© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/04 16. Januar 2004

"Zum Zwecke einer durchgreifenden Polonisierung"
Über Schlesiens geschichtspolitische Vereinnahmung aus dem Blickwinkel expansionistischer polnischer Nationalisten in der Zwischenkriegszeit
Matthias Bäkermann / Udo Linde

Anders als Tschechien scheint Polen seine EU-Tauglichkeit auch geschichtspolitisch unter Beweis stellen zu wollen. In Warschau geht man daher die heikle Thematik des über 1945 hinaus manifesten polnischen Antisemitismus seit einiger Zeit geradezu offensiv an. Ebenso "einsichtig" nehmen sich einige Vorstöße aus, "offen" über die "ethnische Säuberung" der preußischen Ostprovinzen zwischen 1945 und 1948 und über die bis in die Gegenwart reichenden historiographischen Legitimationsversuche dieser latent genozidalen und annektionistischen Politik zu sprechen. Zu den deutschen Osteuropahistorikern, die polnischen Kollegen dabei als empfindsame und bewältigungspolitisch geschulte Therapeuten zur Seite stehen, zählt der in Marburg lehrende Eduard Mühle, der jetzt auch die "Geschichtspolitik" jener polnischen Historiker beleuchtet, die schon lange vor 1939 aggressive Ansprüche auf deutsches Territorium erhoben (Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Heft 4/03).

Die akademische Elite kam aus Lemberg und Posen

Mühle begrenzt seine Studie über die Verfechter eines expansionistischen polnischen "Westgedankens" auf die vergangenheitspolitischen Auseinandersetzungen um Schlesien. Hier schien die polnische Seite zunächst im Nachteil zu sein. Denn institutionell war die deutsche Historikerzunft Schlesiens nach Mühles Ansicht ungleich besser für die nach 1918 ausgefochtenen Deutungskämpfe gerüstet. Rückhalt bot nicht nur die Breslauer Universität und 1918 gegründete Osteuropa-Institut, sondern auch eine stattliche Zahl von Archiven, Museen und historischen Vereinen trug zur breiten regionalen Festigung der deutschen Identität der Provinz bei. Polen habe eine vergleichbare institutionelle Infrastruktur nach der Abstimmungsniederlage von 1921 in Oberschlesien erst aufbauen müssen. Nicht nur Verwaltung und Wirtschaft seien daher im Zuge der Polonisierung Oberschlesiens auf auswärtige Kräfte angewiesen gewesen. "Auch alle Bemühungen um den Aufbau eines regionalen Kultur- und Wissenschaftsbetriebs bedurften in hohem Maße der Rekrutierung bzw. der Mitwirkung nichtschlesischer Kader".

Diese akademischen Exponenten der chauvinistischen nationalpolitischen Elite kamen aus Posen und Lemberg, vor allem aber aus dem nahen Krakau und verfochten den von Roman Dmowskis konzipierten "Westgedanken", der eine Ausdehnung "Großpolens" noch über Oder und Neiße hinaus propagierte. Krakauer Historiker hatten sich im Sinne dieser Ideologie schon während der Abstimmungskämpfe in Oberschlesien und im Teschener Gebiet "mit Vorträgen, Schulungsmaßnahmen und Zeitungsartikeln" als Agitatoren betätigt. Einer ihrer Kollegen und Mitkämpfer, Michal Tadeusz Grazynski, rückte 1926, nach der "Machtübernahme" Josef Pilsudskis, als treuer Gefolgsmann des Marschalls zum Woiwoden des polnischen Teils von Oberschlesien auf.

