© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/04 30. Januar 2004

Zum Abtreten angetreten
Zukunft der Bundeswehr: Vom Instrument nationaler Souveränität bleibt nur noch eine außenpolitische Manövriermasse übrig
Peter Lattas

Kostet nichts, kann alles und läßt sich überall hinschicken: So stellt sich die Politik wohl die ideale Armee vor. Die Realität ist von dieser Spielart der sprichwörtlichen eierlegenden Wollmilchsau noch weit entfernt. Bundeswehr 2004 - Ausrüstungsstand und Motivation der Truppe sinken im selben Tempo, wie die ehrgeizigen Ansprüche der Politik an die universale Einsatzfähigkeit der Armee ins Kraut schießen. Kann die Bundeswehr ihren Verfassungsauftrag der Landessicherung überhaupt noch erfüllen, oder wird Deutschland künftig nur noch am Hindukusch verteidigt? Bundesverteidigungsminister Peter Struck (SPD) läßt in seinen jüngsten Plänen zur Bundeswehr-"Reform" kaum noch Zweifel: Die Wehrpflicht ist ein Auslaufmodell, alles läuft auf eine internationale Interventionsarmee zum Spartarif hinaus.

7.150 Bundeswehrsoldaten sind derzeit bereits an Auslandseinsätzen in aller Welt beteiligt. Der Kosovo-Einsatz der Kfor fordert mit 3.200 Soldaten immer noch den Löwenanteil der begrenzten Auslandskapazitäten; es folgen ISAF in Afghanistan mit derzeit 1.900 und Sfor in Bosnien-Herzegowina mit 1.300 Bundeswehrangehörigen. In Mazedonien und Georgien sind kleinere Kontingente tätig, ebenso im sogenannten "Anti-Terror-Einsatz" am Horn von Afrika ("Enduring Freedom") und im Mittelmeer ("Active Endeavour"). Ein kon­sistentes geostrategisches Schema ist dahinter schwer zu entdecken, eher ein Spiegelbild spontaner Reaktionen auf von anderen diktierte weltpolitische Prioritäten. Trotz des zahlenmäßig bescheidenen Umfangs haben diese Auslandseinsätze die Bundeswehr bereits an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit geführt.

"Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf", heißt es lapidar in Artikel 87a des Grundgesetzes. Nur in Sonntagsreden ist das auch immer noch die Hauptaufgabe der Bundeswehr. Die Abkehr vom Verständnis der deutschen Streitkräfte als Armee zur Landes- und Bündnisverteidigung hatte in den neunziger Jahren Kohls Verteidigungsminister Volker Rühe eingeleitet. In homöopathischen Dosen brachte die Rühesche Salamitaktik den Deutschen die künftige Verwendung ihrer Armee bei: Jedesmal wurde das Maß des für die Öffentlichkeit Hinnehmbaren ein wenig weiter überschritten und die Grenzen der Auslandsverwendung der Bundeswehr etwas weiter vorgeschoben.

Den Anfang machte die Beteiligung von 150 Sanitätssoldaten an der UNTAC-Mission (UN-Übergangsbehörde) in Kambodscha von Mai 1992 bis November 1993. Schon mit über zweitausend Soldaten nahm die Bundeswehr an der UNOSOM-II-Mission in Somalia teil: Von August 1992 bis März 1993 an der Luftbrücke, von August 1993 bis März 1994 im Logistiklager Belet Huen zur Unterstützung der Uno-Truppen. Noch im selben Jahr leistete die Luftwaffe von Juli bis Dezember 1994 Versorgungsflüge für ruandische Flüchtlinge. Wenig mehr verband diese Einsatzorte als die Möglichkeit, nach humanitärem Trommelfeuer auf die öffentliche Meinung dort einen unverfänglichen Einstieg in militärische Unternehmungen weltweit zu finden.

Das Jahr 1994 bedeutete eine Zäsur: Das Bundesverfassungsgericht bestätigte in seiner Entscheidung vom 12. Juli die grundsätzliche Zulässigkeit von Auslandseinsätzen, bestätigte indes zugleich den Parlamentsvorbehalt, der jede Entsendung von der Zustimmung des Bundestags abhängig macht. Bereits im vorangegangenen Sommer, am 31. August 1993, hatten die letzten russischen Soldaten Deutschland verlassen. Seither jagen sich in immer rascherer Folge die Experimente mit Struktur und Ausstattung der Bundeswehr, der mit immer schmalerem Budget "nach Kassenlage" immer weiterreichende Aufgaben aufgebürdet werden.

