© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/04 20. Februar 2004

Notwendigkeit und Rentabilität
von Folkmar Koenigs

Im Bereich der Krankenversicherung bestehen gegenwärtig nebeneinander die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) als Pflichtversicherung für alle abhängig Beschäftigten mit einem Entgelt bis zu 3.825 Euro pro Monat sowie die private Krankenversicherung (PKV), in der sich abhängig Beschäftigte mit einem höheren Monatsentgelt, Beamte und Selbständige gegen Krankheit versichern können. In der GKV sind die Beiträge in Prozent des Entgeltes des Versicherten zu leisten, gegenwärtig je nach Versicherung zwischen 13,3 und 15,5 Prozent, hängen also von der Höhe seines Entgeltes ab; sie sind je zur Hälfte vom Arbeitgeber und vom Arbeitnehmer zu zahlen. Innerhalb des Systems der GKV findet also ein Ausgleich sowohl zwischen Ledigen und Familien als auch zwischen Arbeitnehmern mit höherem und geringerem Verdienst statt. Die Kosten der Krankenversicherung für die Mehrheit der Bevölkerung sind damit Nebenkosten des Faktors Arbeit.

Durch zu geringe Einnahmen wegen der hohen Arbeitslosigkeit, Mängel des Systems und steigende Kosten durch den medizinischen Fortschritt kann die GKV ihre gesetzlichen Leistungen nicht mehr aus den Beiträgen decken. Hinzu kommt die künftige Veränderung der Altersstruktur der Versicherten durch mehr Rentner mit geringeren Beiträgen, aber höheren Kosten und durch weniger Beschäftigte mit vollem Beitrag. In ihrer gegenwärtigen Form kann die GKV daher nicht mehr fortgeführt werden. Die jetzt beschlossenen Änderungen (Praxisgebühr, keine Leistungen für Zahnersatz und Brillen) sind nur eine Notmaßnahme für eine Übergangszeit.

Für eine grundlegende Reform haben zwei Kommissionen unterschiedliche Vorschläge vorgelegt, die von der Regierung beauftragte Rürup-Kommission und die von der CDU beauftragte Herzog-Kommission. Als grundlegend verschiedene Modelle stehen sich gegenüber die Bürgerversicherung (Rürup 1. Alternative) einerseits, das weitere Nebeneinander der GKV in veränderter Form mit unterschiedlichen Varianten und der PKV andererseits (Rürup 2. Alternative, Herzog). Für die Bürgerversicherung haben sich die SPD und die Grünen auf ihren Parteitagen entschieden, für das weitere Nebeneinander von GKV und PKV die CDU auf ihrem Parteitag und die CSU. Daher ist zunächst auf den grundlegenden Unterschied zwischen Bürgerversicherung einerseits, GKV und PKV nebeneinander anderseits einzugehen, sodann auf die weiteren Fragen.

Die Bürgerversicherung soll eine Krankenversicherung mit einem einheitlichen, das medizinisch Notwendige umfassenden Leistungsangebot sein, der nicht nur die bisher pflichtversicherten Arbeitnehmer, sondern auch die Beamten und Selbstständigen angehören müssen, es sei denn, daß ihr Einkommen die Pflichtgrenze von 3.825 Euro übersteigt. Noch offen ist eine Erhöhung der Pflichtgrenze auf 5.100 Euro.

Für Versicherungspflicht und Beiträge sind maßgebend nicht nur das Arbeitsentgelt bzw. Einkommen aus selbständiger Arbeit, sondern auch Einkommen aus Mieten, Pachten und Kapitalvermögen. Das Einbeziehen aller Bürger insbesondere der Beamten mit Einkommen bis zur Einkommensgrenze von 3.825, ggf. 5.100 Euro sei ein Gebot der Gerechtigkeit und Solidarität, führe zum Ende der Zwei-Klassen-Medizin und sichere die finanzielle Leistungsfähigkeit der GKV für die Zukunft.