Grazynski, aus dessen brutaler antideutscher Politik bei Mühle ein nachsichtig so genannter "härterer Kurs gegenüber der deutschsprachigen Bevölkerung ... zum Zwecke einer durchgreifenden Polonisierung der Provinz" wird, ergriff von Kattowitz aus dann rasch die geschichtspolitische Initiative. Er koordinierte in Abstimmung mit der Polnischen Akademie der Wissenschaften die Erforschung der schlesischen Geschichte aus dem Blickwinkel des "Westgedankens" und sorgte für eine großzügige finanzielle Unterstützung dieser Bemühungen zum Nachweis des vermeintlich "urslawischen" Charakters der Provinz. 1930 sollte das Gemeinschaftsprojekt einer "Geschichte Schlesiens" vorliegen, die ganz im Sinne des "Westgedankens" aktuelle territoriale Ansprüche mit der piastisch-polnischen Vergangenheit Schlesiens zu rechtfertigen hatte.

Obwohl das dreibändige Gesamtwerk erst 1936 im Buchhandel war, meint Mühle zu Recht, daß Grazinsky "im Grunde zufrieden" sein durfte. In recht kurzer Zeit sei es ihm gelungen, das Krakauer akademische Milieu für eine am "Westgedanken" ausgerichteten "professionellen Schlesienforschung" zu mobilisieren. Damit habe er den beiden Kattowitzer, um breite Popularisierung bemühten Einrichtungen, dem Schlesischen Museum und dem 1934 eröffneten Schlesischen Institut, "eine mit dem Renommé einer altehrwürdigen Gelehrtengesellschaft versehene Institution an die Seite" gestellt, "deren multidisziplinäre Arbeiten gerade dank ihres vermeintlich objektiven wissenschaftlichen Charakters unangreifbare geschichtspolitische Argumente für die Polonität Schlesiens zu liefern versprachen".

So verdienstvoll es ist, daß Mühle Einblick vermittelt in das Ausmaß der Politisierung der polnischen Wissenschaft in der Zwischenkriegszeit, so vorsichtig sollte man seiner historischen Einordnung dieses Phänomens gegenüberstehen. Gern verwechselt er nämlich Ursache und Wirkung und stellt die Ideologie des "Westgedankens" als Antwort auf die "revisionistische" deutsche "Ostforschung" dar. So war etwa das Breslauer Osteuropa-Institut kaum auf die Erforschung Polens konzentriert, sondern mit Rußland beschäftigt. Der Breslauer Mediävist Hermann Aubin, über den Mühle eine größere Arbeit vorbereitet und den er hier für seine Thesen über die deutsche Ostforschung vereinnahmt, kam erst 1929 an die schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität; seine Lehrstuhlvorgänger zeigten hingegen kaum Interesse an der geschichtspolitischen Fehde mit den rührigen großpolnischen Propagandisten Krakau-Kattowitzer Provenienz.

Eduard Mühle adaptiert nationalpolnische Positionen

Ganz und gar blendet Mühle die Kernfrage nach der Qualität der historiographischen Produktion aus. Im deutsch-polnischen Vergleich müßte er dann nämlich einräumen, daß unterm Strich die Orientierung an politischen Vorgaben die Wissenschaftlichkeit der polnischen Darstellungen erheblich stärker beschädigt hat als die deutschen Arbeiten. Befremdlich wirkt überdies die Rede vom deutschen "Revisionismus", den Mühle beharrlich als illegitim darstellt. Dabei hat Polen mehrfach versucht, Oberschlesien gewaltsam vom Deutschen Reich zu trennen, und selbst die 1921 erfolgte Teilung kam gegen das eindeutig prodeutsche Votum zustande. Die 1939 militärisch erzwungene Revision dieser völkerrechtswidrigen Polonisierung Ostoberschlesiens ist daher wohl kaum als "Okkupation" zu bezeichnen. Und wie aus dem Wörterbuch des Unmenschen liest sich Mühles sprachliche Verkleidung der Vertreibung von 1945 als "Zwangsmigration". Wären Historiker wie Mühle für die Konzeption eines deutschen Zentrums gegen Vertreibung verantwortlich, könnte die polnische Seite sich getrost mit dem Standort Berlin einverstanden erklären.


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