die Wiedervereinigung sei die "Lebenslüge" der Bonner Republik gewesen. Dafür wurde er viel gescholten. Kein Wunder, er hatte eine - unbequeme - Wahrheit ausgesprochen.

Aus der eigenen Hilf- und der westlichen Tatenlosigkeit von 1961 zog er den Schluß, daß die Deutschen sich um die Wiedervereinigung selber kümmern müßten. Diese Erkenntnis stand am Anfang seiner Vertragspolitik mit dem Osten. Brandt stellte sich ausdrücklich in die Tradition Bismarcks. 1971 erklärte er zum 100. Jahrestag der Reichsgründung, Bismarck sei einer "der großen Staatsmänner unseres Volkes". Weil die Bedingungen heute andere seien, könne die Reichsgründung zwar kein Vorbild sein. "Wirken und Leistung Bismarcks sind jedoch ein bleibendes Beispiel dafür, daß nur mutiges und kluges Handeln, nicht aber tatenloses Abwarten uns den gesetzten Zielen näherbringt."

Im März 1970 war er als Kanzler nach Erfurt gereist, um sich mit dem Ministerpräsidenten der DDR zu treffen. Spontan versammelten sich Tausende Menschen vor seinem Hotel und riefen: "Willy Brandt ans Fenster!" Brandt antwortete mit einer Geste, die um Zurückhaltung bat. Die übermenschliche Anspannung dieses Augenblicks beschrieb er so: "Ich war bewegt und ahnte, daß es ein Volk mit mir war. (...) Aber es drängte sich die Frage auf, ob hier nicht Hoffnungen aufbrachen, die nicht - so rasch nicht - zu erfüllen waren."

Die Annäherung geriet zur Anbiederung

Wegen der Verträge mit Polen und der Sowjetunion ist sein Ausspruch von 1963 auf ihn selber gemünzt worden: "Verzicht ist Verrat". Es ging Brandt jedoch darum, in der Deutschland- und Außenpolitik wieder manövrierfähig zu werden. Auf den Bildern von der Vertragsunterzeichnung 1970 in Warschau erscheint er tiefernst, fast wie erstarrt, als jemand, der sich ins Unvermeidliche schickt, um weiteren Schaden von seinem Volk abzuwenden.

Auch der Fraktionschef der CDU/CSU, Rainer Barzel - ein Ostpreuße - wollte, trotz mancherlei Einwände, das Vertragswerk nicht zu Fall bringen. Und kaum war es durch den Bundestag gebracht, bekannte CSU-Chef Franz Josef Strauß : "Pacta sunt servanda!"

Innenpolitisch verlief Brandts Kanzlerschaft von 1969 bis 1974 wenig erfolgreich. Dem überbordenden Reformeifer seiner Partei konnte er keine Zügel anlegen. Die Staatsverschuldung stieg abrupt an. Und der angestrebte deutschlandpolitische "Wandel durch Annäherung" geriet in den 1980er Jahren zur "Anbiederung" - nicht nur bei den Sozialdemokraten, wie die Gesprächsprotokolle christdemokratischer Politiker mit Honecker belegen.

Sofort nach dem Mauerfall eilte er nach Berlin. Sein legendärer Ausspruch: "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört!", enthält ein biologistisches Bild. Die deutsche Einheit rechtfertigte sich nicht erst durch den "Verfassungspatriotismus", sondern primär durch das Naturrecht.

Mit diesem Bekenntnis hatte er das linksliberale juste milieu mattgesetzt, das für ein paar entscheidende Momente das Maul halten mußte. In gewisser Weise war er der erste gesamtdeutsche Präsident. In seinem Altersgesicht hatte die deutsche Geschichte mit eisernem Griffel ihre Furchen gezogen. Zum Schluß wurde es noch einmal von Glück und Hoffnung überglänzt. Die Hoffnung galt dem Land, nicht mehr seiner geschichtslos gewordenen Partei.

 

Willy Brandt: Am 18. Dezember 1913 in Lübeck unter dem Namen Herbert Ernst Karl Frahm geboren, emigriert der 20jährige Sozialist nach Norwegen, nennt sich fortan Willy Brandt, ist journalistisch tätig und schreibt unter anderem das Buch "Verbrecher und andere Deutsche". Nach dem Krieg kehrt er nach Deutschland zurück und wird 1949 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 1957 bis 1966 ist er Regierender Bürgermeister von Berlin, danach bis 1969 Bundesaußenminister der Großen Koalition. 1971 erhält er den Friedensnobelpreis. Seit 21. Oktober 1969 Bundeskanzler, tritt er am 6. Mai 1974 im Zuge der Guillaume-Affäre zurück. Von 1964 bis 1987 ist er SPD-Parteivorsitzender. Willy Brandt stirbt am 8. Oktober 1992 in seinem Wohnort Unkel. (tha)


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