© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/04 12. März 2004

Die unheimliche Gemeinschaft
Soziologie: Karlheinz Weißmann untersucht das Phänomen des Männerbundes in einer zunehmend emanzipierten Gesellschaft
Karlheinz Weissmann

Zu den modischen Begriffen, die eine kurze Karriere machen, scheinbar in aller Munde sind, ein dankbares Thema für Talk-Shows und Beratungsliteratur abgeben, dann aber rasch vergessen werden, weil sie die Wirklichkeit nicht ausreichend erschließen, gehört auch mobbing. Der heutige Gebrauch des Begriffs geht auf den Arbeitspsychologen Heinz Leymann zurück; im Anschluß an seine Analysen wird mobbing definiert als "konfliktbelastete Kommunikation am Arbeitsplatz unter Kollegen oder zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, bei der die angegriffene Person unterlegen ist, von einer oder mehreren anderen Personen oft systematisch und während längerer Zeit mit dem Ziel und/oder dem Effekt des Ausstoßes direkt oder indirekt angegriffen wird und dies als Diskriminierung empfindet".

Den Bedeutungsverlust des Begriffs mobbing erklärt einmal, daß der Tatbestand kaum justiziabel ist, zum anderen, daß eine neue Opfergruppe keine Möglichkeit hatte, sich gegen schon bestehende und ihren Einfluß verteidigende Opfergruppen gesellschaftlich durchzusetzen, und zuletzt kaum klar erkennbar wurde, worin denn eigentlich das qualitativ Andere des mobbing gegenüber längst bekannten Formen des sozialen Ausschlusses bestehen sollte.

Vielleicht war es ein Rest von gesellschaftlichem Instinkt, der davor bewahrte, alles - von der Intrige und der Afterrede über das Schneiden bis zum Piesacken und zum Triezen - unter mehr als moralischen Vorbehalt zu stellen. Wenn hier von gesellschaftlichem Instinkt gesprochen wird, dann deshalb, weil es zu den Selbstverständlichkeiten gehört, wenn Gruppen ein gewisses Maß an Einpassung von Neulingen erwarten, sie deshalb häufig - mehr oder weniger unangenehmen - Proben unterwerfen und bei erkannter Untauglichkeit ausgrenzen oder an den Rand drängen. Man hat bei mobbing-Opfern, die in der Öffentlichkeit hervortraten, immer wieder den Eindruck von Querulanten gehabt, was dafür spricht, daß sie die Anpassungsleistung nicht erbringen konnten oder wollten oder den Proben nicht gewachsen waren.

Die Gruppe will beim Neuen die Vollwertigkeit ergründen

Bei den angebotenen Ersatzworten für mobbing wurde ein Begriff übergangen, der den meisten viel zu harmlos erscheinen dürfte, um in diesem Zusammenhang verwendet zu werden, der aber doch - bei genauer Betrachtung - die Sache trifft: das "Hänseln". Von Hänseln spricht man fast nur noch im Blick auf das Verhalten von Kindern, im Sinn einer kleinen Quälerei, die sie ihresgleichen zufügen. Gehänselt wird der Außenseiter, aber auch der Dazugekommene, über dessen Vollwertigkeit die Gruppe noch keine Entscheidung getroffen hat. Diese in zahllosen Varianten von der Literatur verarbeitete, von den Betroffenen immer als schmerzhaft empfundene, von den Erwachsenen mißbilligte und trotzdem regelmäßig wiederholte Verfahrensweise dürfte jedem bekannt sein.

Der Begriff Hänseln verweist allerdings über sich und den hier geschilderten Sachverhalt hinaus. Das Wort "Hänseln" oder "Hansen" hängt mit dem altniederdeutschen "hansa" zusammen, was ursprünglich Schar, dann auch Gilde oder Genossenschaft (deshalb: Hanse) bedeutete, und bedeutete deshalb ursprünglich so viel wie Aufnahme in die Schar. Die mit dem Hänseln verbundenen, zum Teil sehr rohen Bräuche haben sich in bestimmten Bereichen bis in das zwanzigste Jahrhundert erhalten. Zu den auffälligen Beispielen gehört die Eingliederung des Lehrlings in die Gesellenschaft, wobei der "Ungehobelte" und "Ungeschliffene" unter Aufsicht des Altgesellen "gehobelt" und "geschliffen" wurde, bis man ihn nach einer letzten Probe lossprach. Ein ähnliches Procedere kannte man lange bei der Ausbildung von Rekruten und kennt sie noch bei der Aufnahme in studentische Korporationen, wobei die Stellung des Anfängers als Fuchs, die Fuchsenprüfung und der Übergang zur Burschenherrlichkeit noch viele Züge des Hänselns bewahrt, nicht zuletzt die "Neugeburt", hier verstanden als Übergang von der tierischen zur menschlichen Existenz.

