© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/04 20. Februar 2004

"Die Türken fühlen sich als Europäer"
Der Soziologe Faruk Sen über den EU-Beitritt der Türkei, Zuwanderung "nach Bedarf" und die Rolle islamischer Vereine in Deutschland
Manuel Ochsenreiter

Herr Professor Sen, der Streit um die Frage eines EU-Beitritts der Türkei ist am Wochenende in Zusammenhang mit der kommenden Europawahl wieder voll entbrannt. CSU-Landesgruppenchef Michael Glos etwa stellte klar: "Die Türkei war nie Teil Europas". Erst vor einiger Zeit schockierte die Nachricht über jährlich bis zu 200 sogenannte Ehrenmorde in der Türkei - also etwa die Tötung von Töchtern, die Schande über die Familie gebracht haben - die deutsche Öffentlichkeit. Wie europäisch ist die Türkei tatsächlich?

Sen: Im türkischen Staat mit 67 Millionen Menschen gibt es natürlich Gegenden, die noch rückständig sind. Dort verharren die Bewohner nach wie vor in ihren alten und teils tribalen Traditionen. Aber durch die Annäherung der Türkei an die Europäische Union kann man sicher sein, daß diese Strukturen nicht mehr lange existieren werden, die übrigens jeder vernünftige Türke verurteilt! Denn das gehört nicht in die Türkei des 21. Jahrhunderts.

In der Türkei wurde eine Reihe von "Reformpaketen" für die von Ihnen erwähnte europäische Annäherung verabschiedet. Wie sieht es mit der Umsetzung aus?

Sen: Die Türkei hat seit 2001 eigentlich alle Auflagen der sogenannten Kopenhagener Kriterien formaljuristisch voll und ganz erfüllt. Jetzt ist die Türkei allerdings aufgefordert, diese Reformen auch praktisch umzusetzen. In einigen Bereichen stockt dieser Prozeß tatsächlich. Wenn die Türkei diese Reformen nicht durchsetzen kann, wird sie keine Perspektive haben.

Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde Deutschlands, Hakki Keskin, berichtete über erhebliche Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung der Reformen, beispielsweise bei den polizeilichen Dienststellen.

Sen: Es gibt drei Bereiche, die in der Türkei reformiert werden: die Justiz, der polizeiliche Bereich und die Minderheitenpolitik. Bei allen drei gibt es trotz großer Bemühungen nach wie vor Probleme. Die Türkei hat für die Bewältigung dieser Probleme nur noch bis zum Oktober 2004 Zeit, wenn die EU-Kommission ihr abschließendes Urteil über die Türkei bildet. Im Justizbereich gibt es mittlerweile konkrete Erfolge, aber vor allem der Lernprozeß bei der Polizei muß sich erheblich beschleunigen.

Spricht die Wahl einer islamistischen Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nicht gegen einen europäischen Integrationswillen der Mehrheit der Türken?

Sen: Diese islamistische Regierung hat mehr Reformen durchgeführt als alle anderen sozialdemokratischen und konservativ-liberalen Regierungen zuvor. Dies zeigt, daß sich die islamistische Regierungsmehrheit zu einer konservativ-demokratischen Partei gewandelt hat, vergleichbar mit der CDU/CSU in Deutschland.

Ist diese pro-europäische Ausrichtung der Islamisten nicht rein strategischer Natur, da sie sich dadurch Einfluß auf Europa und finanzielle Vorteile durch die Beteiligung an EU-Förderprogrammen erhoffen?

Sen: 78 Prozent der Türken wünschen sich eine Mitgliedschaft in der EU. Bei den Auslandstürken ist dieser Anteil sogar noch höher. Nur sieben Prozent der Türken im Heimatland sind gegen eine EU-Mitgliedschaft. Ich glaube, daß die von Ihnen erwähnten Fördertöpfe keine Rolle mehr spielen werden, denn die Türkei wird frühestens im Jahr 2010 EU-Mitglied werden und bis dahin wird von den EU-Finanzförderungen kaum mehr etwas übrig sein. Daher rechne ich nicht damit, daß die Türkei in dieser Hinsicht vom EU-Beitritt profitieren wird - ganz anders als die jetzigen Beitrittsländer Osteuropas. Die Türken fühlen sich als Europäer. Sie fühlen sich trotz ihrer islamischen Identität dem europäischen Kulturkreis zugehörig.

Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Aufforderung des türkischen Außenministers Abdullah Gül vom April letzten Jahres, daß die diplomatischen Vertretungen der Türkei die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) nach Kräften unterstützen sollen?

Sen: Er hat nicht gesagt, daß die IGMG, die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird, zu unterstützen ist. Er sagte lediglich, daß die diplomatischen Vertretungen die IGMG genauso behandeln sollen wie alle anderen Vereinigungen. Ich persönlich wünsche mir allerdings, daß die IGMG-Vereinigungen in Zukunft geringere Bedeutung in Deutschland haben werden als heute.

Und welche Rolle sollte Ihrer Meinung nach die der türkischen Religionsbehörde unterstellte Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) spielen?

Sen: Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland elf islamisch geprägte türkischstämmige Organisationen. DITIB ist die einzige Organisation, die vom türkischen Staat voll gefördert wird, über ein Drittel der Moschee-Vereine in Deutschland gehören zu DITIB. Sie sehen sich als Vertreter eines laizistisch geprägten Islams. Aber auch die anderen Vereinigungen haben viele Mitglieder, und solange sie sich demokratisch organisieren, kann man gegen sie kaum etwas unternehmen. Wenn diese Organisationen allerdings den Terror fördern oder die Integration verhindern, sollte man ihnen in Deutschland jegliche Bewegungsfreiheit nehmen - wie beispielsweise beim "Kalifatstaat" des Islamistenführers Metin Kaplan. Ich begrüße das harte Vorgehen von Innenminister Otto Schily gegen solche Organisationen!

Nichtsdestotrotz ist doch der von Ihnen erwähnte Kalifatstaat Kaplans ein Spaltprodukt von Milli Görüs.

Sen: Das ist absolut richtig. Allerdings hatten Kaplan und Milli Görüs in letzter Zeit keinen Kontakt mehr. Kaplan und seine Gruppierung propagierten Gewalt - das kann man der IGMG nicht vorwerfen.

Ministerpräsident Erdogan selbst traf sich vergangenes Jahr in Berlin mit zwei Vertretern der IGMG, was zu innenpolitischen Verstimmungen führte. Wie schätzen Sie solche Kontakte ein?

Sen: Bei dieser Veranstaltung waren alle türkischen Organisationen Berlins vertreten. Allerdings wiederhole ich nochmal: Milli Görüs ist keine verbotene Organisation in Deutschland.

Sie haben 1998 in einem Interview mit dieser Zeitung dargelegt, warum bis auf den Familiennachzug die Einwanderung nach Deutschland beendet werden sollte: Bei sieben Millionen Ausländern stehe ein "neuer Zuzug im Grunde nicht zur Debatte". Sind Sie angesichts von "Greencard" und einem neuem Zuwanderungsgesetz also unzufrieden mit der Politik der rot-grünen Koalition bzw. der Opposition, mit deren Zustimmung diese Maßnahmen beschlossen wurden?

Sen: Ein Zuwanderungsgesetz muß es in jedem Fall geben. Obwohl wir in Deutschland 4,2 Millionen Arbeitslose haben, brauchen wir in vielen Bereichen auch neue Einwanderer. Aber das muß strukturiert und je nach Bedarf geschehen. Wir sollten daher das Modell der USA, Australiens oder Kanadas übernehmen, wo man die Tür nicht für jeden Ausländer öffnet, sondern nur für diejenigen, die "gebraucht" werden.

Der Berliner Innensenator Ehrhart Körting warnte unlängst, einige Berliner Bezirke der Hauptstadt stünden davor, sich in "Ghettos" zu verwandeln.

Sen: Ich bin absolut gegen jede Art von Ghettobildung. Es muß seitens der Behörden alles unternommen werden, damit es nicht zur Entstehung von Parallelgesellschaften kommt, denn diese sind absolute Integrationshemmnisse.