Seit 1993 unterschreitet Deutschland konstant und deutlich den Nato-Standard in den Wehrausgaben. Auf Volker Rühe geht der so irreführende wie verführerische Begriff der "Friedensdividende" zurück: Nach der Auflösung des Warschauer Paktes und der Sowjetunion 1991 glaubte die Regierung Kohl sich nur noch von Freunden umzingelt und daher zu einer drastischen Verringerung der Verteidigungsausgaben berechtigt. Den Widerspruch zu den angepeilten neuen Aufgaben bewältigte man mit einer de-facto-Zweiklassen­einteilung der Armee. Schrittweise wurden die Verbände aufgeteilt in schnell verfügbare und besser ausgerüstete "Krisenreaktionskräfte" und in mobilmachungsabhängige "Hauptverteidigungskräfte". Die Landesverteidigung wurde zum nachrangigen Ziel und zur Sparbüchse, an der sich die Regierungen jeglicher Couleur in Haushaltsnöten schadlos hielten.

Die flächendeckende Verteidigung wird skelettiert

Schneller, als die Planer sie umsetzen konnten, wurden die zahllosen Pläne zur Umstrukturierung auch wieder Makulatur. Von 1988 bis 2000 verringerte sich die Zahl der aktiven Soldaten bei Heer und Luftwaffe um 30 Prozent, die der Reservisten um 59 bzw. 42 Prozent. Der Verteidigungshaushalt stürzte ab: Allein von 1990 bis 2000 wurde der Anteil der Verteidigungsausgaben am Gesamthaushalt von 18,7 auf 9,5 Prozent fast halbiert. Ein Ende des Sturzflugs ist nicht abzusehen. Was den Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttosozialprodukt angeht, gehört Deutschland mit wenig mehr als einem Prozent inzwischen zu den Nato-Schlußlichtern.

Obwohl die Personalstärke der Bundeswehr inzwischen von 470.000 Mann im Jahr 1988 auf die von Verteidigungsminister Struck anvisierten 250.000 Mann praktisch halbiert wurde, verschlingen die Personalkosten noch mehr als die Hälfte der Ausgaben und lassen keinen Spielraum für Investitionen. Bislang hieß Reform: Die flächendeckende Verteidigungsstruktur wird skelettiert, immer größere Stücke für den internationalen Gebrauch herausgeschnitten und die Landesverteidigungsarmee als geplünderter Torso zurückgelassen, der sich kostspielig, aber handlungsunfähig immer mehr aus der Fläche zurückzieht. Selbst tief in der Bevölkerung verwurzelte Standorte wie Garmisch-Partenkirchen und Traditionsverbände wie die dort beheimatete 1. Gebirgsdivision wurden bedenkenlos geopfert.

Verteidigungsminister Struck setzt diesen Kahlschlag fort: Nach seiner neuesten Planung soll von den noch existierenden gut 600 Standorten ein weiteres Drittel aufgegeben werden, darunter Traditionsträger wie der Marinestützpunkt Olpenitz. Geht es nach Struck, wird die Bundeswehr zur "Weltstreitmacht" im Drei-Klassen-Format: 35.000 Mann Eingreiftruppe stehen für Einsätze weltweit parat, 70.000 Mann "Stabilisierungskräfte" sollen zu friedenssichernden Maßnahmen entsandt werden, 135.000 Mann "Unterstützungskräfte" dürfen die "Grundversorgung" übernehmen. In letzterer, schon nomenklatorisch zur Hilfstruppe degradierten Rumpfarmee versteckt sich, was vom einstigen Grundgesetzauftrag der Landesverteidigung noch übrig ist.

Man geht wohl nicht fehl, wenn man hinter diesem radikalen Aufräumen mit militärischen Strukturen und Traditionen auch ideologische Motive vermutet. Kaum zufällig wurde der jüngste Streich gegen die allgemeine Wehrpflicht von Familienministerin Renate Schmidt (SPD) geführt - der langjährigen Präsidentin der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerung e.V. (KDV). Ihre Ankündigung, in den nächsten Jahren die Abschaffung des Zivildienstes einzuleiten, zielt tatsächlich auf die Abschaffung der Wehrpflicht und gibt den zahlreichen Gegnern der Wehrpflicht in Regierung und Opposition Oberwasser.

Während die offizielle Linie bei SPD und CDU formal an der Wehrpflicht festhält, hat die FDP zunächst im Interesse der Wehrgerechtigkeit die Reduzierung der Dienstzeit auf - für eine sinnvolle Ausbildung kaum noch taugliche - fünf Monate gefordert, neigt inzwischen aber mehr der Berufsarmee zu. Die PDS stellt sich ein "Hunderttausend-Mann-Heer" aus Berufs- und Zeitsoldaten vor, und die Grünen haben am 2. Juni 2003 in einem Parteiratsbeschluß ihre Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht bekräftigt, die sie bereits in einer Prüfungsklausel des Koalitionsvertrages untergebracht haben. Grünen-Politiker waren folglich auch die ersten, die in Strucks Konzept ein behutsames Einschwenken der Sozialdemokraten auf ihre Linie sahen.