Obwohl die Bedeutung der ursprünglichen Sitten weitgehend in Vergessenheit geraten ist, ist die Zähigkeit, mit der sich derartige soziale Formen erhalten, doch überraschend. Überraschend auch, weil in den Subkulturen, die entsprechende Praktiken anwenden, jene Werte, die man bei der Bekämpfung des mobbing ins Feld führt und die sonst auf hohe gesellschaftliche Akzeptanz rechnen dürfen, entweder kaum Bedeutung haben oder jedenfalls einer ganz anderen als der eigenen Sphäre zugerechnet werden.

Das Ansehen im Männerbund als Merkmal der Tauglichkeit

Die Beharrungskraft spricht dafür, daß man es mit einem Grundmuster sozialer Organisation zu tun hat, bestimmt von der Geschlossenheit der Gruppe, ihrer Neigung, die Grenze zu den Außenstehenden scharf zu ziehen, sich ihnen gegenüber sogar ein Bestrafungsrecht zuzubilligen und den Neuling Prüfungen zu unterwerfen, die Züge einer Initiation annehmen können. Für ein Grundmuster spricht auch, daß es trotz des Verschwindens der tradierten "Schar"-Formen zu spontanen Neubildungen kommt, wie etwa den Studentenverbindungen an Universitäten der USA, den geheimen Zusammenschlüssen in den Klassen französischer Eliteschulen oder den Jugendbanden in den Vorstädten der westlichen Welt.

Es ist bisher ein Sachverhalt übergangen worden, der allerdings für das beschriebene Phänomen ausschlaggebende Bedeutung hat: der Umstand nämlich, daß es sich bei den Scharen praktisch immer um männliche Zusammenschlüsse handelt, genauer: um Zusammenschlüsse junger Männer. Im Gegenzug kann man feststellen, daß Frauen unter den mobbing-Opfern einen besonders hohen Anteil stellen und daß Hänseln insofern auch eine Form sexueller Diskriminierung ist. Das führt uns noch einmal auf den Kern der hier behandelten Thematik.

Das dem Begriff mobbing ursprünglich zugrundeliegende englische Wort bezieht sich nach Konrad Lorenz auf das gemeinsame Vorgehen von Tieren gegen einen Freßfeind und entspricht in etwa dem deutschen "aufhassen". Der amerikanische Soziologe Lionel Tiger hat in seinem 1969 erschienenen Buch Men in groups darauf hingewiesen, daß mobbing behaviour eine gerade für Männer typische Verhaltensweise sei, verankert in der stammesgeschichtlichen Entwicklung des homo sapiens.

Tigers Darstellung geht davon aus, daß das Verlassen des Waldes, das Leben in der Savanne und die Gewohnheit, sich in wachsendem Maß von Fleisch zu ernähren, für den Vorfahren des Jetztmenschen eine geschlechterspezifischen Arbeitsteilung zur Folge hatte, bei der die Frauen für die Brutpflege und die Männer für die Jagd verantwortlich waren. Daß aus Gründen der Effizienz im Kollektiv gejagt wurde, führte zu einer besonderen Art sozialer Intelligenz des Mannes, geprägt von Hierarchiebewußtsein, Risikofreude, Hochschätzung körperlicher Leistungsfähigkeit, Angst vor Gesichtsverlust und der Neigung, sich mit seinesgleichen zusammenzutun. Daß diese Eigenschaften nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen akzeptiert oder bevorzugt wurden, ist zu erklären aus dem Umstand, daß nur derjenige als Gatte und Vater tauglich schien, der aufgrund seines Ansehens und seiner Funktion im "Männerbund" die Versorgung der Familie gewährleisten konnte.