Wie kann dem praktisch entgegengewirkt werden?

Sen: Ghettobildung kann gar nicht oft genug kritisiert werden. Wir müssen hierbei vor allem eines beachten: Es geht um die Migranten, die keine Möglichkeit haben, sich woanders niederzulassen, also vor allem Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger. Hier müßten vor allem soziale Maßnahmen in die Wege geleitet werden. Es geht um Chancengleichheit. Ghettobildung ist kein selbstbestimmter Prozeß.

Sie selbst haben festgestellt, daß die Sprachkompetenz junger Türken in der dritten Generation abnimmt. Wo liegen die Ursachen für eine solche Entwicklung?

Sen: Dieses Problem wird vor allem durch die Heiratsimmigration verursacht. Viele in Deutschland lebende Türken holen sich ihre Ehepartner aus der Türkei. Oftmals heißt das, daß die Ehepartner dann fast ausschließlich zu Hause bleiben und auch die Kinder dort bis zum sechsten Lebensjahr erziehen, anstatt sie in den Kindergarten zu schicken. Wir müssen bei Familienzusammenschlüssen die Leute mehr sprachlich fördern und sie dazu motivieren, die Kinder in deutsche Kindergärten zu schicken. Dies ist absolut notwendig. Denn wenn die nächste Generation der hier lebenden Türken in Deutschland eine Chance haben möchte, muß sie die Sprache wesentlich besser beherrschen, als dies heute der Fall ist.

Nadeem Elyas und andere islamische Funktionäre sind gern gesehene Boten der Integration in Deutschland. Zu Recht? - Oder sind die Deutschen zu arglos gegenüber islamistischen Tendenzen?

Sen: Sehen Sie, sowohl der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD), dem Elyas vorsteht, aber auch der Islamrat sind zwei Organisationen, die nur eine ganz geringe Prozentzahl der hier lebenden 3,5 Millionen Muslime vertreten. Deshalb ist es falsch, wenn sie als "die" Vertreter der Muslime angesehen werden. Die meisten organisierten Muslime sind nach wie vor bei DITIB.

Allerdings tritt DITIB als sich politisch äußernde Organisation im Gegensatz zum ZMD und Islamrat überhaupt nicht öffentlich in Erscheinung. Überläßt die sich auf reine Religionsausübung beschränkende DITIB damit nicht das Feld den Fundamentalisten?

Sen: Ich bedauere das sehr. DITIB müßte im Bereich des Islams und der Integration eine bedeutendere Rolle spielen. Ich gehe davon aus, daß in den kommunalen DITIB-Vereinigungen in Deutschland die Forderung nach einer aktiveren öffentlichen Rolle laut werden wird. Die meisten Türken und damit die Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime stehen der DITIB nahe und nicht den anderen Organisationen, wie eine Umfrage erst kürzlich ergab.

Wieso hält sich dann DITIB auch im Bereich des islamischen Religionsunterrichts so zurück? In Berlin unterrichtet beispielsweise die Islamische Föderation, die wiederum der fundamentalistischen IGMG sehr nahesteht.

Sen: Diese Frage müssen Sie an die Vertreter von DITIB richten. Allerdings bedauere ich sehr, daß in Berlin ausgerechnet die Islamische Föderation diese Erziehungsarbeit wahrnimmt.

Haben die Aktivitäten der islamistischen Gruppen in Deutschland, vor denen Sie schon im JF-Interview 1998 gewarnt haben, weiter zugenommen?

Sen: Hier spielt vor allem die Berichterstattung eine entscheidende Rolle, wie ich glaube. Man berichtet eben vor allem über die sich lautstark äußernden islamischen Organisationen in Deutschland, unabhängig von ihrer Mitgliederzahl. Insgesamt hat sich allerdings die Zusammensetzung der in Deutschland lebenden Muslime seitdem kaum geändert.

Welche Aufgaben nimmt das von Ihnen geleitete Zentrum für Türkeistudien (ZfT) wahr?

