© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/04 06. Februar 2004

Bildungselite ist Leistungselite
von Eberhard Straub

Soll (die Universität Straßburg) durch ihre Besetzung zur Concurrenz mit Heidelberg und Bonn befähigt sein, so muß in der Gelehrtenwelt selber der Gedanke zünden, hier werde der Plan einer Universität von eingreifender Bedeutung für Wissenschaft und Unterricht verfolgt, welcher anzugehören Ehre und Befriedigung verspreche... Hiermit verknüpft sich ein höherer Gesichtspunkt. Eine Universität muß schon vermöge ihres Gründungsplanes Charakter haben, damit sie eingreife und Macht gewinne." So hieß es in einer Denkschrift zur "Reorganisation einer Universität in Straßburg". Sie war vom jungen Philosophen Wilhelm Dilthey im September 1871 für den mit der Gründung beauftragten Politiker und Diplomaten Franz Freiherr von Roggenbach verfaßt, um Kaiser Wilhelm I. gründlich über das Vorhaben zu unterrichten.

Politiker und Wissenschaftler stimmten in der Absicht überein, daß mit dieser Gründung eine "deutsche Musteruniversität" geschaffen werden müsse. Also eine "Elite-Universität", wie eines der im Augenblick bequemen Schlagworte lautet, die aus der Gedankenlosigkeit des öffentlichen Lebens herauswachsen. Eine Universität schien das beste Mittel zu sein, das Elsaß mit allen Bestrebungen geistiger Arbeit im gesamten Vaterland in Zusammenhang bringen und ihm damit die Eingewöhnung in das Reich zu erleichtern.

Zugleich sollte aber auch die Gelegenheit genutzt werden, ein Modell zu entwerfen, dessen Überzeugungskraft dazu anrege, die deutschen Universitäten überhaupt umzugestalten: nicht neu zu erfinden - das war nicht nötig, denn sie waren die anerkannt besten auf der Welt - , sondern weiterzuentwickeln entsprechend den veränderten Bedingungen in Wissenschaft und Gesellschaft seit 1810, als die Berliner Universität eröffnet worden war.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden bei der Auffächerung der klassischen Disziplinen, der ausgreifenden Staatstätigkeit, der Industrialisierung und Technisierung, wegen der sozialen Frage, des Bevölkerungszuwachses, im Zusammenhang mit Städtebau, Sozialhygiene und den Notwendigkeiten einer ganz neuen Infrastruktur der Kommunen und Regionen ununterbrochen neue Aufgaben und neue Fragestellungen. Sie ließen sich nur mit Hilfe der Wissenschaften, neuer Wissenschaftszweige lösen.

Das führte zu einer Verwissenschaft-lichung des gesamten gesellschaftlichen Zusammenlebens, das bürokratisch durchdrungen eine umfassende Ver-rechtlichung erfuhr. Aufgrund dieser Entwicklung ergaben sich neue Berufe, und zwar Berufe, die eine wissenschaftliche Vorbereitung verlangten.

Die Straßburger Universität sollte im Sinne eines "realistischen Humanismus" Theorie und Praxis in Beziehung bringen, den Ansprüchen der Bildung wie beruflicher Vorbildung genügen. Die Idee der Universität blieb die gleiche. Lernfreiheit der Studenten und Forschungs- wie Lehrfreiheit der Professoren. Die annäherungsweise Verwirklichung dieser Idee, die wie alle Ideen sich nie vollkommen verwirklichen läßt, paßte sich nur veränderten Bedingungen und neuen Voraussetzungen an. Wichtig blieb, daß an der Idee der Bildung durch Wissenschaft festgehalten wurde.

Mit der Idee von der humanisierenden Macht der Bildung kam es zu einer Erneuerung des Elitebegriffs: Nicht nur Geburt allein, sondern Eignung und Einsatz befähigten zum gesellschaftlichen Aufstieg.