Tiger hat in seiner Untersuchung eine Reihe eindrucksvoller Parallelen zum menschlichen Verhalten bei anderen Primaten (Schimpansen und Pavianen) dargestellt, aber immer wieder hervorgehoben, daß es sich um Analogien handele, um "artspezifische" Eigenschaften, die nicht auf einen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen sind, sondern in "paralleler Evolution" entstanden. Deren Erfolg erkläre sich aus der besonders wirksamen Verknüpfung von männlicher Aggressivität, männlicher Gruppenbildung und der Aussicht auf Fortpflanzungserfolg.

Dem Vorwurf einer reduktionistischen Betrachtungsweise begegnete Tiger dabei durch den Hinweis, daß die kulturelle Überformung der natürlichen Gegebenheiten (neben der Dominanz und dem Zusammenschluß der Männchen wäre vor allem noch die Territorialität zu erwähnen) dem Menschen einen relativ großen Spielraum für die Gestaltung seiner geschlechtsspezifischen Beziehungen lasse. Der sei allerdings nicht beliebig auszudehnen. Bereits Ende der sechziger Jahre fürchtete er, daß die Emanzipationsbewegung der Frauen Grenzen überschritt, die die Funktionsfähigkeit des menschlichen Zusammenlebens insgesamt gefährde.

Die Emanzipation zerstört den "soziobiologischen" Verbund

Die folgende Entwicklung in der westlichen Welt hat Tigers Befürchtungen weit übertroffen. Einen 1990 erschienenen Aufsatz über die "soziobiologischen" Grundlagen des Männerbundes schloß er mit den Sätzen: "Es ist möglich, daß eine Form menschlicher Beziehungen unter Beschuß geraten ist, die ebenso komplex, interessant und anregend (...) wie die Beziehung zwischen Männern und Frauen ist, so wie in puritanischen Zeiten die Beziehung zwischen den Geschlechtern scharf attackiert worden ist. Diesmal jedoch handelt es sich nicht um ein erotisches Zusammenspiel, (...) sondern um eine scheinbar weniger turbulente Angelegenheit, nämlich um eine ganz bestimmte Form sozialer Gruppierung. Möglicherweise werden Männer sich künftig im Verborgenen treffen müssen. (...) Natürlich möchte ich nicht übertreiben. Aber die Situation erscheint zumindest merkwürdig."

Mittlerweile hat Tiger die Konsequenz aus dieser pessimistischen Einschätzung gezogen. In seinem letzten Buch, das unter dem bezeichnenden Titel "Auslaufmodell Mann" erschien, sprach er davon, daß die gesellschaftlichen Veränderungen für den Mann zu einem fast vollständigen Verlust seiner früheren Machtpositionen geführt hätten. Die Frau sei nicht nur rechtlich, politisch und ökonomisch selbständig geworden, sie könne mit Hilfe neuer Reproduktionstechniken auch auf den Mann als Erzeuger von Nachwuchs verzichten. Indes sei diese Emanzipation eher alarmierend als begrüßenswert und lasse vor allem für die "innere Umwelt" des Mannes fürchten, das, was man traditionell sein "Wesen" nenne.

Die Entmachtung des Mannes wird keineswegs von allen und keineswegs von allen Männern bedauert. Schon in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gab es Autoren, die das Ende des männlichen Zeitalters feierten. So erschienen zwischen 1928 und 1930 in der einflußreichen katholischen Zeitschrift Hochland drei Aufsätze des Philosophen Otfried Eberz, die sich mit diesem Thema befaßten. Eberz vertrat die Meinung, daß der sehr lange Zeitraum, den die Dominanz des Mannes geprägt habe, mit dem Ersten Weltkrieg abgeschlossen sei. Der Rationalismus, der Kapitalismus und die Technik müsse man als Hervorbringungen des männlichen Geistes betrachten, der im Krieg seine letzten Möglichkeiten gezeigt habe - und deren zerstörerische und selbstzerstörerische Kraft. Eberz war zwar von den zeitgenössischen Matriarchatsvorstellungen beeinflußt, glaubte aber nicht an die Wiederkehr der Frauenherrschaft, sondern hoffte auf eine Epoche des Ausgleichs zwischen Männlichem und Weiblichem, auf den " integralen Menschen, das menschliche Zweigeschlechterwesen (...), das unbewußte Ziel der zeugenden und gebärenden Natur".