Ohnehin setzt Struck mit seiner Konzeption zunächst das um, was unter seinem Vorgänger Rudolf Scharping schon die Weizsäcker-Kommission vorgezeichnet hat. Deren im Mai 2000 vorgelegter Abschlußbericht hatte bereits gefordert, die Bundeswehr auf "schnelle Reaktion in zwei gleichzeitigen Krisen" zu optimieren und zu diesem Zweck auf 240.000 Mann herunterzufahren, von denen 28.000 jederzeit interventionsbereit sein sollten. Für die Wehrpflicht wäre in diesem Konzept nur symbolischer Platz für 30.000 Dienende - eine Farce, die über kurz oder lang ganz zur Disposition stünde.

Durch die fortwährende Reduzierung des Wehrdienstes auf zuletzt neun Monate und die Reduzierung des Wehrpflichtigenanteils auf ein marginales Quorum ist der Abschied von der Wehrpflicht ohnehin seit langem in einer weiteren Form der "Salamitaktik" vorweggenommen. Heuchelei und Opportunismus kennzeichnen die Wehrpflichtdebatte quer durch alle Parteien: In Lippenbekenntnissen preist man die Wehrpflicht und die Standorte in den Wahlkreisen, aber die Parameter der Verteidigungspolitik werden so gesetzt, daß nur eine Berufsarmee sie erfüllen kann. Wo Wehrgerechtigkeit zum Lotteriespiel wird - weniger als ein Drittel jedes Jahrganges wird derzeit überhaupt einberufen - und Auslandseinsätzen Priorität zugemessen wird, hat man sich innerlich von der Wehrpflicht längst verabschiedet.

Das überalterte Material wird verscherbelt und verschenkt

Rettung könnte eine allgemeine Dienstpflicht bringen, die sowohl Männer als auch Frauen für ein Jahr zum Dienst in der Armee, in Hilfs- oder sozialen Organisationen verpflichtet. Diesen Weg, der auch den Zivildienst als Stütze des Sozialstaates bewahren könnte, traut sich freilich derzeit keine der Berliner Parteien zu gehen.

Damit geht eine Erfolgsgeschichte zu Ende. Die Erfahrungen aus Nato-Ländern, die auf eine Berufsarmee umgestellt haben, zeigen deutlich: Die Qualitätsprobleme werden größer, weil zur Rekrutierung nicht mehr das ganze Volk herangezogen wird, sondern nur bestimmte, meist unterprivilegierte Schichten, die anderswo keine Aufstiegschancen mehr sehen. In Deutschland war die Wehrpflicht ein Garant für hohe militärische Qualität in der Breite. Diese wird geopfert, weil nur noch interessiert, ob die Armee ein kleines, aber schlagkräftiges Kontingent mit universaler Verfügbarkeit stellen kann.

Die Kostendebatte, auf die die Wehrpflichtfrage gern reduziert wird, greift zu kurz: Es geht nicht darum, ob die Berufsarmee fiskalisch teurer als die Wehrpflichtarmee ist, weil die Berufssoldaten besser bezahlt werden müssen als die Rekruten, oder volkswirtschaftlich billiger, weil die "gesamtgesellschaftlichen Kosten" wegfallen, die durch das Fernhalten der jungen Männer vom Wirtschaftsprozeß entstehen. Es geht zuallererst darum, ob die Armee noch Instrument der nationalen Souveränität ist, mit dem sich die Nation identifiziert und das in ihr verwurzelt ist.

Den Wehrpflichtigen der achtziger Jahre pflegten ihre Ausbilder den Koloß Sowjetarmee mit dem Hinweis zu entzaubern, daß ja die eine Hälfte der Fahr- und Flugzeuge nur dazu da sei, für die andere Hälfte die Ersatzteile zu liefern. Wehrpflichtige der Neunziger lernten diese "Kannibalisierung" bereits in den eigenen Einheiten kennen. Wehrpflichtige arbeiten mit Gerät, das nicht selten älter ist als sie selbst; hat die Bundeswehr größere Mengen Ausrüstung zu transportieren, muß sie russische Lastmaschinen aus der Ukraine mieten oder sich mit kurzatmigen Zwischenlandungen wie in der Zeit der Flugpioniere an ihr Ziel herantasten.

Strucks ehrgeizige Pläne zur Umgestaltung der Bundeswehr drohen am Finanziellen zu scheitern. Die Unterfinanzierung der Armee und Überalterung der Ausrüstung würde zusätzliche jährliche Investitionen in Milliardenhöhe erfordern, um den Beschaffungsstau zu lindern; statt dessen wird weiter gekürzt. Struck hat sich mit Bekanntgabe seines Planes von Beschaffungsvorhaben in Höhe von 26 Milliarden Euro verabschiedet. Die Zahl der Kampfflugzeuge soll von 700 auf 262 verringert werden, von 1.800 Leopard-Kampfpanzern sollen nur 400 übrigbleiben, von 2.600 Schützenpanzern nur 500. Zum Vergleich: 1988 besaß die Bundeswehr 4.900 Kampf- und 5.800 leichte Panzer.

Man weiß nicht, was man mit der Armee eigentlich will

Das bereits verschwundene und noch abzugebende Material dürfte ein ähnliches Schicksal erleiden: verscherbelt und verschenkt. Den Bestand der Vor-Wende-Bundeswehr und der NVA benutzen die Bundesregierungen seit über einem Jahrzehnt, um Geschenke in alle Welt zu verteilen und mit Rüstungshilfe Politik zu machen. Auch Deutschland wenig wohlgesonnene Staaten wie Polen gehören zu den Bedachten. Deutschland wurde so in einigen Jahren zu einem der größten Rüstungsexporteure der Welt.

Der deutschen Rüstungsindustrie hat das wenig geholfen. Seit 1990 ist die Zahl der Arbeitsplätze von 200.000 auf 80.000 geschrumpft. Schon vorher litt die Rüstungsindustrie unter ideologisch motivierten Exportbeschränkungen, von denen moralisch weniger zart besaitete Partner wie die USA gerne profitierten, wenn Deutschland lukrative Aufträge vornehm ablehnte. Inzwischen ist die deutsche Rüstungsindustrie, deren Hochtechnologie etwa im Panzer- und U-Boot-Bau noch immer an der Weltspitze mitmischt, von Ausverkauf und Abwicklung bedroht.

Ob Daimler-Chrysler seine Triebwerkstochter MTU verkaufen will oder Siemens seinen 49-Prozent-Anteil am Panzerbauer Krauss-Maffei - US-Firmen stehen in der Warteschlange ganz vorne. Den Aufkauf der Howaldtswerke Deutsche Werft (HDW) durch einen US-Investmentkonzern hat die Politik glatt verschlafen. US-Rüstungs­konzerne lecken sich bereits die Finger nach der Brennstoffzellentechnik des deutschen U-Boot-Bauers, der Unterwasserschiffe außenluftunabhängig wie ein Atom-U-Boot und mangels Abgasen faktisch unauffindbar macht. Etwas spät hat Struck gemerkt, daß ohne eigene Wehrtechnik schwer Weltpolitik zu machen ist. Seine Beschaffungspolitik zieht daraus keine Konsequenzen.

"Mit der vorrangigen Ausrichtung der Bundeswehr auf Kriseneinsätze wird eine geographische Eingrenzung des künftigen Einsatzraumes deutscher Soldaten schwierig", hieß es schon bei der Weizsäcker-Kommission. Auf gut Struck-deutsch: "Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt."

Das Warum und Wozu bleibt im Dunkeln. Statt dessen agiert man mit der feudalen Mentalität absolutistischer Duodezfürsten. So wie hessische Fürsten ihre Landeskinder als Kanonenfutter für die Kolonialkriege in Übersee verkauften, um die von Bauwut geschwächte Staatskasse zu füllen, werden derzeit deutsche Soldaten in alle Welt geschickt, um politische Vorteile zu gewinnen.

Wir haben Druck, weil wir im Irak nicht mitmachen? Dann schicken wir eben mehr Männer nach Afghanistan. Oder wäre es doch opportun, im Irak mitzumischen? Schon wählt Kanzler Schröder - wie Rühe mit der Auslandspremiere in Kambodscha - einen unverfänglichen "humanitären" Einstieg über den Einsatz von Sanitätssoldaten, um ein Engagement der Bundeswehr im Zweistromland vorzubereiten.

Mit der selbstbewußten Definition und Wahrung eigener nationaler Interessen durch den Einsatz der Armee als Instrument der Souveränität hat das wenig zu tun. Deutschland weiß nicht, was es mit seiner Armee überhaupt will. Deshalb funktionieren auch die ehrgeizig proklamierten "Reformen" nicht. Ausbaden müssen es die Soldaten.

Foto: Bundeswehrrekruten beim Exerzieren in der Blücher-Kaserne in Berlin: Schlagkräftiges Kontingent mit universaler Verfügbarkeit


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