© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/04 30. Januar 2004

Vorgeführt wie ein Dritte-Welt-Staat
Enteignungen: Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat den deutschen Enteignungsopfern Recht zugesprochen
Matthias Bäkermann

Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt keinem Mandanten raten, eine Restitutionsklage gegen den Bund oder die Länder anzustrengen, da zu 99,99 Prozent kaum mit einem positiven Ergebnis zu rechnen ist und zudem durch den hohen Streitwert unnötige Kosten verursacht würden." Thorsten Purps' Mahnung klingt nicht nach einem strahlenden Sieger, obwohl der Potsdamer Rechtsanwalt als Prozeßbevollmächtigter vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am gleichen Tage ein historisches Urteil gegen maßgebliche Instanzen der Bundesrepublik Deutschland erwirken konnte.

Der deutsche Gesetzgeber habe nicht das Eigentum der klagenden Neusiedler entziehen dürfen, ohne sie angemessen zu entschädigen. Mit diesem Rechtsspruch haben die sieben Richter aus verschiedenen europäischen Ländern die Instanzen der Bundesrepublik peinlich geschulmeistert wie einen Dritte-Welt-Staat. "Unrechtsstaat" war bis zu diesem Urteil die häufig gehörte Floskel über verschiedenste Staaten - meist in subtropischen Gefilden. Nun kommt dieses Prädikat nach Mitteleuropa zurück, und zwar nicht nur - wie es im Urteilsspruch heißt - gegen den Gesetzgeber, der die Unrechtsgesetzgebung initiiert hatte, sondern indirekt auch über die rechtsprechende Gewalt, die diese Gesetzgebung bis zur höchsten Instanz in Karlsruhe mit Klauen und Nägeln verteidigt hat. Höchste Repräsentanten der Karlsruher Richteroligarchie haben diese fragwürdige Rechtsprechung unterstützt, von Roman Herzog über Jutta Limbach und Paul Kirchhof bis zu Hans-Jürgen Papier.

Antrieb für die "schwarze Enteignung" war Geldgier

Mit der Bodenreform der direkten Nachkriegszeit in der sowjetischen Besatzungszone fing alles an. Entschädigungslos wurden die verhaßten "Großgrundbesitzer" von ihrem Eigentum verjagt, geleitet von der Propaganda, daß man damit die dem Junkertum entstammenden Glieder des preußischen Militarismus kappe. Das war natürlich vorgeschoben, wie die Enteignung auch kleinerer Betriebe und sogar des Eigentums aktiver NS-Widerständler bewies. Insgesamt handelte es sich um etwa 3,3 Millionen Hektar land- und forstwirtschaftliche Fläche, die sich besonders bei den Waldbeständen auch zum großen Teil (über eine Million Hektar) bis heute ausschließlich in Staatsbesitz befanden.

Nun wurden die bis dahin effektiv arbeitenden Betriebe parzelliert und hauptsächlich den in die Sowjetische Zone flutenden "Umsiedlern" - gemeint waren Ostvertriebene - zugeteilt. Einige nutzten dieses Land nur für die kurzzeitige Selbstversorgung, um sich bei nächstbietender Gelegenheit jenseits des Eisernen Vorhangs aufzumachen, viele schafften es tatsächlich, eine kleine Landwirtschaft aufzubauen. Zumindest bis in die fünfziger Jahre. Denn spätestens 1958 wurde die eigene Scholle zwangskollektiviert. Offiziell - und dieser Status wurde bis zur Wende aufrechterhalten - hatten die Neusiedler zwar keinen Zugriff mehr auf ihr Privateigentum, verloren aber nie den Erbtitel darauf. Allerdings mußten sie sich im Erbfall mit den DDR-Kreisräten abstimmen, die an gewisse Fristen gebunden waren. Bei Nichteinhaltung dieser Fristen regelte die 1975 eingeführte Besitzwechselverordnung, daß das Bodenreformgrundstück in den "Bodenfonds zurückgeführt" werden solle. Da in der Praxis oft keine Fristen gesetzt wurden, gab es nicht wenige Fälle, in denen die Flächen sogar mit staatlichem Wissen an Dritte verpachtet wurden.

