© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/04 05. März 2004

Neue Technologien: Gen-Chips und Biotheken
Isländer sind natürliche Härten gewöhnt
Angelika Willig

In seinem Buch "Das Einmaleins der Skepsis" beschreibt Gerd Gigerenzer das Phänomen der "Zahlenblindheit". Durchaus korrekte Prozentangaben und statistische Werte können einen suggestiven Eindruck hervorrufen, der vollkommen falsch ist.

Da sind zunächst alle von den drei Milliarden Basenpaaren beeindruckt, die sich im Kern jeder einzelnen Zelle befinden. Nachdem aber die pure Masse eine erste Auswertung erfuhr, geht das Staunen in ein Grinsen über: 97 Prozent sind identisch mit dem Erbgut des Schimpansen! Alle anthropologischen Hoffnungen schienen dahin. Wenn sich der Mensch genetisch vom Affen so gut wie gar nicht unterscheidet, was soll dann die Genetik über den Unterschied zwischen mathematischer und musikalischer Begabung zu sagen haben?

Ein Fall von Zahlenblindheit. Denn schon heute kommen in der medizinischen Diagnostik sogenannte Biochips zum Einsatz, auf denen die genetische Information einer gesunden Zelle aufgereiht ist. Darüber trägt man die DNA der vermeintlich kranken Zelle auf. Durch ein Leuchten machen sich nun die Abweichungen bemerkbar. So erfährt man, ob die Erkrankung durch eine Störung des genetischen Programms zustande kommt und wo diese liegt. Doch die krankhaften Abweichungen im Genom beispielsweise einer Krebszelle sind von grotesker Winzigkeit. 99,9 Prozent des Erbguts aller Menschen sind identisch. In den übrigen 0,1 Prozent muß nicht nur die Anfälligkeit für Krebs, sondern die gesamte Individualität enthalten sein. Und in der Tat gibt es im Verschlüsselungssystem der Basentrip-letts immer noch genügend Möglichkeiten. Drei Millionen Unterschiede zwischen zwei Personen können heutige Chips zeigen. Sind wir wieder in Weltraumdimensionen gelandet? Auf jeden Fall sagen Prozentangaben zur DNA-Größe über die tatsächlichen Verhältnisse gar nichts aus. Wie bei der Verwendung eines Mikroskops empfiehlt es sich, das zu betrachtende Feld auf hundert Prozent zu setzen, und schon breiten sich in dem klitzekleinen Ausschnitt unentdeckte Welten aus.

Die ermittelten Erbinformationen werden nicht nur von Medizinern genutzt, sondern auch in riesigen Datenbanken, den "Biotheken" gespeichert. Das ist gut für die Forschung, weshalb in Island die gesamte Bevölkerung vertrauensvoll an einer solchen Erfassung teilnimmt. In Deutschland und Frankreich hingegen sind schon wieder die Ethikräte am Werk. Man kann mit dem genetischen Wissen eben nicht nur die Therapie besser abstimmen. Man könnte auch mit einem Blick auf die Chipkarte ablesen, ob es sich lohnt, einen solchen Mitarbeiter einzustellen, oder ob die nächste Krankschreibung schon programmiert ist. Und eine besonders schwarze Phantasie stellt sich Patienten vor, die aufgrund ihrer Daten erst gar nicht mehr behandelt werden. Wer füllt schon gern einen Eimer, aus dem es unten wieder herausrieselt?


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