Deshalb wirkte diese Musteruniversität tatsächlich vorbildlich. Als eine der besten Hochschulen im Reich und in Mitteleuropa regte ihr Beispiel dazu an, dort erprobte und bewährte Neuerungen für Bildung und Ausbildung aufzugreifen und zu übernehmen. Der Verzicht auf Talare widerstrebte allerdings allen anderen Universitäten. Die Gründung dieser Universität des "realistischen Humanismus" war eine Improvisation wie sechzig Jahre früher die Gründung der Berliner Universität. Kaiser Wilhelm I. und Bismarck ließen Roggenbach freie Hand, ganz nach seinem Ermessen zu handeln.

Er hatte früher die Volksschulen in Baden erfolgreich reformiert und die Neuorganisation der Technischen Hochschule in Karlsruhe geleitet. Das gesamte Bildungswesen sah er in einem großen Zusammenhang. Er war politisch erfahren, mit der Verwaltung vertraut, gebildet, weltläufig und als Alemanne für die benachbarten Elsässer kein Fremder. Als theoretischer Kopf, nicht unberührt von den ästhetischen Stimmungen seiner Zeit, war Roggenbach durchaus in der Lage, die wissenschaftlichen Strömungen und deren Vertreter zu beurteilen. Er fragte wenn notwendig um Rat, ließ sich unterrichten und entschied dann nach eigenem Gutdünken. Er verließ sich auf die Maxime, die sich in Berlin schon 1810 bewährt hatte, begabten Temperamenten die Universität zu übergeben, damit sie das daraus machten, wozu sie bestimmt war.

Wie der Kaiser und Bismarck ihn gewähren ließen, so gab Roggenbach den von ihm berufenen Professoren die Freiheit und Gelegenheit, in einem grob skizzierten Rahmen sich zu bewegen und die Details zu regeln. Dasselbe Prinzip leitete längst auch die militärische Ausbildung. Entgegen allem polemischen Gerede vom blinden Gehorsam beruhte ja die Überlegenheit der preußischen Verwaltung und Armee darauf, daß nicht Befehlen gehorcht, sondern in eigener Verantwortung Aufträge bei freier Wahl der Mittel und Wege möglichst erfolgreich umgesetzt wurden.

Bildung, das war die idealistische und preußische Idee, sollte befreien und den eigenwilligen Tendenzen in Institutionen Spielraum verschaffen, Freiheit im Staat und seinen Einrichtungen zu suchen, aber nicht Freiheit vom Staat. In einem langwierigen Prozeß, der um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzte, kam es in Verbindung mit der Idee von der befreienden, humanisierenden Macht der Bildung zu einer Umstrukturierung der sogenannten Elite. Nicht mehr Geburt allein, sondern wissenschaftlich-ästhetische Bildung befähigte von nun an zum Aufstieg in die Elite oder bestätigte, ihr anzugehören.

Adel und Bildungsbürgertum näherten sich einander an. Das Gymnasium und die Universität prägten den wissenschaftlichen Geist, die Anteilnahme an allen Künsten verfeinerte den Geschmack und unter Umständen sogar die Sitten und Manieren. Beides wirkte demokratisierend, weil selbst aus den untersten Schichten über Bildung der Aufstieg in leitende Stellungen möglich war, was genug Biographien berühmter Professoren und Beamter im 19. Jahrhundert bestätigen.

Überhaupt veranschaulichte der Professor damals, zumindest für Deutsche, am überzeugendsten die Gottähnlichkeit des Menschen. An der Unfehlbarkeit des Papstes entschieden zu zweifeln, das gehörte sich für jeden selbstsicheren Mann. Doch höchstens Goethe konnte es sich erlauben, über die "Berliner Unfehlbarkeiten" an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu spotten, die wiederum großzügig grämliche Bemerkungen aus Weimar als unvermeidliche Folgen der Vergreisung achselzuckend entschuldigten.

Gymnasium und Universität egalisierten. Der Geniekult um den Künstler, um den schöpferischen Menschen schlechthin, ebnete Dichtern, Musikern und Malern den Weg auf die Höhen des sozialen Olymps. Sie mußten keineswegs die entsprechenden Akademien besucht haben. Richard Wagner, der selbstgemachte Mann, ist in einem unbefangenen Verständnis der letzte, monumentale Ausdruck dieses Strebens nach freier Bildung und Bildung zur Freiheit, zu der Goethe und seine Gefährten gerade unter den Gelehrten aufforderten. Durch Bildung gab es eine sehr homogene Oberschicht. Die Kenntnis der klassischen Sprachen und der antiken Welt war selbstverständlich. Eine "Wissensordnung" systematisierte die Wissenschaften. In der Hierarchie der Wissenschaften galt die theoretische Bemühung unbedingt höher als jede praktische Tendenz, die an Verwertung und etwaiger Gewinnabschöpfung interessiert war.

Neben das klassische Athen und das augusteische Rom traten die Florentiner Renaissance, das Rom der Päpste, das spanische siglo d'oro, für Deutsche nur zuweilen das Jahrhundert Ludwig XIV., dafür aber Shakespeare und das Deutschland zwischen 1750 und 1832, die Goethezeit, als vorbildliche, weil unerschöpfliche Epochen hinzu. Das waren vielleicht etwas willkürliche, doch sehr stabile Grundlagen, um eine Elite lebendig zu halten, den Aufstieg in ihre Reihen über gewisse Anforderungen, denen genügt werden mußte, zu regeln.

Franz von Roggenbach, ein Repräsentant dieser Bildung, brauchte keine Reform- oder Strukturkommissionen. Als gebildeter Beamter, vertraut mit ebenso gebildeten Wissenschaftlern, Künstlern und forschenden Industriellen, verließ er sich auf die "Grundwahrnehmungen" aller Gebildeten. Nach einigen Monaten Vorbereitung wurde am 1. Mai 1872 die Universität in Straßburg eröffnet - unvorstellbar für heutige Zeiten. Doch Roggenbach hatte noch das Glück, mit einer Übereinstimmung im Grundsätzlichen rechnen zu können. Denn selbst Verteidiger der realistischen Tendenzen kamen doch nie auf den Gedanken, die Grundlagen der Bildung in Frage zu stellen. Auch die Arbeiterführer, selber geprägt von der befreienden, anspruchsvollen Bildung, verwarfen deren Ideale und praktische Ziele nicht.

Auf den Vorschlag, die Universität als Fabrik zu verstehen, in der Professoren erwünschte Ideen wie Waren produzieren, die sie ihrer zahlenden studentischen Kundschaft liefern, der im 18. Jahrhundert als sehr vernünftig galt, wollte niemand mehr zurückkommen. Die Universität sollte einer Idee entsprechen, aber kein Kauf - und Warenhaus für die wechselnden Bedürfnisse des Tages sein oder werden. Roggenbachs Mitarbeiter in Straßburg, der Verwal-tungsrechtler Friedrich Althoff, wurde später im preußischen Kultusministerium zum alles leitenden und belebenden "Organisator" einer zum Großbetrieb gewordenen Wissenschaft. Kaiser Wilhelm II. würdigte den stets loyalen Mitarbeiter unter seinen Beamten als den Bismarck der Bildungspolitik. Tatsächlich war dieser außerordentliche Mann so etwas wie ein Napoleon, der mit genialem Überblick alles ordnete und Widerstand gegen seine Vorstellungen meist zutreffend als egoistischen Protest eitler Professoren beurteilte, die an ihre Vorteile, aber nicht an die Wissenschaft als System dachten.

Was an der Welt einzig noch interessiert, ist deren Ausbeutbarkeit. Sie wird als Rohstoff behandelt, und auch der Mensch wird allmählich als "Ressource" behandelt, als Material also, das profitorientiert verarbeitet wird.

