© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/04 27. Februar 2004

"Ich halte an diesem Traum fest, egal, was passiert"
Schicksale: Die 18jährige Ukrainerin Lesja mußte in Duisburg vier Monate als Zwangsprostituierte arbeiten / Wie Sklaven verkauft und bei Widerstand verprügelt
Tatjana Montik

Lesja ist 18 Jahre alt und hat bereits vier Monate Hölle hinter sich. Aus einem westukrainischen Dorf wurde sie nach Deutschland gelockt, in Duisburg zur Prostitution gezwungen. So wie sie vor mir sitzt, wirkt sie wie jede andere Frau aus dieser Gegend - schlicht, bescheiden, stämmig. Ihre Stimme ist verhalten und leise, klingt dafür sicher und nahezu monoton. Lesjas schattenumrandete Augen, eine souveräne Haltung und ihr forschender Blick lassen das Mädchen um einiges älter aussehen. Als hätte sie meine Gedanken erraten, gibt das Mädchen zu: Die Erfahrung der letzten vier Monate habe sie um Jahre erwachsener gemacht.

Lesjas Familie war vor drei Jahren aus der 130 Kilometer westlich von Kiew gelegenen Großstadt Schitomir in ein nahes Dorf umgesiedelt, denn das Leben dort sei in vielen Hinsichten einfacher: Man habe wenigstens einen Garten, um sich davon halbwegs zu ernähren.

Mädchen ihres Alters gefällt ein Landleben allerdings nicht besser: Die Stimmung unter den dortigen Jugendlichen sei mies, die Arbeits- und Hoffnungslosigkeit ziehe die meisten von ihnen in ihren Sumpf. Viele verfallen der Trunksucht. "Wenn sie Glück haben, verdingen sie sich als Tagelöhner und versaufen ihr Geld noch am gleichen Abend im Dorfklub. Meistens schlagen sie sich dort auch die Fresse ein", erzählt das Mädchen und lächelt dabei resigniert.

Die noch nicht völlig Verzweifelten ziehen in die Stadt. Oder noch weiter - in die Hauptstadt Kiew, nach Moskau oder ins Ausland - nach Polen, Deutschland, Italien, die Slowakei. Je weiter, desto besser.

Daß sie den Eltern, die noch zwei jüngere Kinder zu ernähren hatten, nicht mehr auf der Tasche liegen konnte, verstand Lesja früh. Als der Vater für seine Arbeit in der Kolchose monatelang kein Geld nach Hause brachte, bekam die 18jährige Gewissensbisse. Sie nahm sich vor, von nun an ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.

Eine bessere Arbeit und ein neues Leben im Ausland

Da kam das Angebot einer Bekannten sehr gelegen. Diese einnehmende Frau, die Lesja über eine Freundin kennengelernt hatte, pries ihr ein neues Leben an, das ungefähr so aussehen könnte: Man fährt ins Ausland, zusammen mit einigen anderen Mädchen aus der Umgebung. Und man verrichtet dort eine nicht schmutzige Arbeit: In einer Lagerhalle sortiert man Obst und Gemüse und kriegt dafür mindestens 130 Euro pro Monat, Unterkunft und Versorgung stellt der Arbeitgeber. Einige Landsleute seien bereits dort und mit ihrem Los sehr zufrieden. Die Arbeits- und Lebensbedingungen seien einwandfrei: Man überarbeite sich nicht und bekomme ausreichend freie Tage zum Entspannen.

Alles hörte sich an wie ein Traum und machte die Entscheidung für Lesja und ihre Freundin Oksana leicht: Nichts wie hin! Auch die Eltern hatten an der Entscheidung ihrer Tochter nichts auszusetzen. Die Mädchen gaben der freundlichen Frau ihre Pässe ab, die sich innerhalb von ein paar Wochen um die Fahrkarten und die nötigen Visa nach Deutschland kümmern wollte.

In Duisburg angekommen, wurden die Mädchen von einem ihrer Dorfbewohner, Sascha, abgeholt und in eine Wohnung am Stadtrand gebracht. Der Mann sagte, er wolle sicherheitshalber ihre Pässe einbehalten, damit diese nicht aus Versehen verlorengingen. Erst dann erzählte er, wie ihre Arbeit tatsächlich aussah. Nicht Obst sortieren sollten sie, sondern als Prostituierte Kunden bedienen!

Haarsträubende Geschichten über den Menschenhandel hatte Lesja schon gehört. Aus dem Radio und aus Zeitungen war sie davon unterrichtet. Nie hätte sie aber gedacht, daß sie vor Leuten aus ihrem Dorf Angst haben müßte - und daß ihre "netten" Nachbarn sie verkaufen würden.

Lesja versuchte, Haltung zu bewahren: "Da wir weder Pässe noch Geld hatten und dazu noch kein Deutsch konnten, hätten wir es nie alleine, einfach so, nach Hause schaffen können!"

Es führte auch kein Weg daran vorbei: Um sich von ihren Peinigern freizukaufen, mußten sich die Mädchen an fremde Männer verkaufen. Zusammen mit drei weiteren Frauen, ebenfalls aus dem Gebiet Schitomir, spendeten sie sich Trost und gaben einander Rückhalt. Nach Deutschland kamen alle mit dem Ziel, ihrem Elend zu Hause zu entfliehen. Jetzt wurden sie durch ein neues gemeinsames Ziel vereint - es möglichst schnell zurück nach Hause zu schaffen.

Für ihre Widerspenstigkeit wurden die Mädchen oft geschlagen. Gründe dafür gab es zuhauf. "Es kam vor, daß wir uns weigerten, zur Arbeit zu gehen, oder uns anders schminken wollten als gewünscht. Sogar dafür bekamen wir Prügel", erinnert sich Lesja.