Dieser de-facto-Rechtsvorbehalt staatlicher Stellen wurde in den letzten Tagen der DDR, am 6. März 1990 - zwölf Tage vor der letzten Volkskammerwahl noch unter dem amtierenden SED-Politiker Hans Modrow - durch das sogenannte Bodenreformgesetz außer Kraft gesetzt. Damit sollten eventuell unklare Rechtsverhältnisse zugunsten der Neusiedler und ihrer Erben verbindlich geregelt werden. Zwei Jahre später jedoch wurde durch die Bundesregierung diese Grundlage mit dem "Gesetz zur Abwicklung der Bodenreform" vom 14. Juli 1992 in einer der Sitzungen kurz vor den Parlamentsferien rückgängig gemacht. Begründet wurde dies damit, daß aus Bonner Sicht das Gesetz von 1975 nicht konsequent umgesetzt worden war. Denn nicht direkt landwirtschaftlich von den Erben genutzter Boden hätte doch wieder in den Bodenfond zurückfallen sollen. Mit diesem Gesetz müsse daher - so lautet die hanebüchene Begründung der Gesetzgeber - eine "vergessen geglaubte Enteignungswelle zu DDR-Zeiten" nachgeholt werden. Diese Begründung entkräftet übrigens auch das Argument, wonach dieses Gesetz lediglich die mißtrauische Reaktion auf die SED-Regierung Modrow und ihre DDR-Gesetzgebungen kurz vor Toresschluß gewesen sei. Im aktuellen Spiegel 5/04 wird dieser Theorie folgend mit dem Straßburger Urteil des EGMR sogar "ein später Sieg der DDR über die Bundesrepublik" ausgemacht. Der frühere SED-Apparatschik Modrow wird passend dazu nach Wessi-Ossi-Schema zitiert: "Das ist ein Erfolg für alle ehemaligen DDR-Bürger und für meine Regierung des Übergangs." Ähnlich wie der Spiegel kommentiert auch die ehemalige DDR-Systempresse dieses Urteil: "Der Sieg für die Bodenreform-Erben" (Neues Deutschland) wird indirekt zur Rechtfertigung der "demokratischen Bodenreform" (in dem ehemaligen FDJ-Organ Junge Welt tatsächlich immer noch ohne Anführungszeichen) benutzt und der Anlaß zur Abrechnung mit dem "Unrechtsstaat BRD" genutzt.

Alle bisherigen Urteile werden nur atmosphärisch tangiert

Dabei ist der Terminus Unrechtsstaat bei aller sonstigen Roten-Kloster-Polemik durchaus gerechtfertigt. Das Gesetz von 1992 sollte den Besitz des Bundes mehren, um die sich in der Nachwendezeit abzeichnende horrende Haushaltssituation mit den Mitteln aus den Veräußerungen finanziell abzufedern. Mit dem ohnehin in Bundes- und Länderbesitz übergegangenen Alteigentum, welches sich seit 1946-49 ununterbrochen in Staatsbesitz befand, rechneten sich Theo Waigel (CSU) und sein Ministerium bzw. die Treuhand erhebliche Einnahmen aus. Diese sind weitestgehend ausgeblieben. Genauso wie durch eventuelle Rückübereignung in die strukturschwachen Gebiete zurückkehrende Investoren, die den bis heute fehlenden Mittelstand zumindest in Ansätzen hätten ersetzen und damit dem "Aufschwung Ost" wichtige Impulse hätten geben können.

Was sind die zu erwartenden Änderungen nach dem Urteilsspruch vom 23. Januar 2004, und welche Auswirkungen hat dieser auf die ebenfalls auf europäischer Ebene in dieser Woche zu verhandelnden "roten Enteignungen"? Zumindest sei es ein "richtungweisendes Urteil", sagt Purps. Die Bundesregierung stehe nun vor einem gewissen Zugzwang, der sich im Falle eines Urteilsspruches zugunsten der Alteigentümer verstärken würde. Allerdings weisen sowohl Purps als auch der Klagevertreter der in Straßburg an gleicher Stelle auftretenden Alteigentümer, der Berliner Anwalt Stefan von Raumer, darauf hin, daß die Hierarchie der Rechtsnormen zumindest strittig sei. Im Klartext heißt das, die Bundesregierung stehe zwar unter moralischem Druck, eine dem Urteil entsprechende juristische Umsetzung in die Wege zu leiten, aber die Einordnung des EGMR als über allen nationalen Rechtskörperschaften der Bundesrepublik Deutschland anerkannte Instanz sei umstritten und damit das Urteil gegebenenfalls unverbindlich. "Alle bisherigen Entscheidungen im Bereich der Restitutionen werden allenfalls atmosphärisch tangiert", dämpft Purps die Euphorie der Kläger.

Dies sieht auch der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Recht und Eigentum (ARE), Manfred Graf von Schwerin ähnlich. Der Rückenwind aus Straßburg sei in der öffentlichen Debatte gegen die Regierung, aber auch die Opposition, deren Besitzstände mindestens auf Landesebene in Frage gestellt würden, vonnöten. Diese Hoffnung auf eine Korrektur des Imageschadens hat auch schon zu ersten Reaktionen geführt. Die Bundesregierung prüfe bereits "Rechtsmittel" gegen das Straßburger Urteil. Dieses könnte als Antrag auf Vorlage an die Große Kammer des EGMR innerhalb von drei Monaten formuliert werden. Doch einerseits ist bei dem jetzigen einstimmigen Votum der sieben Richter in der Kleinen Kammer nicht mit einem fundamental gegensätzlichen Urteil der 17 Richter an der Großen Kammer zu rechnen, andererseits bezweifelt Klagevertreter von Raumer sogar, daß dem Antrag auf Annahme überhaupt stattgegeben werde. Deshalb schätze er die Wahrscheinlichkeit als gering ein, daß sich der Bund "ein weiteres Mal blamiere". Daß der Klagevertreter Purps bereits mit dem Finanzministerium in Kontakt stehe, um konstruktiv an einer "korrigierenden Gesetzgebung" in diesem schwierigen Terrain beizutragen, dürfte zumindest als positiver Schritt gewertet werden. Auch ARE-Vorsitzender Schwerin kann inzwischen Positives vermelden: Die lange eingeforderte Enquete-Kommission über eine "Zwischenbilanz Deutsche Einheit" scheint in greifbare Nähe zu rücken. Das habe ihm zumindest die lange in dieser Frage verstockt agierende Angela Merkel und das CDU-Präsidium signalisiert.

Länder stöhnen über die nun fälligen Zahlungen

An der publizistischen Front wird allerdings noch die härtere Gangart geprobt. Seit letzter Woche beklagen die finanziell klammen Finanzministerien lautstark die ungeheuren finanziellen Lasten "in Milliardenhöhe", die nun auf die Länder zukämen. Natürlich wird beim geschätzten Verkehrswert der Neusiedler-Liegenschaften ein fragwürdiger Wert veranschlagt, da es sich momentan um ein mehr oder weniger totes Kapital handelt. Doch in den Pressemeldungen liest es sich, als ob die gierigen Kläger in suspekter Kumpanei mit den Junkern wegen des eigenen persönlichen Vorteils baldige Schwimmbad-Schließungen oder verschobene Schulrenovierungen verantworten müssen.

Den beargwöhnten Schulterschluß zwischen Alteigentümern und Neusiedlern - zwischen "roten" und "schwarzen" Enteignungen - greift auch der einen neuen Ost-West-Konflikt heraufbeschwörende Spiegel auf. Die gegenseitige Hilfe gegen den bis letzten Donnerstag triumphierenden Staat wird dann als "Hintergedanke" der Junker entlarvt, um den "Neubauern" das einprozessierte Land zu großen Teilen wieder abzujagen. Der Vorsitzende des "Neubauernverbandes Mecklenburg-Vorpommern", Hermann Kiesow, darf dementsprechend die "Bauernfängerei im wahrsten Sinne des Wortes" kritisieren - natürlich ohne den Hinweis, daß es sich beim erwähnten Vertreterverband um einen Konkurrenzverband des mit der ARE gemeinsam klagenden Bundes der Neusiedler-Erben (BNE) und des Landbundes Mecklenburg-Vorpommern handelt. Der plakative Schulterschluß bei der einträchtigen Potsdamer ARE-Pressekonferenz zwischen Manfred Graf von Schwerin und Erhard Sell (BNE) blieb vor diesem Hintergrund lieber undokumentiert.

Foto: Verwitterte DDR-Fahne auf einem Feld in der Magdeburger Börde: Der deutsche Gesetzgeber darf nicht das Eigentum der klagenden Neusiedler entziehen, ohne sie angemessen zu entschädigen


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen