© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/03 19. Dezember 2003 u. 01/04 26. Dezember

Das Volk ist mehr als die Mehrheit der Stimmen
Das Politische kehrt zurück
von Bernd Rabehl

Vor fast genau fünf Jahren hielt ich einen Vortrag am gleichen Ort. Er trug den Titel: "Ein Volk ohne Kultur kann zu allem verleitet werden." Er erhielt eine erstaunliche Aufmerksamkeit. Die Kritik an meinen Ausführungen überwog. Mir wurde angekreidet, daß ich mich als marxistisch orientierter Denker überhaupt mit dem "Volk" befaßte und Volk und Kultur in Beziehung setzte. Der soziologische und zugleich philosophische Begriff des "Fremden" wurde nicht akzeptiert und seine Bedeutung für die Selbstfindung von Volk und Nation bestritten. Die Sichtweise einer nationalrevolutionären Interpretation von deutscher Geschichte und der Entwicklung von Staat und Recht wurde mir verübelt. Zuwanderung als eine Art "Besetzung" der deutschen Großstädte zu betrachten und die Politisierung von Teilen dieser "Fremden" durch ausländische Partisanen und Geheimdienste zu benennen, wurden mir als fremdenfeindliche Polemik unterstellt. Allein der Zweifel daran, daß ein weitgehend entkultiviertes Volk wie die Deutschen gar nicht mehr die Zuwanderer integrieren konnten, wurde mir nicht zugestanden. Die Ideen von "'68" in einen Zusammenhang von "nationaler Befreiung" zu stellen und als einen Versuch zu sehen, die antikolonialen Befreiungskämpfe Chinas, Vietnams und Nordafrikas auf Deutschland zu übertragen, um die Besatzungsmächte aus dem Land zu drängen, wurde mir als "Geschichtsfälschung" angelastet. Der Makel des "Verräters" wurde mir angeheftet.

Diese propagandistischen Attacken gegen mich erinnern an die vielen Fälle von Rufmord. Die Muster von Denunziation und Personenhetze waren bereits bei Syberberg, Nolte, Walser, Hohmann u. a. zu erkennen. Nicht mehr die Anlässe, Themen, Probleme, Texte wurden diskutiert und kritisiert, sondern einzelne Begriffe oder Wortfetzen wurden aus dem Zusammenhang gerissen und zugleich der "Täter" in eine bestimmte Rolle des Abweichlers und Störenfrieds gedrängt. Beliebt war, ihn in der rechtsradikalen Ecke festzunageln. Namen sollten zerstört werden, um sie aus der Öffentlichkeit herauszunehmen und sie als Personen der Zeitgeschichte zu verbrennen. Zu den herrschenden Ansichten und inszenierten Meinungen sollten keinerlei Alternativen bestehen. Es wurden Tabuzonen und Meinungsmauern errichtet. Es entstand eine Art Zensur, die zwar nicht die zentrale Zensurbehörde kannte, jedoch hielten sich die unterschiedlichen Institutionen von "Öffentlichkeit" an ein offizielles Weltbild, das genehme und unangenehme Themen und Personen kannte. Die unterschiedlichen Medien folgten dieser Weltsicht und nahmen begierig an den "Verbrennungen" unangenehmer Denker teil, um die Anschauungen der Kunden zu bestätigen und um zugleich die Sensationsgier und den Skandal zu bedienen. Die Sachverhalte wurden nicht mehr überprüft. Bei Konsumenten und bei den Medienmachern breitete sich Schadenfreude aus, bestimmte Personen außerhalb des Machtkartells in den Dreck zu ziehen. Die Ausgrenzungen besaßen einen Selbstlauf, denn es wirkte ein Mechanismus von Halbwahrheiten und Gerüchten, der den "Ketzer" in den Sog von Legenden und Lügen riß.

Entweder Deutschland wird selbst zur Interventionsmacht, oder der internationale Partisanenkrieg wird nach Deutschland hineingetragen und erfährt Resonanz im Spektrum der vielen Einwanderer oder Außenseiter.

So entstand in Deutschland eine neue Gestalt von Opportunismus, der im Bann des vorherrschenden Talk stand und die "Schicksalsfragen" von nationaler Selbstbehauptung oder von Krieg und Frieden nicht mehr zuließ. Verfassungsschutz, das herrschende Parteienkartell, Linksextremisten, fast alle Varianten von Rechtsradikalismus und vor allem die selbsternannten Moralwächter aus Politik und Philosophie dienten alle dem Ziel, die Unversehrtheit einer historischen Lage zu beschwören. So kam es zu den Absurditäten, daß Parteien wie die CSU/CDU im Falle Hohmann wie früher die SED auf eine obskure "Parteilichkeit" und "Disziplin" drängten, ohne den Text des Dissidenten zur Kenntnis zu nehmen oder gar zur Diskussion zu stellen. Die bundesdeutsche Gesellschaft verlor Schritt für Schritt das verfassungsmäßig verbriefte Recht der freien Meinungsäußerung. Die mediale Öffentlichkeit wurde zum Gestalter vorgefaßter und manipulierter Ansichten.

Eine solche Situation entbehrt jeglicher Normalität. Wir wissen von den Analytikern des "Antisemitismus", etwa von Horkheimer, Arendt und Hillberg, daß der aufsteigende Haß auf die Juden als Symbole von Veränderung und des "Fremden" in den vergangenen Jahrhunderten von Anfang an totalitäre Ziele verfolgte. Er war Indiz dafür, daß Europa in Kriege und Bürgerkriege sich hineinbewegte und der Feind als das absolut Böse fixiert werden sollte. Es ist anzunehmen, daß der militante Feindverdacht gegen jeden, der die Fragen der Zeit aufnimmt, heute ähnlich totalitär aufgeladen ist. Nach einer Periode des Friedens, der allerdings nur in Europa durch den "Kalten Krieg" der Großmächte gesichert wurde, werden nach dem Zusammenbruch des Kommunismus neue Interventionsfelder für die westliche Welt definiert. Der Feind soll neu gesichtet werden und die Züge des menschenfeindlichen Ungeheuers erlangen. Die ersten Kriege in Afghanistan. Afrika oder Nahost sind totalitär und zerreißen die Grenzen zwischen Zivilbevölkerung, Partisanen, Armeen, klandestiner Einsatzgruppen usw. und ignorieren die Hegung des Krieges als Völkerrecht.

Deutschland als ein geopolitisches Zentrum Europas, als Wirtschafts- und Militärmacht, wird vielfach in diese neuen Kriege hineingerissen. Entweder mutiert es selbst zur Interventionsmacht, oder der internationale Partisanenkrieg wird durch die unterschiedlichen Geheimgruppen und Dienste nach Deutschland hineingetragen und erfährt Resonanz im Spektrum der vielen Einwanderer, aber auch der einheimischen Außenseiter. Krieg war also nicht nur die "Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln", sondern auch umgekehrt trug die Politik die Spuren von Krieg als das dramatische Ereignis eines Volkes. Darüber fand dieses Volk die Potentialität von Selbst- oder Neubestimmung, oder der Verzicht auf Positionierung war Ausdruck dafür, daß dieses Volk ein Objekt von Politik wurde. Die selbsternannten "Friedensfürsten" in Deutschland wachten nun darüber, daß dieses Thema nicht angesprochen wurde. Es ist fast anzunehmen, daß sie bei dieser Tabuisierung des Krieges nicht eigenen Antrieben, sondern auch fremden Einflüsterungen folgten

