© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/04 16. Januar 2004

Die Friesen sollen dumm bleiben
Niederlande: Die Zahl der einheimischen Schüler mit Lernrückständen steigt / Fördermittel gehen an Problemschulen
Jerker Spits

Die Untersuchungsergebnisse überraschten: Während die Zahl der leistungsschwachen Schüler nicht-niederländischer Herkunft sinkt, steigt die Zahl der "weißen" niederländischen Kinder mit Lernrückständen seit einigen Jahren deutlich an.

Was ist die Ursache dafür? Hauptgrund für die Entwicklung ist, daß das Interesse an sozial benachteiligten Einwandererkindern auf Kosten der "weißen", sozial benachteiligten niederländischen Kinder gegangen ist. Vierzig Prozent dieser sozialen Gruppe können wegen der heutigen Verteilung der Sondergelder vom Unterrichtsministerium nicht mit zusätzlicher Unterstützung rechnen.

Die Zahl der "weißen" Schüler mit Lernproblemen sei zwischen 1994 und 2000 um zehn Prozent gestiegen, berichtet das dem liberal geführten Wirtschaftsministerium angegliederte Centraal Plan Bureau (CPB) in seinem Bericht "Autochthone Kinder mit Rückstand: eine vergessene Gruppe". Vor allem auf dem Land, außerhalb der westlichen Großstädte, seien die Probleme groß. Das CPB spricht in seinem Bericht allerdings verschleiernd von "ungenutztem Talent".

Aber auch in den Städten werde Schülern niederländischer Eltern mit Lernproblemen nicht genug geholfen. Da diese Kinder nicht wie Ausländerkinder in bestimmten Vierteln konzentriert, sondern auf viele Schulen zerstreut sind, seien sie als Problemgruppe weniger sichtbar. Außerdem gibt es daher nicht genügend Geld vom Unterrichtsministerium, weil für die Zuteilung der Sondergelder an Schulen bestimmte Quoten erfüllt sein müssen.

In der nördlichen, dünnbevölkerten Provinz Friesland gibt es wenig Ausländerkinder, aber um so mehr niederländische Kinder mit Lernrückständen. Bei den Grundfächern Rechnen und Sprache habe ein Viertel der friesischen Grundschüler bereits einen Rückstand aufgebaut, so die Forscherin Bernie van Ruijven, die für die Universität Groningen eine Untersuchung des Unterrichts in Friesland durchführte.

Gelder für Musikdozenten an Schulen mit Ausländern

Dies sei vor allem eine Folge der Kriterien für die Zuteilung von Sondergeldern. Eine Schule mit 150 Schülern ohne Kinder nicht-niederländischer Herkunft bekomme erst dann finanzielle Unterstützung, wenn 36 Prozent der Schüler Lernrückstände aufweisen. Vor allem auf dem Land können Schulen diese Kriterien nicht erfüllen und gehen deshalb leer aus. Das Geld bleibt im Westen, bei den Schulen mit einem hohen Ausländeranteil.

"Der Staat kennt die Lage hier auf dem Land nicht", sagt Hans Christiaanse, seit Anfang dieses Jahres Schuldirektor im kleinen friesischen Dorf Boornbergum. Zuvor war er Direktor einer Schule in Den Haag: "Da hatte ich mehr als genügend Geld. Wenn man eine Schule mit einem Ausländeranteil von siebzig Prozent hat, lassen viele sich gern mit dir ein. Sondergelder für Musikdozenten, alles mögliche. Hier kann ich für meine Schüler nicht einmal eine Triangel kaufen."

Natürlich sei die Unterstützung für Ausländerkinder wichtig und sinnvoll, sagt Christiaanse. "Aber ich habe in meiner Schule 32 Kinder mit einem Lernproblem und ich bekomme keinen Cent. Das geht doch nicht!" In den westlichen Städten gebe es mehr Begleitung, Assistenten und Unterstützung für Schüler mit Sprachproblemen. Dadurch zögen auch viele Lehrer vom Land weg in die westlichen Städte.

Aber die Probleme in den niederländischen Schulen beschränken sich keineswegs nur auf die Lernrückstände auf dem Land. Überall in den Niederlanden ist die Nachfrage an Lehrkräften gewaltig. Allein in Amsterdam fehlen knapp 800 Lehrkräfte, auch Direktorenposten sind vielerorts noch frei. Trotz intensiver Bemühungen gelingt es dem niederländischen Unterrichtsministerium nicht, die Lücken zu schließen.

Mittlerweile ist an mehreren Schulen, vor allem im Westen des Landes, bereits eine viertägige Unterrichtswoche eingeführt worden. In Doorn bei Utrecht hat das dortige Revius Lyzeum inzwischen sogar Oberstufenschüler zu Hilfslehrern gemacht - für fünf Euro pro Stunde betreuen die 16- bis 18jährigen Hausaufgaben und vertreten sogar erkrankte Lehrer. Auch die Universitäten verzeichnen ein rasant schwindendes Interesse am Berufsziel des Lehrers, Seiteneinsteiger werden gesucht - aber geben meist schnell wieder auf.

Der Grund? Das gesellschaftliche Ansehen des Lehrerberufs hat in den Niederlanden stark gelitten. Lehrer werden nicht länger als Respektspersonen angesehen. Viele Schüler stellen im liberalen niederländischen Unterricht jede Regel zur Diskussion und fühlen sich nicht zur Rücksichtnahme auf Lehrer und Schule verpflichtet. Seit einigen Jahren mehren sich Fälle, daß Lehrer von Schülern oder deren Verwandten zusammengeschlagen werden. Schulleiter scheuen jedoch den Konflikt mit der Unterrichtsinspektion und fürchten eine schlechte Presse - schlimmere Zustände als an "Brennpunktschulen" Berlins oder Hamburgs.

Was die Problematik der Geldverteilung betrifft, so hat das Sociaal en Cultureel Planbureau (SCP) bereits Änderungen in den Finanzierungsprogrammen des Unterrichtsministeriums vorgeschlagen. Unterrichtsministerin Maria van der Hoeven hat inzwischen angekündigt, die Finanzierungsmöglichkeiten besser zu gestalten, damit künftig allen Schüler mit Lernproblemen geholfen werden kann.

Friesischer Protest ohne Wirkung auf das Parlament

Statt auf Herkunft soll mehr auf die Lernrückstände aller Schülergruppen geachtet werden, so die Christdemokratin. "Ich habe in den letzten Tagen mit Menschen aus Friesland über die Rückstände der Schüler dort gesprochen. Auch um diese Rückstände sollten wir uns kümmern", so die Ministerin.

Doch in der anschließenden Debatte im niederländischen Parlament standen wiederum die "schwarzen" Problemschulen in den Städten im Mittelpunkt. Das wenige Geld, das angesichts der Einsparungen im Haushalt verfügbar sei, solle an diese Schulen gehen, meinten sowohl die oppositionellen Sozialistischen (SP) und Grünen als auch die mitregierenden Linksliberalen (D66). Der friesische Protest gegen die ungerechte Verteilung der Gelder habe keinen Eindruck auf das Parlament gemacht, schrieb enttäuscht die in der Provinzhauptstadt Leeuwarden ansässige Zeitung Leeuwarder Courant.


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