Sen: Wir setzen uns ganz allgemein für die Förderung der deutsch-türkischen Beziehungen ein. Dies geschieht durch wissenschaftliche Studien, durch die Organisation von Veranstaltungen oder auch die Aufarbeitung von Sekundärinformationen. Das Zentrum für Türkeistudien sieht sich dabei als Moderator, als eine Plattform im deutsch-türkischen Dialog und als Kompetenzzentrum für alle Fragen, die die Türkei und die türkische Migrationsthematik betreffen.

Kritiker sehen in Ihrem Zentrum vor allem eine Lobby für einen EU-Beitritt der Türkei.

Sen: Daß uns am EU-Beitritt der Türkei gelegen ist, ergibt sich aus unserem Stiftungsauftrag: Zu diesem gehört die deutsch-türkische Beziehungsförderung und damit die EU-Integration der Türkei als sicher gewichtigstes Mittel zur Intensivierung der deutsch-türkischen Beziehungen. Wer hieraus aber ableitet, daß die wissenschaftliche Arbeit des Zentrums unter dieser Orientierung leidet, unterschätzt die Sensibilität, die in unserem Haus für die Gefahr der Vermischung von Wissenschaft und Interessenspolitik besteht. Auch das Stiftungskuratorium gewährleistet die strikte Trennung von wissenschaftlicher Arbeit und Beziehungsförderung. Tatsächlich werden besonders strenge Maßstäbe an die wissenschaftliche Qualität unserer Arbeit gelegt, da in Einzelfällen immer wieder der Vorwurf von Tendenziösität aufkommen kann - woran leider auch die junge freiheit ihren Anteil hat. Tatsächlich trennen wir aber immer sehr deutlich zwischen wissenschaftlichen und normativen Aussagen.

Das Zentrum kam im Jahr 2001 in die öffentliche Kritik, nachdem das Nachrichtenmagazin "Focus" über vermeintlich unsaubere und parteiische Praktiken bei der Auswertung der türkischen Presse für die Bundesregierung berichtete.

Sen: Es ging schlicht darum, daß die jahrelang durch uns geleistete Auswertung der türkischen Presse hinsichtlich der Berichterstattung über die Politik der Bundesregierung seit Mitte 2001 aus Kostengründen im Bundespresseamt intern geleistet wird und daher die Zusammenarbeit mit dem ZfT eingestellt wurde. Im Focus wurde die Mutmaßung formuliert, dies hinge mit den Querelen zwischen dem Bundespresseamt und dem ZfT zusammen. Diese Mutmaßung war vollkommen haltlos, aber presserechtlich nicht relevant. Wir konnten nicht dagegen vorgehen, da es sich um keine Tatsachenbehauptung handelte.

Sie haben gefordert, die Ausländer in Deutschland sollten "ihr Bestes für Deutschland tun". Sind die Ausländer, insbesondere die integrierten Türken, Ihrer Meinung nach mittlerweile die besseren Deutschen?

Sen: Ich gehe davon aus, daß die neuen Deutschen mit türkischer Abstammung dem neuen Heimatland mit einer kritischen Solidarität gegenüberstehen.

Können Ihrer Meinung nach die Deutschen etwas von den - wie Sie sie nennen - "neuen Deutschen" lernen?

Sen: Lernprozesse sind niemals auszuschließen. Ich gehe deshalb davon­ aus, daß die alteingesessenen Deutschen von den neuen noch eine ganze Menge dazulernen können.

Zum Beispiel?

Sen: Ich glaube, in der Innovationsfreude, der Impulsivität, beim Elan und auch bei der Lebensfreude!

 

Prof. Dr. Faruk Sen ist seit Oktober 1985 Leiter des Zentrums für Türkeistudien erst in Bonn, später dann in Essen. Seit 1990 lehrt er als Professor an der Gesamthochschule-Universität Essen. Geboren 1948 in Ankara, lebt der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler seit 1971 in Deutschland. Er studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Münster, promovierte über "Türkische Arbeitnehmergesellschaften" und war Lehrbeauftragter an der Universität Bonn.

 

Foto: Merkel und Erdogan in Ankara: "Die alten, teils tribalen Traditionen ... gehören nicht in die Türkei des 21. Jahrhunderts"

 

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