Meine Motive, über Volk, Nation, Besetzung und Befreiung nachzudenken, entstammten Stimmungen und Beobachtungen nach 1990 und vor allem nach dem Regierungsantritt der neuen Koalition nach 1998, daß nach dem Ende des Kalten Krieges die potentiell neuen Kriege das "Politische" in Europa festlegen würden. Deshalb wurde für mich bedeutsam, den Zustand einer Gesellschaft nach der weitgehenden Auflösung der Klassen und dem Zerfall der "bürgerlichen Ordnung" als Sozial- und Rechtsstaat zu überdenken. Es galt, Kriterien zu finden, diese sozialen Erosionen zu benennen. Entstand erst jetzt eine undefinierbare Massengesellschaft, die jeden kulturellen Halt einbüßte und Objekt wurde einer "Kulturindustrie" und der Ansprüche von verselbständigten Machteliten, die für wachsende Kriminalisierung und Korruption offen waren? Oder kehrte nach dem Ende der Klassen das "Volk" zurück, das sich jetzt als eine europäische Größe gegen andere Völker behaupten mußte? Als marxistisch orientierter Denker bezog ich mich auf die Bestimmungen von Volk, die vor allem Engels, Gramsci, Fanon und Bloch angedacht hatten. Diese Sicht konfrontierte ich mit den Erörterungen einer liberalen und konservativen Soziologie über "Gemeinschaft und Gesellschaft". Die Vorstellungen von "Nation" bei Marx, Bauer, Lenin, Stalin u.a. konfrontierte ich mit der aktuellen Verneinung dieser Kategorie in der europäischen Verfassungsdiskussion. Lösten sich also Klassen in Volk und Nation und diese in Massen oder "Bevölkerung" auf, oder definierten die kommenden Kämpfe Europa oder die westliche Welt zu neuen "politischen Gemeinschaften", oder übernahmen die Zuwanderer als Bestandteile "geschichtswilliger Völker" die Aufgaben, die "geschichtslosen Völker" zurückzudrängen und Europa neu zu ordnen? Ich habe keine endgültigen Antworten. Ich lasse mir jedoch nicht den Mund von Ideologen oder Dummköpfen verbieten. Es mag sein, daß sie eine "Friedensperiode" absolut setzen. Sie vergessen dabei, daß die waffentechnische Überlegenheit der USA den Ausbruch von Kriegen in Europa verhinderte. Heute nun zu hoffen, daß diese Großmacht wiederum Europa oder Deutschland abschirmen würde, ist eine Illusion. Es gilt, alle Fragen und Probleme anzusprechen und die ideologischen Tabuzonen einzureißen.

Die Sätze der "Vorrede" sind nicht einfach so dahingesagt, und sie leben auch nicht von einer obskuren Verdachtspsychologie. Sie sind Produkt der intensiven Beobachtung der Politik von Bundeskanzler Schröder im vergangenen Jahr. Das Spiel, das dieser Politiker mit dem Wahlvolk eröffnete in dem Moment, als seine Wiederwahl gefährdet war, beweist, daß die politische Klasse durchaus Informationen über die Hoffnungen, Ängste und Vorstellungen der unterschiedlichen Schichten dieses Volkes erhält. Ab Anfang August 2002 wurde deutlich, daß dieser Kanzler mit den Themen Arbeitsbeschaffung, wirtschaftliche Stabilität und Reformen, zusammengefaßt unter der Parole "Hartz-Kommission" bei den Wählern durchfallen würde. Gleichzeitig signalisierten die Umfragen, daß etwa 75 Prozent aller Wähler in Deutschland gegen die Irak-Politik des amerikanischen Präsidenten George W. Bush eingestellt waren. Kanzler Schröder sah eine Chance, über eine Friedenspolitik und Distanzierung zu den US-amerikanischen Kriegsvorbereitungen im Irak doch noch das Ruder im Wahlkampf herumreißen zu können. Er stellte sich hinter die Forderungen der UN, über Inspektoren nach den vermeintlich versteckten ABC-Waffen im Irak zu fahnden und den Diktator unter Druck zu setzen, einer Abdankung und Demokratisierung der Gesellschaft zuzustimmen. Gerhard Schröder redete vom "deutschen Weg", vom "deutschen Selbstbewußtsein", nicht ausländischen oder Vorgaben der USA zu folgen. Er stellte heraus, daß Deutschland sich nicht an den Kosten des Krieges wie beim ersten Golfkrieg beteiligen würde.

Das "Volk" schien der Träger von Idealen zu sein, lebte als Volksgeist und war der subtile Widerpart der Nation und der Klassenbildung, denn es schien die Unmittelbarkeit von Gemeinschaft und Überlieferung darzustellen.

Eine Teilnahme deutscher Soldaten an einem Feldzug dort kam überhaupt nicht in Frage. Es gab Absprachen mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac und Treffen mit dem russischen Präsidenten, so daß Beobachter bereits von der Achse Paris-Berlin-Moskau sprachen, in der Deutschland eine hervorragende Position einnehmen würde, und daß Europa sich zum Gegenspieler zur US-Großmacht entwickelte. Die Regierungsmitglieder und die Spitzen der Sozialdemokratie waren bemüht, an die nationalen Gefühle der Deutschen zu appellieren. Der Kanzler und seine "Mannschaft" machten nicht zufällig derartige Aussagen, sondern sie wußten, daß die unterschiedlichen Schichten des deutschen Volkes beunruhigt waren über die Kriegsgefahr und über den ausländischen Einfluß auf die deutsche Politik.

(...)

Soziologen, Politikwissenschaftler und Philosophen wie Ernst Bloch, Hans Freyer, Max Scheler, Georg Simmel, Ferdinand Tönnies, Antonio Gramsci machten in der Vergangenheit darauf aufmerksam, daß das Alltagsbewußtsein eines Volkes unterschiedliche Hintergründe und historische Muster aufweist, die Jahrhunderte zurückreichen konnten, jedoch Bestandteil der Ohnmacht oder des Selbstbewußtseins eines Volkes waren. Lange Kriegsperioden waren in Deutschland negativ besetzt. Sie erinnerten an Tod, Zerstörung, Vertreibung, Hunger und Angst, und sie schürten zugleich die Hoffnung darauf, aus dieser Pein herausgeführt zu werden und so etwas zu finden wie einen oder viele Erlöser. Pazifistisches Denken war immer Anspruch an die Regierung und an die Eliten, Widerstand und Handlungsfähigkeit zu beweisen und aus dem Chaos herauszutreten. Zugleich wurde ein Unbehagen gegen die Fremdbestimmung geäußert, die ein Volk zum Objekt ausländischer Mächte erniedrigte und in die Geschichtslosigkeit trieb.

Es ist anzunehmen, daß der Kanzler und seine Gefolgschaft nicht zufällig eine große Lippe riskierten, sondern daß die Interpreten der Umfrageergebnisse mitteilten, welche geheimnisvollen Wünsche in dieser deutschen Friedenssehnsucht enthalten waren. Sie lief offenbar durch alle politische Lager und war nicht nur Ausdruck einer eher links eingestimmten Friedenbewegung. Politiker und Umfragevolk deuteten die Umrisse zukünftiger Kriege an und gaben den Willen kund, nicht als Marionetten oder billige Täter an diesem großen Töten teilnehmen zu wollen. In dieser Hinsicht schienen die Deutschen die Lektion aus der Geschichte gelernt zu haben.

Volk und Nation bildeten für die europäische Sozialgeschichte so etwas wie die Grundlagen der modernen Gesellschaft. Nation wurde nach den bürgerlichen Revolutionen in Europa ein Synonym für den nationalen Markt, die Nationalökonomie, Verfassung, nationale Kultur, Patriotismus und den nationalen Staat. Nation war das strukturierte, politisierte oder vergesellschaftete Volk, das sich die Prinzipien der staatlichen oder bürgerlichen Ordnung zu eigen machte. Sie war offen für die Differenzierung in Klassen und Schichten und trug zugleich die Erbschaften von Sprache, Kultur, Gesetz, Geschichte, politische Gemeinschaft, Ethik und Moral. Alle Spielarten von Politik waren national eingefärbt: Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus. Marx zum Beispiel machte immer wieder darauf aufmerksam, daß die Arbeiterklasse einen nationalen Charakter trug und diese nationale Ausrichtung in den außernationalen Klassenkampf tragen mußte, um eine internationale Perspektive zu gewinnen. Diese Aussage galt sicherlich auch für die unterschiedlichen Schattierungen von Liberalen und Konservativen.

