© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/04 23. Januar 2004

Pankraz,
Marcel Proust und das ewige Lied "La Paloma"

Hundertfünfzig Jahre ist es jetzt her, daß der Gitarre und dem Kehlkopf des baskischen Sängers und Komponisten Sebastian de Iradier y Salaverri (1809-1865) das Lied "La Paloma" entquoll, das meistgespielte, meistgesungene, meistgehörte, meistaufgenommene, meistvariierte Lied der Weltgeschichte. Sein Schöpfer wurde damit unsterblich.

Er war ein gebildeter Herr und kannte die Episode aus den griechisch-persischen Kriegen aus dem Jahre 492 v. Chr., als die Flotte des persischen Admirals Mardonios direkt vor der griechischen Küste am Berge Athos im Sturm zerschellte. Die Griechen beobachteten die Tragödie vom Land aus, und sie sahen mit Erstaunen, daß sich - parallel zu den Todesschreien der ertrinkenden Matrosen - Schwärme schneeweißer Tauben von den untergehenden Schiffen erhoben, Vögel, die bisher in der Ägäis unbekannt gewesen waren. Fortan galt die Überzeugung, daß weiße Tauben die Seelen der auf dem Meer umgekommenen Seeleute verkörperten, daß sie Liebesboten seien, die den Angehörigen daheim einen letzten Gruß der Untergegangenen überbringen.

Daraus also machte Iradier sein Lied. "Cuando salí de la Habana. / ¡Válgame Dios! / Nadie me ha visto salir / Si no fui yo". Die weiße Taube überbringt der Mutter des Matrosen den letzten Gruß ihres Sohnes. Es ist eine bittere und doch im letzten versöhnliche Botschaft, die Versicherung unverbrüchlicher Treue und ewiger Verbundenheit, eine unvergleichliche Legierung aus Liebe und Tod, Liebe über den Tod hinaus, wie sie nur im Volkslied gelingen kann. "Si a tu ventana llega / Una Paloma ..."

"La Paloma" wurde sofort populär und überall gesungen, nicht nur in den Hafenkneipen, sondern auch auf den Straßen im Inland, auf Volksfesten und in Opernhäusern, zunächst in der spanisch sprechenden Welt rund um den Atlantik, auf Kuba, auf Puerto Rico, in Mexiko. Sie war das Lieblingslied des unglücklichen habsburgischen Mexiko-Kaisers Maximilian, den Benito Juárez erschießen ließ, und so kam sie früh nach Wien und nach Mitteleuropa und entzückte Caféhausgänger und Straßenjungen.

Georges Bizet baute die französische Fassung in seine "Habanera" in der "Carmen" ein, in der sie Nietzsche hörte und gegen Richard Wagner auszuspielen versuchte. Marcel Proust hörte sie, was ihn zu seinem bekannten "Lob der schlechten Musik" veranlaßte: "Da man sie viel, viel leidenschaftlicher spielt und singt als die gute, hat sie sich nach und nach mehr noch als diese mit der Träumerei und den Tränen der Menschheit gefüllt. Deswegen sei sie euch verehrungswürdig."

Ist "La Paloma" schlechte Musik? "Schmachtfetzen", "Kitsch", wie manche sagen? Sicher, ihr musikalischer Aufbau ist unsäglich bieder, ihre Melodie einzig auf Harmonie und Wohlklang aus, auch und gerade dort, wo die schlimmsten Dinge besungen werden. Doch genau das verschafft ihr nicht nur Popularität, sondern löst auch bei entschiedenen Eierköpfen Rührung und Ergriffenheit aus: ein Schelm, wer das Gegenteil behauptet. Die suchende Menschenseele wird hier direkt angesprochen.

Es gibt keinen bekannten Sänger, und zwar auf der ganzen Welt, der nicht "La Paloma" gesungen hätte. Spielend überwand sie sämtliche musikalische Spezialtraditionen, ertönt längst auch auf chinesisch und suahelisch, samoanisch und alt-sibirisch. Die Zahl der Einspielungen geht in die Tausende, sind es fünftausend, sind es zehntausend? Auch Kalle Laar, der unbestrittene Münchner "La Paloma"-Kenner und -Sammler, hat längst die Übersicht verloren.

Man kann "La Paloma" als Tango oder als feierliches Chorlied à la "Freude, schöner Götterfunken" haben, als Blues oder als festliche Opernarie, als Twist, Surf, Reggae oder Rock. Beniamino Gigli hat sie aufgenommen und Dean Martin, Nana Mouskouri und Jerry Lewis, Joseph Schmidt und Heino, Vico Torriani und Nina Hagen. Die jeweiligen Texte weichen schreiend voneinander ab, Takt und Rhythmus sind schier ins Unendliche ausdifferenziert. Vollständig erhalten ist aber, sagt Kalle Laar, in allen Fällen die Grundmelodie und in den Texten die Spannung zwischen Tod und Liebe, Abschied und Nachhausekommen.

Jeder erkennt sofort, welcher Fassung er auch begegnet, daß es sich um "La Paloma" handelt, also um den Ernstfall, um den immer gleichen Ernstfall. Das gilt sogar für die - wenigstens in Deutschland - berühmteste Fassung, nämlich für Hans Albers' Vortrag in dem Käutner-Film von 1945, dessen (von Käutner geschriebener) Text horrend von Iradiers Urtext abweicht, ihn fast komisch ins Bärbeißige und angestrengt Übermännliche hineintreibt. Albers sang von der "Reise" in die "blaue Ferne", aber jeder Hörer damals wußte natürlich, daß die aktuell Reisenden ganz überwiegend in getauchten U-Booten der deutschen Kriegmarine saßen, die gerade von alliierten Radargeräten aufgespürt wurden, und daß "der großen Freiheit Glück" für viele, allzu viele das erstickende Kämpfergrab im Rumpf der gesunkenen Boote war.

Immerhin, deutlich ist auch in der Käutnerschen Fassung die Gewißheit vernehmbar, daß der Tod nicht das Letzte sein kann und daß das "Einmal muß es vorbei sein" keineswegs das Erlöschen der Einzelseele meint, sondern die Überwindung des Getrenntseins der Seelen und der Abwesenheit von Liebe und Glück. Solche Hoffnung läßt sich der Mensch auch in den verzweifeltsten Situationen nicht austreiben, und eben dies drückt das Lied des kleinen Basken in vollster Reinheit aus, darin besteht sein Weltruhm.

Die Stadtwelle des Norddeutschen Rundfunks in Hamburg, NDR 90,3, sendet seit einigen Monaten täglich jeweils kurz vor den Nachrichten um 9 und um 18 Uhr "La Paloma", jeden Tag in einer anderen Fassung. "Daß wir uns je wiederholen müssen, ist nicht zu befürchten", sagt der leitende Redakteur. "Unsere Einschaltquoten sind durch die Sendungen sprunghaft gestiegen."


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