© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/04 09. Januar 2004

Quote statt Qualität
Zwanzig Jahre Privatfernsehen haben das Freizeit- und Kaufverhalten verändert
Silke Lührmann

Zwanzig Jahre Privatfernsehen in der Bundesrepublik: Das hauptsächlich Bemerkenswerte an diesem Jubiläum ist die Erinnerung, daß die Menschen noch bis vor kurzem mit drei Programmen auskamen. Wie, fragt man unwillkürlich, haben sie sich bloß die Zeit vertrieben - damals in der grauen Vorzeit, als sie zu ganz besonderen Anlässen einen Videorecorder mieteten, um Clint-Eastwood-Streifen anzugucken, wenn am Samstagabend wieder nur "Casablanca" lief?

Derlei Überlegungen lassen sich beliebig fortsetzen. Man könnte an jene geradezu mythisch anmutende Vergangenheit denken, von der die Großmutter zu erzählen pflegte: Wie ihre Familie als erste im Ort einen Fernseher besaß und die Nachbarn allabendlich vor der Tür standen, bewirtet und von der neumodischen Erfindung unterhalten werden wollten. Die chilenische Schriftstellerin Isabel Allende schildert, daß ihre Landsleute noch in den Siebzigern stundenlang gebannt auf das Testbild starrten oder gar dem weißen Rauschen zuschauten, wenn der Empfang wieder einmal gestört war. Oder man besinnt sich, daß für Freizeitgestaltung und Arbeitsalltag gleichermaßen unverzichtbar scheinende Technologien - Internet, E-Mail, Mobilfunk - vor nur einem Jahrzehnt noch in den Kinderschuhen steckten.

Die Welt hat sich verändert, seit Sie heute morgen aufgewacht sind: Der Satz, mit dem eine britische Tageszeitung ihre Online-Ausgabe bewirbt, ist - wie viele Reklamesprüche - banale Binsenweisheit und tiefgründige Erkenntnis zugleich. Wahr war er schon immer, aber noch nie so wahr wie jetzt oder so wahr, wie er morgen, geschweige denn übermorgen sein wird. Diese Hektik des Aktuellen bringen die Medien selber hervor, um sich dann aus ihr zu speisen. "Die Ereignisse überschlagen sich", lautet nicht von ungefähr eine Lieblingsfloskel überforderter Live-Reporter.

Die Gefahren dieser Entwicklung haben Kulturkritiker schon vor Jahrzehnten klarer gesehen als heute: den Verlust räumlicher und zeitlicher Tiefe - die Reduktion von Kosmos und Chronos auf den zweidimensionalen, von einer Internationalen Funkausstellung zur nächsten immer flacher gewordenen Bildschirm -, während die "Gesellschaft des Spektakels" (Guy Debord) sich "zu Tode amüsiert" (Neil Postman). Daß "das Medium die Botschaft" und die Welt ein "globales Dorf" sei (Marshall McLuhan), mag ja stimmen, verspricht aber keine bessere, friedlichere, gerechtere Zukunft, im Gegenteil: Das Leid der einen befriedigt die Schaulust der anderen, und jede Katastrophe ist für eine Sensation gut.

Medien vermassen und vereinzeln: Fast alle tun dasselbe, fast jeder tut es allein. Sie "vermitteln", wie ihr Name sagt, Wirklichkeit - und vermögen das Reale überzeugend vorzutäuschen. Als Orson Welles am 30. Oktober 1938 im Radio eine Hörspielversion von H. G. Wells' 1898er Science-Fiction-Klassiker "War of the Worlds" las, brach Panik aus, weil die New Yorker an einen echten "Krieg der Welten" glaubten. Daß die Menschen heute weniger naiv sind, hat den Medien ihre Macht nicht genommen. Nach wie vor berauschen und berauben sie uns doch aller Sinne, einzig Hören und Sehen vergeht einem nie: Man sieht das Kochduell, um hinterher ein Fertiggericht aus dem Tiefkühlfach in die Mikrowelle zu schieben, und die Sportschau, statt nasses Gras unter den eigenen Füßen und Frühlingswind in den Lungen zu spüren.

Das Wohnzimmer wird zum öffentlichen Raum, aber Öffentlichkeit und damit auch Politik auf 16:9-Format verkleinert. Satelliten im All schrumpfen Nahes und Fernes auf dieselbe Distanz zwischen Sofa und Mattscheibe. So konnten Europäer und Amerikaner den Jahreswechsel, der eben nicht global synchron stattfindet, schon Stunden vorher "in Echtzeit" aus Sydney oder Tokio miterleben.

Ob dezent in eine Schrankwand eingebaut oder prollig als Blickfang hingestellt, ist der Fernseher auch aus 33,5 Millionen deutschen Haushalten buchstäblich nicht mehr wegzudenken. Liebevoll "Flimmerkiste" oder "Glotze" genannt, steht er im Zentrum familiären Beisammenseins, ersetzt Kaminfeuer, Klavier und Kerzenschein, dient als Babysitter, Zankapfel, Geräuschkulisse und als probates Mittel gegen Schlaflosigkeit. Seine heillose Vielfalt des Immergleichen schafft Abhilfe gegen Einsamkeit, Langeweile und Stille, indem sie noch mehr Vereinsamung und Langeweile erzeugt und mit ihrem Dauergeschwätz jedes Gespräch so unnötig wie unmöglich macht. Solange der Fernseher läuft, springt man rastlos zwischen Seifenopern, Nachrichtenmagazinen, Krimis hin und her. Sobald er ausgeschaltet ist, steigt erst recht die Angst, etwas zu verpassen.

Das menschliche Dasein kann sich nicht auf passives Zuschauen beschränken. Gerade die Privatsender haben sich des aktiven Verbrauchers angenommen, der noch hinter der kleinsten Ziffer der Einschaltquoten steckt. Wehmütig erinnern wir uns der eigenen kindlichen Vorliebe für die Mainzelmännchen, schmunzelnd daran, wie dieselbe Großmutter, deren Familie den ersten Fernseher im Ort besaß, eine neue Kaffeesorte mit den Worten anpries: "Der muß gut sein, er wurde im Fernsehen empfohlen!" Inzwischen wirken viele Sendungen - vor allem US-amerikanische Importe - wie mehr oder weniger willkommene Unterbrechungen der Werbeblöcke: Kaum hat der erste Vampir die Zähne in sein Opfer geschlagen, soll sich das Publikum schon um die eigene Mundhygiene sorgen oder mit neuen Deos und Diäten der attraktiven Heldin nacheifern.

All dieser rechtschaffene Verdruß ist ein weiterer Luxus, den sich nur die Übersättigten leisten können. Eine jüngst aus Kamerun zurückgekehrte Bekannte sprach von ihrem Erstaunen, dort in den entlegensten Ortschaften auf Menschen zu stoßen, die - dank BBC World Service - über das Weltgeschehen, die Lage im Irak, sogar die Probleme der EU-Osterweiterung "mindestens so gut informiert waren wie ich". Gegen ein solches Bedürfnis, über den Horizont hinauszublicken - gegen diese große Chance, die nicht nur hierzulande von Produzenten wie Konsumenten viel zu leichtfertig vertan wird -, sind alle Thomas Gottschalks und Verona Feldbuschs geringfügige Ärgernisse. Und wenn mündige Kalifornier einen Arnold Schwarzenegger zum Gouverneur wählen, weil sie ihn für den Superhelden halten, den er im Film spielt, hat ihre Kurzsichtigkeit kaum das Fernsehen zu verantworten.

Mag sein, daß frühere Generationen ihre Zeit eben nicht vertrieben, sie weniger ablenkungssüchtig vor sich herjagten und durchs Leben hetzten als wir "modern Geborenen" (Jean Baudrillard). Auf einen vormodernen, vormedialen Zustand zurückdrehen ließe sie sich aber wohl nur noch in einer RTL-Retroshow der allerdämlichsten Sorte.


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