Die Nationalisierung eines Volkes war das Werk des entstehenden Absolutismus und der unterschiedlichen Staatsformen der bürgerlichen Gesellschaft, die sich dadurch hineinbewegten in die neue Konstellation von sozialen Umbrüchen. Das Volk schien der Träger von Idealen zu sein, lebte als Volksgeist und war der subtile Widerpart der Nation und der Klassenbildung, denn es schien die Unmittelbarkeit von Gemeinschaft, Solidarität, Tradition, Klima, Region, Aufrichtigkeit, Willen und ethnischer Abstammung vorzustellen. Auf das Volk beriefen sich Könige und Regierungen, Revolutionäre und Traditionalisten, Kommunisten und Faschisten. Über das Volk wurde die Legitimität von Macht begründet, ließen sich Verfassungen schreiben, und an das Volk appellierten die Umstürzler. Volk war Mythos und Realität. Die Nation disziplinierte die Völker und unterwarf sie den politischen Zwängen. Das Volk stieg primär in Kriegen und Revolutionen über die Nation hinaus.

Soziologisch gesehen, bildete das Volk über Generationen hinweg einen Übergang aus der vorbürgerlichen Agrargesellschaft in die Verhältnisse der kapitalistischen Industrieproduktion hinein. Es existierte über Jahrhunderte hinweg und war in den Dörfern, Kleinstädten und Regionen verankert, trug jedoch den Fluch der "Proletarisierung" und der "Vermassung", Metamorphosen, die den Volkscharakter zerstören würden. Es waren die Bauern, Kleinstädter, Landarbeiter, Handwerker, Händler, die Enteigneten, Erniedrigten und Beleidigten einer Gesellschaft, insgesamt Zwischenschichten, die aus der Landwirtschaft in die Städte versetzt und dort der Disziplin der neuen Ordnung ausgesetzt wurden. Das Volk war weitgehend revolutionär in Mittel- und Westeuropa, in Rußland, China und den außereuropäischen Kontinenten bis in die Gegenwart hinein, und es bildete als Volk einen Gegensatz zur bürgerlichen Ordnung und zu den Prinzipien von "Gesellschaft". Jedoch besaß es kein Beharrungsvermögen. Es trug die immanente Tendenz der Auflösung.

Ein Volk lebte von den Ursprüngen an Land und Meer, von Völkerwanderungen, Kriegen und Umbrüchen, die es zu Legenden, Liedern und Sagen verband, zu Sprache und Erinnerung formte, und es wurde geprägt durch die großen Religionen, Prediger, Heerführer und Helden. Das Volk besaß wie ein Baum tiefe Wurzeln, und es wuchs aus der Natur hervor, bis die Blitze der Zivilisation dieses organische Gewächs verbrannten und verglühten. Später entschied der Bezug zu Staat, Kultur, Intelligenz, zur Stadtbildung und Wirtschaft, ob ein Volk in die Geschichtslosigkeit hineingetrieben wurde oder selbst Geschichte gestaltete. Friedrich Engels sprach in bezug auf die Befreiungskriege gegen Napoleon und die Revolutionen von 1848 von den geschichtsträchtigen und geschichtslosen Völkern in Europa. In die Geschichtslosigkeit fiel ein Volk nach dieser Sicht, das in den Agrarverhältnissen verharrte, nicht teilhatte an der Klassenspaltung, an den Kulturleistungen und der Städtebildung und das sich eine bäuerliche Intelligenz leistete, die das Volk an die Großstaaten dieser Epoche verkaufte, an Frankreich, Rußland oder England, ohne an die eigene Kraft zu erinnern.

Sozial verlor das Volk in Mitteleuropa mit der bürgerlichen Gesellschaft seinen archaischen und antikapitalistischen Charakter und wurde aufgespalten in Klassen. Trotzdem erlebte es nach 1918 eine Wiedergeburt.

Ein Volk ohne den Bezug zu Veränderung und Revolution verlor den Willen zur Selbsterhaltung. Es unterwarf sich den Fremdmächten und übernahm deren Kultur und Gesinnung. Engels lobte die Franzosen, Deutsche, Polen und Ungarn, die für ihre Größe und Unabhängigkeit gekämpft hatten und kritisierte die Tschechen, Serben, Albaner dieser Zeit, die sich den Ideologien Rußlands oder des Osmanischen Reichs unterworfen hatten.

Sozial verlor das Volk in Mitteleuropa seinen archaischen und antikapitalistischen Charakter und wurde aufgespalten in die unterschiedlichen Klassen. Trotzdem erlebte es nach 1918 eine Wiedergeburt in Deutschland, teils weil die ländlichen Gebiete ihre innere Stabilität bewahrt hatten, teils weil die großen Massen der Städte immer noch eine Nähe zum Volk zu haben schienen. Die Niederlage im Krieg und die Verträge von Versailles schweißten unterschiedliche Interessen und differente Massen zum "Volk" zusammen, das ein Objekt der Politisierung der unterschiedlichen Parteien wurde. Antisemitismus und Rassismus existierte primär im Milieu der neuen Eliten aus dem Milieu der Aufsteiger und in der Zwischenlage von Kleinbürgertum und neuem Mittelstand, denn die Deutschen als Volk in der Mittellage Europas mußten Jahrhunderte auf den Ausgleich zwischen den Völkern setzen, um nicht Invasionsobjekt der westlichen und östlichen Großmächte zu werden.

Dieser Ausgleich ging bereits vor dem Ersten Weltkrieg verloren, trotzdem entzog sich die Mehrheit der Deutschen nach 1918 dem Völkerhaß und Antisemitismus, weil offensichtlich war, daß derartige Haßtiraden dem Extremismus und dadurch neuen Kriegen zutrieben. Die sozialdemokratische Arbeiterschaft, aber auch die katholischen Arbeiter, Angestellte und Mittelstand waren weitgehend demokratisch und pazifistisch eingestellt und waren bemüht, sich außerhalb der Vermassung und der Totalisierung von Politik zu stellen. Der Nationalsozialismus verkörperte nur bedingt "das deutsche Volk". Er mobilisierte und organisierte vor allem die Entwurzelten aller sozialen Schichten, die keinen Bezug mehr hatten zu Nation und Volk. Die NS-Diktatur war deshalb bemüht, die Gesellschaft neu zu ordnen und die unterschiedlichen Massen dem System einzupassen, um überhaupt einen totalen Krieg gegen den Rest der Welt führen zu können. In dieser Hinsicht zerstörte diese Diktatur das Volk als Relikt einer vergangenen Epoche und schuf eine Massen- und Kriegsgesellschaft. Trotzdem lagen Antisemitismus und die Massenvernichtung der Juden und "Slawen" nicht im Interesse der Mehrheit der Deutschen. Sie blieben bis zum Mai 1945 eine "geheime Kommandosache", die ihre Täter in einem bestimmten Typus von technokratischem Killer fand.

Niemand hat es deutlicher beschrieben als die deutschen Emigranten wie Herbert Marcuse, Franz Neumann, Johannes R. Becher, Sebastian Haffner, Alfred Kantorowics. Victor Klemperer, der heimliche Beobachter im Reich, berichtet in seinen Tagebüchern davon. Nach dieser Sicht hatten die Deutschen längst ihren Volkscharakter verloren und bildeten soziale Schichten, die unterschiedlich eingebunden waren in eine moderne Industrie- und Kriegsgesellschaft und die als Berufstätige oder militärische Spezialisten, Arbeiter und Soldaten den Mythologien der Naziideologie skeptisch gegenüberstanden und gegenüber der NS-Propaganda einen eher zynischen Sachverstand bildeten. Ihre Angst bestand allerdings darin, daß die Deutschen bei einer Niederlage wie im Ersten Weltkrieg büßen und zahlen müßten. Diese Angst ergab gewisse Übereinstimmungen mit der NS-Führung, die jedoch niemals eine Zustimmung zum Massenmord waren. Die Emigranten hätten Grund gehabt, nicht nur gegen die NS-Diktatur Stellung zu beziehen, sondern auch gegen die Deutschen als Nation. Sie schrieben primär gegen die Kollektivschuld und gegen den Vernichtungskrieg an, der nun von alliierter Seite eingeleitet werden sollte in dem Augenblick, wo die Rote Armee und die westlichen Truppenverbände die deutschen Grenzen übertraten. Es galt, die Geheimabsprachen in Teheran und Jalta zu verwirklichen oder machtpolitische Vorteile auf deutschem Boden zu erkämpfen. Die Emigranten schrieben an gegen die Aufrufe eines Ilja Ehrenburg oder gegen die Verdammung der Deutschen durch Emil Ludwig, die jeweils den Antisemitismus der NS-Diktatur in einen Antigermanismus wendeten, um die Vertreibungen, Demütigungen und Versklavung der Deutschen aus den Ostgebieten und die Demontage der Industrie einzuleiten. Die Deutschen wurden als Militaristen und Rassisten, als ein minderwertiges Volk dargestellt, das vernichtet werden mußte.

Erst als der Kalte Krieg zwischen den Großmächten ausbrach, waren die Deutschen als besetzte und geteilte Nation für Stalin, aber auch für Truman interessant. Die Liquidierung der Eliten, der Abtransport der Fachleute, die Internierung von Zwangsarbeitern und die Demontage ganzer Regionen wurden ausgesetzt bzw. reduziert. Die Deutschen sollten umerzogen und eingefügt werden in den jeweiligen Herrschaftsverband der Besatzungsmächte. Jetzt sprach Stalin den berühmten Satz, daß die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk und die deutsche Kultur jedoch ihren Bestand bewahren würden. Er hatte sicherlich die Absicht, deutsche Interessen einzuspannen in die sowjetische Deutschlandpolitik, trotzdem legte er Zeugnis davon ab, daß die NS-Diktatur nicht gleichzusetzen war mit dem deutschen Volk.

Letztlich lernten die "Bürger" der beiden Deutschlands ihre Lektionen. Heute haben die Deutschen längst den Ausgleich zwischen den Völkern gefunden, der zu ihrer Tradition gehörte. Die Friedenssehnsucht ist Ausdruck der historischen Erfahrungen und wird gekoppelt mit einem Sinn für Völkerrecht, das alle Formen von totalen Krieg sanktioniert. Wenn heute trotzdem eine antideutsche Propaganda von 1945 eine Neuauflage erhält, dann hat das etwas zu tun mit einer neuen Weltlage nach dem Kalten Krieg, dem Zustand der politischen Eliten, der oberen Wirtschaftsmanager und der machtpolitischen Rolle Deutschlands in Europa und der Welt. Wenn unsere These stimmt, daß neuartige Kriege in Zukunft die Welt beherrschen werden und daß diese Kriege nach Europa und Nordamerika Einzug halten und zugleich die USA, Großbritannien und Israel bestrebt sind, in die Offensive zu gehen, um nach außen und nach innen eine neue Ordnung und Machtpositionen zu schaffen, dann gewinnt die Einflußnahme und die Einschüchterung der deutschen Eliten einen Sinn. Diese sind offensichtlich erpreßbar, weil sie kein politisches Format haben oder unter Druck gesetzt werden können. Dagegen ein Widerwort zu erheben, war die Absicht meines Vortrags.

Der Staat Israel begründete 1948 eine jüdische Nation, weil die jüdischen Völker in der tausendjährigen Diaspora so etwas wie "jüdisches Leben" bewahrt hatten. Widerstand kann sich also lohnen.

Existieren in Deutschland überhaupt noch Volk und Nation? Umfragen und der letzte Wahlkampf belegen, daß informell nationale Stimmungen vorhanden sind, die an die Erfahrungen der deutschen Geschichte erinnern. Die unterschiedlichen Eliten spielen mit diesen Stimmungen, wagen es jedoch aus Macht- und Karrieregründen nicht, sich dazu zu bekennen. Das deutsche Volk ist einem vielfachen Auflösungsprozeß ausgesetzt. Die Klassenspaltungen, die gleichzeitige Erosion der Klassen, Prozesse der Vermassung und Funktionalisierung in Funktionsträger, aber auch die Einflüsse von Markt und Kulturindustrie, die Sprachbesetzungen, die Konsumorientierungen usw. zerstören den deutschen Volkscharakter. Durch die vielfältigen Einschüchterungen der Eliten werden diese zunehmend unfähig, die kulturellen Traditionen wach zu halten. Gleichzeitig strömen Zuwanderer aus Völkerschaften nach Europa, die selbst zu den geschichtswilligen Völkern der Welt gehören und hier um Aufnahme bitten, aber trotzdem nicht den Willen zur Einordnung in die europäische Kultur haben und aktiv teilhaben an den Befreiungs- oder Widerstandkämpfen ihrer Heimatländer. Polen, Tschechen, Slowenen und andere vollzogen nach 1918 und noch einmal nach 1945 in Europa ihren Willen zur Staats- und Nationenbildung, weil sie noch so etwas besaßen wie ein "Volksleben" und zugleich die machtpolitische Unterstützung der Großmächte fanden. Der Staat Israel begründete 1948 eine jüdische Nation, weil die jüdischen Völker in der tausendjährigen Diaspora so etwas aufrechterhalten hatten wie "jüdisches Leben". Einzelne Balkanvölker sind nach 1995 bemüht, ihre Staatlichkeit und Nationalität mit europäischer Hilfe unter Beweis zu stellen.

Trotzdem sind die westlichen Gesellschaften als Nationen und Völker bedroht durch die Prozesse der Vergesellschaftung sozialer Zusammenhänge. Märkte, Funktionen, Rationalitätsprinzipien, Vermassung usw. zerreißen die kulturelle Stabilität. Wirtschafts- und Machteliten reagieren auf diese Zerstörungen nicht etwa damit, ihre Nationen und Völker zu erhalten, sondern sie vollziehen Machtpolitik als innere Ordnung, als die Inszenierung von Wahlen und Meinungen und als Expansion. So wie sie nach außen kriegerisch ihre Weltmachtstellung behaupten wollen, so sind sie nach innen bemüht, auf der Grundlage eines Sicherheitsstaats die zunehmende soziale Paralyse zu nutzen, um die eigene Macht zu stabilisieren. Dadurch werden die Kriege draußen zu Kriegen nach innen umgepolt. Im Irak kämpfen militärische und paramilitärische Einheiten gegen Partisanen und Terroristen, die bemüht sind, ihren Widerstand in den Volkskrieg zu überführen und diesen fortzusetzen oder zu übertragen in die Metropole.

Der Versuch der westlichen Machteliten, den Machtverfall durch Krieg und Mobilmachung aufzuhalten und die einzelnen ethnischen und sozialen Paupers gegeneinander auszuspielen, unterstützt die Prozesse der Auflösung der eigenen Nationen und Völker. Dagegen aufzubegehren, könnte ein Kampf gegen Windmühlen sein. Trotzdem wird jeder Streit für Frieden, Wohlfahrt oder Demokratie daran erinnern müssen, daß dieser Streit zugleich auf den Erhalt Europas als Bündnis der unterschiedlichen Nationen zielen muß. Als eine Art List der Vernunft kann sich auch bei den Deutschen gegen die Machenschaften der Eliten so etwas wie Patriotismus und Selbstbewußtsein entwickeln.

 

Prof. Dr. Bernd Rabehl, Jahrgang 1938, war 1967/68 Mitglied im Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und ein enger Weggefährte Rudi Dutschkes. Von 1973 bis 2003 lehrte er Soziologie an der Freien Universität Berlin. Bei seinem Text handelt es sich um die leicht gekürzte Fassung einer Rede, die Bernd Rabehl am 3. Dezember dieses Jahres vor der Burschenschaft Danubia in München gehalten hat.


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