Die Gründe gegen eine solche Bürgerversicherung überwiegen jedoch. Durch eine Pflichtversicherung für alle Bürger wird nicht nur der gegenwärtig leider noch unzureichende Wettbewerb unter den Trägern der GKV beseitigt, dessen Verstärkung zur Zeit angestrebt wird, sondern auch der Wettbewerb zwischen GKV und PKV um die freiwillig Versicherten, vor allem aber der Wettbewerb der Unternehmen der PKV untereinander. Fehlender Wettbewerb führt erfahrungsgemäß jedoch zu geringeren Leistungen bei höheren Kosten.

Die Anbieter von Gesundheitsleistungen wie Krankenhäuser, Ärzte, Hersteller von Arzneimitteln etc. stehen dann einem marktbeherrschenden Oligopol gegenüber, dessen Macht sie bei der Vergütung ihrer Leistungen weitgehend ausgeliefert sind. Die bisher nicht der Versicherungspflicht in der GKV unterliegenden Bürger können nicht mehr zwischen freiwilliger Versicherung in der GKV oder in einem Unternehmen der PKV wählen und den Umfang ihres Versicherungsschutzes und dessen Kosten nicht mehr selbst bestimmen. Das ist ein schwerer Eingriff in die durch Art. 2 Grundgesetz geschützte wirtschaftliche Handlungsfreiheit dieser Bürger. Die Pflichtversicherung aller Bürger in der GKV führt zu einem Eingriff in die durch Art. 12 Grundgesetz geschützte Berufsfreiheit der Unternehmen der PKV, dessen Zulässigkeit wegen der Schwere des Eingriffs sehr fraglich ist.

Das Nebeneinander von GKV und PKV ist kein Verstoß gegen soziale Gerechtigkeit und Solidarität. Die nicht in der GKV Versicherten zahlen zwar keine Beiträge, bekommen aber auch keine Leistungen aus der GKV. Soweit sie höhere Leistungen erhalten, müssen sie dafür auch in der PKV höhere Versicherungsbeiträge bezahlen. Richtig ist allerdings, daß sie nicht über ihre Beiträge zum sozialen Ausgleich innerhalb der GKV zwischen Ledigen und Familien und Versicherten mit höherem und geringerem Verdienst sowie zur Finanzierung der von der GKV erbrachten versicherungsfremden Leistungen beitragen. Dieser Systemfehler rechtfertigt aber nicht die Ausweitung der Versicherungspflicht in der GKV auf alle Bürger, sondern ist dadurch zu beseitigen, daß diese Kosten aus der GKV herausgenommen und von der Allgemeinheit über Steuern getragen werden.

Falsch ist die Bewertung des Nebeneinanders von GKV und PKV als Zwei-Klassen-Medizin. Etwaige unterschiedliche Leistungen beruhen auf unterschiedlichen Beiträgen. Die Versicherten der PKV ermöglichen gegenwärtig durch die von ihnen gezahlten Entgelte nicht unerheblich die Versorgung der Versicherten der GKV zu den von der GKV an Krankenhäuser und Ärzte gezahlten Entgelten.

Die Ausweitung der Versicherungspflicht in der GKV auf Beamte und Selbständige bis 3.825 Euro pro Monat Gehalt bzw. Einkommen wird nicht zu einer erheblichen Verbesserung der finanziellen Leistungsfähigkeit der GKV führen; denn den zusätzlichen Beiträgen stehen entsprechende Leistungsansprüche und Aufwendungen gegenüber.

Die Mehrheit der neuen Versicherungspflichtigen hat ein gleiches oder sogar geringeres Gehalt/Einkommen als der Durchschnitt der bisher in der GKV Versicherten. Daraus folgt ein im Verhältnis zu den Gesamtkosten der GKV nur sehr geringer Überschuß der Beiträge dieser zusätzlich Versicherungspflichtigen über die Aufwendungen. Im Falle einer Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze auf 5.100 Euro würde sich daran nur wenig ändern, die Zweifel an der rechtlichen Zulässigkeit der Bürgerversicherung aber größer werden.

Entgegen Behauptungen in der Presse haben Beamte bei der Krankenversicherung gegenüber Arbeitnehmern keine Vorteile, sondern bei Versicherung ihrer Angehörigen sogar Nachteile; denn die Beamten erhalten als Beihilfe 50 Prozent ihrer eigenen Krankenkosten, aber nur 70 Prozent der Kosten für Ehefrau und Kinder, die in der GKV kostenfrei mitversichert sind, müssen also die verbleibenden Kosten selber tragen oder in der PKV versichern. Bund, Länder, Gemeinden und andere Körperschaften müßten dann künftig statt der Beihilfe 50 Prozent des GKV-Beitrags der Beamten als Arbeitgeberanteil an die GKV zahlen, nach Mitteilungen in der Presse eine höhere Belastung als die gegenwärtigen Beihilfen.

Aus diesen Gründen wollen CDU, CSU und Rürup 2. Alternative am Nebeneinander von GKV und PKV festhalten, aber die GKV in unterschiedlicher Form verändern. Nach allen Vorschlägen sollen beibehalten werden ein Leistungsangebot des medizinisch Notwendigen und ein sozialer Ausgleich zwischen Ledigen und Familien sowie zwischen Versicherten mit höherem und geringerem Verdienst, ferner als neue Elemente das Abkoppeln der GKV-Beiträge vom Faktor Arbeit und das Einbeziehen aller Arten von Einkommen für die Berechnung der Beiträge bzw. des Anspruchs auf Zuschuß zu den Beiträgen.

Grundsätzliche Unterschiede bestehen in folgenden Fragen: Beiträge in Prozent des Entgeltes (CSU) oder als einheitliche Gesundheitsprämie (Rürup 2. Alternative, Herzog, CDU); Höhe der Gesundheitsprämie und des Arbeitgeberanteils daran; sozialer Ausgleich innerhalb der GKV (CSU) oder außerhalb der GKV durch die Allgemeinheit aus Steuermitteln (Rürup 2. Alternative, Herzog, CDU). Die weiteren Unterschiede hinsichtlich der Mitversicherung der Ehegatten und einer Kinderkomponente sind eher gesetzestechnische Fragen. Die stärkste politische Unterstützung ist durch den vom Parteitag der CDU beschlossenen Vorschlag zu erwarten. Es ist daher zweckmäßig, von diesem Vorschlag auszugehen und sich auf die wesentlichen Fragen zu beschränken.

Die CDU hat im wesentlichen den Vorschlag der Herzog-Kommission übernommen. Sie will die gegenwärtigen Beiträge in Prozent des Entgelts - Arbeitgeber und Arbeitnehmer je 50 Prozent - durch eine einheitliche Gesundheitsprämie je Versicherer und Ehepartner von 200 Euro pro Monat ersetzen (180 Euro Grundprämie, 20 Euro Vorsorgebeitrag zur Stabilisierung der Prämie ab Alter 45), die allein vom Arbeitnehmer zu zahlen ist; Kinder weiterhin beitragsfrei mitversichert; statt des bisherigen Arbeitgeberanteils von 50 Prozent einmalige Erhöhung des Bruttoarbeitsentgelts um 6,5 Prozent zu versteuern; Zahlung von 90 Euro pro Monat je Kind durch Kindergeldstelle an PKV; Anspruch auf Zuschuß zur Gesundheitsprämie, soweit die Gesamtbelastung des Haushalts durch die Prämien 15 Prozent des Bruttoeinkommens, also in etwa den Gesamtbetrag der gegenwärtigen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge übersteigt. Kosten des sozialen Ausgleichs etwa 28 Milliarden, davon finanziert 17 Milliarden durch Besteuerung des ausgezahlten Arbeitgeberbeitrags, der Rest durch das erwartete Wirtschaftswachstum und Verzahnung mit der Steuerreform.

Auf diese Weise sollen die Kosten der GKV vom Faktor Arbeit abgekoppelt werden, die Risiken geringerer Beiträge durch Arbeitslosigkeit, demographische Entwicklung und steigende Kosten durch den medizinischen Fortschritt sollen nicht mehr zu höheren Beiträgen zur GKV und damit zu höheren Nebenkosten der Arbeit führen, sondern falls erforderlich durch eine Anpassung der Gesundheitsprämie aufgefangen werden. Die Kosten des sozialen Ausgleichs sollen nicht mehr wie gegenwärtig durch Ausgleich innerhalb der GKV die Ledigen und die Versicherten mit höherem Verdienst tragen, sondern alle Bürger durch ihre Steuern.

Zu Unrecht wird von der CSU, aber ebenso von SPD, Grünen und weithin in der Öffentlichkeit der Vorwurf erhoben, es sei ein Verstoß gegen die soziale Gerechtigkeit und die Solidarität, wenn der Chef und die Putzfrau denselben Krankenversicherungsbeitrag zahlen müßten. Viele Versicherte, für die die Gesundheitsprämie zu hoch ist, würden damit zu Transferempfängern; die Notwendigkeit, beim Sozialamt ihre Einkommensverhältnisse offenzulegen, sei eine unzumutbare Demütigung. Das Gesundheitsrisiko aller Versicherten der GKV ist im Durchschnitt gleich; dem gleichen Risiko entspricht daher die gleiche Prämie wie auch sonst in der Versicherung. Wegen der Eigenart des Krankheitsrisikos ist zwar ein sozialer Ausgleich erforderlich, als Aufgabe der Allgemeinheit sind aber die Kosten dieses Ausgleichs nicht von den wirtschaftlich stärkeren Versicherten der GKV zu tragen, sondern von der Allgemeinheit.

Ein aus Steuermitteln finanzierter sozialer Ausgleich ist kein Verstoß gegen die Solidarität. Millionen Bürger erhalten bereits jetzt Transferzahlungen und müssen dafür ihre Einkommensverhältnisse offenlegen. Sie machen damit von einem ihnen zustehenden Recht Gebrauch, mit dem Offenlegen ihrer Einkommensverhältnisse erfüllen sie nur eine notwendige Voraussetzung. Das gilt ebenso für die Empfänger eines Zuschusses zur Gesundheitsprämie. Weitgehend werden sie bereits jetzt Transferzahlungen erhalten, so daß weder für die Zuschußberechtigten eine zusätzliche Belastung entsteht noch eine Bürokratie erforderlich wird. Die CSU hält den CDU-Vorschlag für nicht finanzierbar.

Alle Vorschläge für eine Reform der Krankenversicherung führen jedoch nicht zu einer Verringerung des Risikos höherer Kosten und höherer Beiträge, das sich durch geringere Einnahmen wegen wachsender Arbeitslosigkeit, steigende Kosten des medizinischen Fortschritts und die künftigen Veränderungen der Altersstruktur der Versicherten ergibt; nur die Arbeitgeber werden nach den Vorschlägen Rürup 2. Alternative, Herzog und CDU durch Einfrieren des Arbeitgeberanteils und entsprechende einmalige Erhöhung des Bruttoarbeitsentgelts von diesem Risiko befreit.

Der wichtigste Beitrag zur finanziellen Stabilisierung der GKV und zu einer möglichen Senkung der Beiträge ist eine wesentliche Verringerung der Arbeitslosigkeit durch eine entsprechende Politik des Staates und der Tarifparteien, insbesondere der Gewerkschaften. Weitere erhebliche Möglichkeiten liegen in besserer Zusammen-arbeit der Ärzte untereinander und mit Krankenhäusern, besserer Organisation der Krankenkassen, Herausnahme ver-sicherungsfremder Leistungen oder von Leistungen, die über das medizinisch Notwendige hinausgehen, sowie in einer angemessenen Eigenbeteiligung der Versicherten.

 

Prof. Dr. Folkmar Koenigs lehrte Handels- und Wirtschaftsrecht an der TU Berlin.


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