Althoff ging es darum, die Weltgeltung der deutschen Universität und Wissenschaft zu erhalten. Die Deutschen beobachten genau, wie die US-Amerikaner, deutsche Vorbilder aufgreifend, mächtig aufholten. Selber Professor - in Straßburg - bevor er 1882 in die Verwaltung hinüberwechselte, hing er an der Idee der Universität, verschloß sich aber nicht Modifizierungen, indem er etwa reine Forschungsinstitute aufbaute und damit die Einheit von Forschung und Lehre auflockerte. Vor allem gelang es ihm, Stifter und Spender heranzuziehen, die mit erheblichen Beträgen die institutionalisierten Wissenschaften förderten. Althoffs Denken ins Große verlieh dem vielgescholteten "Wilhelminismus" eine geistige Dimension. Immerhin bereitete er den Übergang in die Massenuniversität vor, ohne die biegsame Idee der Universität aufzugeben. Ihm zur Seite standen Bildungsbürger wie der Theologe Adolf von Harnack, der souverän den gesamten Zusammenhang aller Wissenschaften überblickte, oder der spätere preußische Kultusminister Friedrich Schmidt-Ott.

Solche Bildungspolitiker gibt es heute nicht mehr. Das liegt am Niedergang des Bildungsbürgertums, am Zerfall einer verbindlichen Bildungsidee und an der geistlosen Zerstörung der deutschen Universität. Es gibt kein Menschenbild mehr, kein Weltbild, das diesen Namen verdient, und keine Idee der Bildung und Erziehung, der "Paideia", wie es die Griechen nannten und der Werner Jäger eine große Studie widmete.

Der Zusammenbruch der Vorstellung von Bildung durch Wissenschaft hängt mit dem ökonomischen Denken zusammen, das mit seinen Verwert-barkeitswünschen unmittelbar in die Wissenschaften drang. Es geht immer weniger darum, die Welt als ein Ganzes zu verstehen, sich der Wahrheit anzunähern, ordnenden Vorgängen, die von der kosmischen Weltharmonie künden. Dergleichen gilt als Träumerei, gar als unproduktiver Kitsch.

Denn was an der Welt als Natur einzig interessiert, ist deren Ausbeutbarkeit, sie vollständig in den Produktionsprozeß einzubeziehen. Sie wird wie ein beliebiger Rohstoff behandelt. Selbst der Mensch, der sich nicht so wichtig nehmen soll, wie ihm immer wieder bedeutet wird, wird allmählich als Ressource, als Rohstoff betrachtet, der nach Nützlichkeitserwägungen "behandelt", also präpariert und in die Produktionsmechanismen eingepaßt wird.

Humanität gilt bei solchen Erwartungen höchstens als kulturhistorische Erinnerung. Paradoxerweise werden aber die Menschenrechte und die Menschenwürde dauernd beschworen, die freischwebend geworden sind, weil sie ihr Fundament in Bildung und Wissenschaft einbüßten. Sogenannte Bildungspolitik erschöpft sich in Produktionsziffern, Innovationsdaten, Strukturmaßnahmen, immer mit Rücksicht auf die Vermarktung wissenschaftlicher Information.

Wenn momentan von Elite geredet wird, entspricht das genau dieser geistlosen Produktionsmentalität. Aus dem Rohstoff Mensch sollen Eliten gewonnen werden, um sie dann zu vermarkten. Universitäten können unter solchen Voraussetzungen nur als Fabrik funktionieren, in denen "Humanressourcen" als produzierende Maschinen voll zum Einsatz gelangen. Damit erreicht die Dehumanisierung der Bildung ihr konsequentes Ende.

 

Dr. habil. Eberhard Straub, Jahrgang 1940, ist Journalist und Historiker. Zuletzt erschienen von ihm im Siedler Verlag, Berlin, die Bücher "Albert Ballin - der Reeder des Kaisers" und "Eine kleine Geschichte Preußens".


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