Verpflegt und angezogen wurden die Schitomirer Sklavinnen in Duisburg hingegen anständig. Sogar Bestellungen durften sie aufgeben: Schminke aller möglichen Art, neue BHs oder Strümpfe - all das war kein Problem. Denn sah man kümmerlich, schlecht angezogen oder unterernährt aus, wollten die sexbesessenen "Kunden" die "Ware" nicht kaufen.

In den seltenen Fällen, als Lesja und Oksana bei ihren Eltern zu Hause anrufen durften, diktierten ihnen ihre Unterdrücker die Sätze: Es gehe ihnen gut, sie schufteten sich nicht ab und hätten sich bereits einiges an Sachen und an neuen Kleidern kaufen können. Die Eltern durften keinen Verdacht schöpfen und keine Suchanzeige bei der Polizei erstatten.

Verdientes Geld bekamen die Mädchen nie zu sehen

Das verdiente Geld bekamen die Mädchen nie zu sehen: Es wurde ihnen für alle möglichen Vergehen abgenommen: sei es für ein zu spätes Nachhausekommen, für eine falsche Bemerkung oder für einen schiefen Blick auf ihre Quäler. Die Hoffnung auf ein Entkommen schwand den beiden von Tag zu Tag. Statt dessen rutschten sie bei ihren Zuhältern immer weiter ins Soll.

Dafür schufteten sie von drei Uhr nachmittags bis ungefähr zwei Uhr in der Nacht. Wer bis zwei Uhr nicht "gekauft" wurde, durfte "Feierabend machen". Wurden die Mädchen allerdings von einem Kunden "angemietet", so hatten sie bis sechs Uhr in der Früh "das Geschäft" zu erledigen. Waren sie durch etwas aufgehalten und kamen erst gegen Mittag heim, wurden sie angehalten, nicht vom üblichen Tagesrhythmus abzuweichen. Freie Tage wurden ihnen kaum gewährt. Hatten sich die Mädchen jedoch einen erbettelt, so beschäftigten sie sich mit Waschen, Putzen und Bügeln.

Die Psyche ihrer "Freier" hatte Lesja schnell durchschaut. Für sie waren sie meistens "arme Schlucker". Nein, nicht finanziell gesehen, sondern eher gefühlsmäßig - alle "einsame, unglückliche Menschen oder mit noch irgendwelchen Defiziten". Ob die Kunden ahnten, unter welchen Umständen sie und ihre Freundinnen lebten und ihre Arbeit verrichteten? - "Selbstverständlich wußten sie es! Einige bezeugten sogar ein gewisses Mitleid. Es waren jedoch auch solche dabei, die einen richtig durch die Mühle drehten. Hinterher kannst du dann nicht mehr laufen, sondern kriechst nach Hause. Und manche nahmen uns nur, um uns zu verhöhnen und zu demütigen. Die ließen einfach ihre Wut an uns aus."

Wie sie sich dabei fühlte? Das Mädchen seufzt, hält einen Augenblick inne. Dann spricht sie wieder, leise und verbissen, eine Falte zieht sich durch ihre Stirn: "Damals fühlte ich mich einfach mies. Ich war wie getrennt von mir selbst, wie eine Maschine, eine Gummipuppe. Eigentlich waren da gar keine Gefühle mehr, nicht einmal Ärger oder Wut. Ich floh weit, weit weg von alledem. Von meinem Körper blieb nur noch die Hülle übrig. In Gedanken war ich weit weg und wollte einfach nicht in meinen Körper zurückkehren."

Wie schaffte sie es, dieser Hölle zu entfliehen? Durch Glück, gepaart mit List: Als ihre Peiniger neue Mädchen brauchten, verwendete Lesja ihr ganzes Überredungstalent, um die Zuhälter davon zu überzeugen, daß sie in ihrer Umgebung viele Mädchen kenne, die sie ganz leicht anwerben könne - genauso, wie sie einmal von jener Bekannten angeworben wurde. Dabei dachte Lesja nicht im Traum daran, eine ihrer Freundinnen so reinzulegen.

Als sie, begleitet von Sascha, zurück in ihrem Dorf war, ging sie zur Polizei und erstattete Anzeige, woraufhin der Zuhälter verhaftet wurde. Angst vor einer solchen Tat hatte sie schon, aber viel weniger als in Deutschland. Sie war ja zu Hause, in ihrer vertrauten Umgebung. Dieses Gefühl gab ihr Kraft und Zuversicht. Hier standen nun ihre ganze Familie, ihre Freunde geschlossen hinter ihr.

"Selbstverständlich wußten die Kunden Bescheid!"

In Schitomir wandte sich Lesja an die Fachleute des Beratungszentrums "Frau hilft Frau", einer Nichtregierungsorganisation, die durch internationale Gelder finanziert wird. Hier bekommt das Mädchen psychologische Betreuung. Wenn sie mit der Psychotherapie fertig ist, kann Lesja später einen berufsvorbereitenden Kurs belegen.

Aber zuerst will sie neue Kräfte sammeln und sich ausruhen. Wo sie doch über das Schlimmste bereits hinweg sei. Jetzt würde es mit ihr nur bergauf gehen, sagt sie.

Wenn sie so redet, glänzen Lesjas Augen. Sie hat jetzt wieder ein Ziel im Leben: "Ich wollte schon immer eine gute Arbeit finden und heiraten. Wie eben alle Mädchen hoffen, daß sie einmal ihrem Prinzen auf dem weißen Roß begegnen. Ich halte an diesem Traum fest, egal, was passiert. Ich setze alle meine Kräfte dafür ein, daß ich trotz allem noch ein gutes Leben haben werde."


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