Eberz' Behauptung, die Polarität des Männlichen und Weiblichen sei selbst historisch, hat ohne Zweifel ein gewisses Recht. Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade nahm einen Zusammenhang zwischen dieser Polarität und der "Sexualisierung der Welt" an, die durch die Erfindung der Metallbearbeitung entstanden sei. Selbstverständlich habe der Mensch auch schon vorher um die Geschlechtlichkeit seiner selbst, der Tiere und Pflanzen gewußt, aber sie besaß bis dahin keine metaphysische Bedeutung. Das änderte sich unter dem Eindruck einer erweiterten Kosmologie, die dazu führte, daß man alle möglichen Vorgänge als Zeugung - Befruchtung - Geburt zu sehen lernte.

Sexualisiert wurden neben verschiedenen Naturerscheinungen - etwa dem (männlichen) Regen, der (männlichen) Sonne, der (weiblichen) Quelle, dem (weiblichen) Mond -, Farben oder Edelsteinen vor allem Erze und Metalle. In der chinesischen Mythologie heißt es, daß Yü der Große, der erste Schmied, die Kunst beherrschte, die Metalle in männliche und weibliche zu scheiden, und deshalb wußte, wie ihre "Hochzeit" zu vollziehen sei. Dieser Begriff wurde nicht zufällig verwendet, da er von großer Bedeutung für die Idee einer Vermählung des männlichen mit dem weiblichen Gott war, die die Fruchtbarkeit garantierte, und auch die Bezeichnung der Schmelzkessel Yüs nach den Prinzipien Yin (dunkel - weiblich) und Yang (hell - männlich) hatte ihren besonderen Sinn.

Es haben Vorstellungen von der kosmologischen Bedeutung des Geschlechtlichen immer einen gewissen Einfluß behalten, in den Religionen der Primitiven selbstverständlich, in vielen asiatischen Weisheitslehren, in der Alchimie und ihren modernen Fortsetzungen, bis hin zur Anthroposophie, aber auch in der jüdischen, arabischen und christlichen Mystik. Die abrahamitischen Religionen zeigten allerdings einen starken Vorbehalt gegenüber dieser Gedankenwelt, die auch darauf zurückgeführt werden muß, daß die Sexualisierung der Schöpfungselemente regelmäßig einherging mit der Erwartung einer Erlösung durch die endgültige Verschmelzung der Geschlechter.

Geschlechtliche Identität wird in Beliebigkeit aufgelöst

Als "Androgyne" bezeichnet man Lebewesen, die gleichzeitig männliche und weibliche Geschlechtsmerkmale haben. Ihr Auftreten unter Menschen wurde immer als Anomalie betrachtet, aber nicht unbedingt negativ gewertet. Es hat Zeiten gegeben, die Androgynität als ästhetisch erstrebenswert ansahen. Allerdings dürfte die Gegenwart diesbezüglich eine Entwicklungsstufe erreicht haben, die ohne Beispiel ist. Gerade in vielen Bereichen der populären Kultur - von den Figuren der virtuellen Realität über das Show-Geschäft bis zur Welt der Mode - hat man es mit einem bewußten und forcierten Verwischen jener Merkmale zu tun, die gemeinhin als geschlechtsspezifisch betrachtet werden.

Man könnte die hier skizzierte Entwicklung auch als Folge des allmählichen Spannungsverlustes zwischen den Geschlechtern werten, der einhergeht mit dem Versuch, Frauen nicht nur, aber vor allem beruflich auf Härte auszurichten, während umgekehrt Männer angehalten werden, weiche, traditionell weibliche Eigenschaften wie Zärtlichkeit, Empathie oder Kompromißbereitschaft anzunehmen.

Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat diese Versuche, die geschlechtliche Identität in ein freies Spiel von Zeichen aufzulösen, als "Sextremismus" bezeichnet. Es handelt sich dabei um das Ergebnis eines Prozesses, der nicht nur zurückgeht auf den Zerfall des normativen Naturbegriffs in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und auch nicht hinreichend zu erklären ist mit dem Hinweis auf die Fortschritte der Biotechnologie, sondern zusammenhängt mit Verschiebungen im "Überbau" der westlichen Gesellschaft, deren letzte Konsequenzen kaum abzusehen sind.

Foto: Maurer, Dachdecker und Zimmerleute auf der Walz: Aus Gründen der Effizienz wurde im Kollektiv gejagt, was zu einer besonderen Art von sozialer Intelligenz des Mannes führte

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Gymnasiallehrer. Bei diesem Vorabdruck handelt es sich um einen Auszug aus seinem Buch "Männerbund", das in den nächsten Tagen in der Edition Antaios, Schnellroda, erscheint.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen