© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/04 12. März 2004

Sehnsucht nach dem großen Ganzen
von Jost Bauch

Staaten wie Großbritannien, Schweden, Dänemark, die Niederlande haben auf die Krise ihrer Sozialsysteme mit einschneidenden Kürzungsreformen reagiert und relativ schnell und konfliktfrei diese Systeme der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leistungsfähigkeit angepaßt. Spätestens seit Mitte der 1980er Jahre ist auch für Deutschland klar, daß in diesem Land ebenfalls Kürzungen des Versorgungsstaates (mit seinen parastaatlichen Substituten) notwendig sind.

Trotzdem ist es uns in Deutschland - abgesehen von einigen eher kosmetischen Korrekturen - nicht gelungen, einen angemessenen Umbau des Sozialstaates nachhaltig zu bewirken. Kleinste Korrekturen (zum Beispiel die Erhöhung der Rezeptgebühr, Erhöhung der Eigenbeteiligung bei Zahnersatz, leichte Modifikationen der Rentenformel etc.) werden von wütenden Protesten der (organisierten) Öffentlichkeit begleitet, während Politiker jeder Couleur die Chancen ihrer Wiederwahl gefährden, wenn sie zum - selbstverständlich sozialverträglichen - Sozialabbau aufrufen.

Wie kommt das? Mit der einfachen Erklärung, es sei völlig normal, daß sich die Bevölkerung soziale Errungenschaften nicht einfach nehmen lasse, ist es nicht getan. Diese These erklärt nicht, warum diese sozialen Korrekturen in anderen Ländern relativ problemlos über die Bühne gehen, obwohl doch diese Bevölkerungen keineswegs friedfertiger und duldsamer gegenüber staatlichen Politikveranstaltungen erscheinen. Es muß also etwas "typisch Deutsches" hinter dieser Verweigerungshaltung stecken, die nicht allein mit der Verteidigungsbereitschaft von Privilegien erklärt werden kann.

Natürlich spielt die "institutionelle Verfestigung" des Sozialstaates eine realpolitische Rolle. Aber auch hier gilt: Die Verteidigung organisierter sozialstaatlicher Interessen ist in Deutschland nur möglich, weil sich die sozial- und wohlfahrtstaatliche Mentalität tief in die Seelen der Bevölkerung eingraviert hat. Und das hat seine Geschichte.

Die These ist, daß sich Rudimente der "deutschen Staatsidee" hinter dieser Verweigerungshaltung verstecken. Sie erscheint zunächst als kühn und idealistisch. Was hat die aktuelle Reformdebatte mit Staatsvorstellungen aus vergangenen Zeiten zu tun? Doch Ideen bewegen sich nicht nur im Raum der Phantasie, sondern haben ganz reale Konsequenzen. Sie materialisieren sich in Mentalitätslagen ganzer Populationen. Wir prüfen somit im folgenden, ob die spezifische Staatsidee in Deutschland (angefangen im deutschen Idealismus bei Herder, Hegel bis hin zu Werner Sombart, Oswald Spengler) Einflüsse auf die heutige Diskussion über die Rolle des Sozialstaates hat.

Tatsächlich läßt sich ideengeschichtlich nachweisen, daß sich die Staatsidee in Deutschland anders entwickelte als beispielsweise im angelsächsischen Raum oder in Frankreich. Während insbesondere in England und Schottland auf der Basis des Liberalismus und des individualistischen Naturrechts der Staat als eine Notveranstaltung angesehen wurde und ihm lediglich insofern eine "Nachwächterfunktion" zuerkannt wurde, als er für eine gesamtgesellschaftliche Kompatibilität der individuelle Utilitarismen zu sorgen hatte, wurde der Staat in deutscher Auffassung gerade durch den deutschen Idealismus philosophisch überhöht. Im Gefolge von Johann Gottfried Herder wurde ein organologisches Gesellschafts- und Staatsmodell entworfen, das den Staat darauf verpflichtete, den tiefsten persönlichen Überzeugungen Ausdruck zu verleihen und im Begriff der substantiellen Sittlichkeit die Entzweiung der modernen Welt zu überwinden.

Der Universalismus der Moral wird demnach in eine umfassende Konzeption des sittlich Guten zurückgenommen, welche zuletzt im ethischen Staat kulminiert und die Sittlichkeit in einer Weise verkörpert, die uns zu einem authentischen Verständnis unserer selbst gelangen läßt. Hegel hat dieses or-ganologische Modell übernommen und gleichzeitig entmystifiziert. Für Hegels Geschichtsphilosophie ist "der Staat die Wirklichkeit der sittlichen Idee". Das liberale Modell propagiert hingegen eine Staatsauffassung, welche den Staat allein auf den Utilitarismus und Individualismus vertraglicher Interessenabstimmung verpflichtet.

Nach Hegel bleibt diese Staatsauffassung auf halbem Wege stehen. Neben der Ordnungsfunktion des Staates, der somit den Interessenäußerungen der Mitglieder einen Rahmen vorgibt, muß dieser dafür Sorge tragen, daß die Bürger dem Staat gegenüber eine loyale Gesinnung innehaben, einen emotional und kognitiv verankerten Verfassungspatriotismus und eine allgemeine Rechtschaffenheit, sonst hängt der Staat in der Luft. Nach Hegel ist am liberalen Modell nicht falsch, daß sich der besondere Wille, das Interesse an der Wohlfahrt der eigenen Existenz voll entfalte, doch diese Subjektivität muß "dialektisch" wieder an das "allgemeine Interesse" zurückgebunden werden. Einerseits muß der Staat den Bürgern Freiheit geben, damit sie (zum Wohle des Staates und der Gesellschaft) ihren (auch ökonomischen) Interessen nachgehen können, andererseits müssen sie aus innerem Antrieb den Interessen des Allgemeinen (des Staates) Folge leisten.

Dieses "Allgemeine" ist bei Hegel immer mehr als die vertragliche Regelung der Kompatibilität der Interessen. Denn die bürgerliche Gesellschaft hat die Tendenz, daß sich Klassenkonflikte einstellen, daß sich Arm und Reich auseinanderdividieren. Die Gesetzgebung rührt ständig an Fragen des guten Lebens der Gesellschaftsmitglieder, so daß der Staat immer eingreifen muß, um Fehlentwicklungen der Gesellschaft zu korrigieren.

Für Hegel gibt es nicht, wie in der schottischen Moralphilosophie eines Adam Ferguson und Adam Smith, eine "invisible hand", die aus dem "Wimmeln von Willkür" quasi automatisch das gute Ganze entstehen läßt. Das gute Ganze läßt sich nur durch den Staat organisieren, der die Entzweiung der Welt in ein äußeres Recht und in eine innere Moral (des Individuums) in der Verbindung beider Elemente als Sittlichkeit aufhebt.

Natürlich klingt dieses Modell aus heutiger Sicht pathetisch; dahinter verbirgt sich allerdings die bis heute gültige Einsicht, daß das Kapital die "Gesellschaftlichkeit seiner Existenz" (Karl Marx) aus sich selbst heraus nicht schaffen kann, somit auf den Staat als Korrekturinstanz angewiesen ist. Genau an dieser Überlegung setzt die moderne Sozialstaatsidee an, die der Sphäre der Marktorganisation das Prinzip der wohlfahrtstaatlichen Absicherung zur Seite stellt. Die Staatsidee des deutschen Idealismus legitimiert so im Gegensatz zur angelsächsischen Auffassung einen "starken Staat", der regulierend in die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse eingreift, um diese nach Maßgabe einer von ihm selbst und den Bürgern gewollten "guten Ordnung" (Aristoteles) zu gestalten.

Die starke Stellung des Staates im deutschen Idealismus hat ihre realpolitischen Hintergründe. Wir müssen uns erinnern, daß zur Zeit Hegels die negativen Folgen der einsetzenden Industrialisierung nach Deutschland exportiert wurden. Nach der Kontinentalsperre wurde der deutsche Markt mit englischen Billigprodukten überschwemmt, ohne daß in Deutschland die Voraussetzungen einer eigenen, durchgreifenden Industrialisierung und damit die Schaffung eines selbstbewußten Bürgertums in die Wege geleitet wurden.

Eine langsame und von Hegel als notwendig erachtete Liberalisierung Preußens konnte so nicht in einer Konfrontation eines selbstbewußten Bürgertums mit dem Staat, wie etwa in Frankreich, vonstatten gehen, sondern der Staat selbst hatte unter seiner Ägide in geburts-helferischer Funktion die Voraussetzungen einer Erstarkung des Bürgertums zu schaffen. Während ein bereits erstarktes Bürgertum in Frankreich und England dem Staat gegenüber einen Abwehrreflex entwickelte - es galt, den Staat aus den entfalteten Marktbeziehungen herauszuhalten -, sollte in Deutschland, da sich Markt und Industrialisierung sehr zögerlich entwickelten, der Staat diesen Bereichen durch direkte Unterstützung auf die Beine helfen.

Deutschland war auch in dieser Hinsicht eine "verspätete Nation" (Plessner), als die Triebkräfte zur Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft ohne staatliche Intervention und Mithilfe nicht zu entfesseln waren. Der ideengeschichtliche Reflex dieser Situation findet sich im deutschen Idealismus mit seiner Apotheose des Staates. In Deutschland haftete dem Staat von Anfang eine Gemeinwohlorientierung an, weil er die unterentwickelten Verhältnisse überwinden wollte. Wenn er ökonomischen Liberalismus praktizierte, blieb dieser doch dem Staatsinteresse untergeordnet. Er diente als Mittel der Modernisierung der Gesellschaft im staatlichen Interesse. Dies erklärt, warum Deutschland trotz seiner damaligen konstitutionellen Rückschrittlichkeit führend in der Sozialpolitik wurde.

Diese starke, interessenausgleichende und soziale Komponente in der Staatsauffassung wurde in Deutschland von fast allen politischen Richtungen vertreten. Sie fand ihre Fortsetzung logischerweise bei den Sozialisten. Doch auch im konservativen Lager wurde auf eine starke soziale Funktion des Staates insistiert. Beispielhaft sei an den fast vergessenen Paul Lensch erinnert, der in seiner Konzeption des "nationalen Sozialismus" (nicht gleich Nationalsozialismus) die Vereinigung des Hochkapitalismus mit dem preußischen Prinzip der Organisation als typisch deutschen Sonderweg gegenüber dem britischen individualistischen Konkurrenzkapitalismus herausstellte. Anders als dort wurde der kapitalistischen Produktionsweise in Deutschland eine staatliche Sozialpolitik, Schutzzoll statt Freihandel und eine Durchorganisation aller Stände zur Seite gestellt. Auch für Werner Sombart und Oswald Spengler war es das Prinzip der Organisation, das Deutschland von den anderen Ländern abhob. Der englische Konkurrenzindividualismus wurde von Sombart beispielsweise als "Schlammflut des Kommerzialismus" bezeichnet.

In einer deutschen "Nationalwirtschaft" blieben dagegen die ökonomischen Aktivitäten ethisch gebunden. Der plumpe angelsächsische Utilitarismus und die Gebote der kapitalistischen Sachzwänge würden nach Sombart mit dem deutschen Nationalbewußtsein überwunden. Oswald Spengler greift diese Ideen auf, indem er die Besonderheiten des deutschen Weges besonders mit England vergleicht. In Deutschland geht es dabei um eine Synthese von Preußentum und Sozialismus, von Organisation und Gemeinschaft, Pflichtethos und Dienst am Ganzen. Dieser idealtypische Antagonismus zeigt, wie sehr Deutschland - zumindest aus Sicht der damaligen konservativen Denker - von Werten des Kollektivismus und Etatismus geprägt war.

Mit der Verschiebung der politischen Koordinaten in Richtung Demokratie, Liberalismus, Pluralismus nach dem Kriege wurde die alte deutsche Staatsidee scheinbar zu Grabe getragen. Doch vom Staat als "Wirklichkeit der sittlichen Idee" ist etwas übriggeblieben: der Sozialstaat. Damit wurde ein Teilaspekt der alten Staatsidee in die Gegenwart übertragen und verabsolutiert. Wie Arnold Gehlen schrieb, wurde der Staat im Nachkriegsdeutschland zu einem "kastrierten fetten Kater", der den gesellschaftlichen Interessen nach Alimentation hilflos ausgeliefert ist. Die Versorgungsansprüche an den Staat sind geblieben, Ansprüche des Staates an den Einzelnen oder an gesellschaftliche Gruppen werden hingegen abgelehnt.

Der moderne Sozial- und Wohlfahrtsstaat hat im Prinzip kein Interesse an sich selbst. Er ist dazu da, um im sozialeudämonistischen Sinne die Wohlfahrt der Gesellschaft zu befördern. Staatliche Ziele sind gesellschaftliche Ziele, so erübrigt sich auch der alte Hegelsche Anspruch, die Subjektivität des Einzelnen an das allgemeine Interesse zurückzubinden.

Das allgemeine Interesse ist heute die massenhafte Erfüllung der besonderen Interessen, es gibt keine Dignität eines allgemeinen Interesses, außer der Aufgabe, durch staatliche Intervention die Voraussetzungen für die Realisierung der besonderen Interessen zu schaffen. Die heutige Krise des Sozialstaates läßt sich hegelianisch dadurch erklären, daß viel zu wenige das allgemeine Interesse aus freien Stücken zu ihrem besonderen Interesse machen. Pflichtethos und Alimentierungsansprüche gegenüber dem Staat waren die zwei Seiten einer Medaille. Geblieben ist nur der Alimentierungsanspruch. Der Einzelne entwickelt gegenüber dem Staat eine konsumptive Legitimationshaltung, und nur dadurch, daß der Staat die Daseinsweise des Einzelnen steigert, verschafft er sich seine Legitimität.

Die Heftigkeit der Auseinandersetzung um den Abbau von staatlichen oder parastaatlichen sozialen Leistungen zeigt, wie sehr die deutsche Volksseele am Versorgungsstaat hängt. Diese Affinität zwischen Staat und Gesellschaft, Lebenswelt des Einzelnen und staatlich-kollektiven Entscheidungsprozessen, ist in anderen Ländern in einem solchen Ausmaß nicht spürbar. Es ist wohl immer noch auch eine Reminiszenz der alten deutschen Staatsidee.

Die Krise des Sozialstaates führt in letzter Zeit verstärkt zu der Erkenntnis, daß beide Seiten zusammengehören, daß auch gegenüber dem Staat das Prinzip des "do ut des" gilt, wenn mehr "Ehrlichkeit" im Sozialstaat eingefordert wird und wenn Sozialhilfeempfänger zu gemeinnützigen Arbeiten herangezogen werden sollen. So gesehen bietet die heutige Krise sogar die Chance, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft neu zu ordnen.

 

Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz.

 

Foto: Premiere der "Meistersinger von Nürnberg" von Richard Wagner bei den Bayreuther Festspielen am 2. August 2002: Die "Festwiese" im 3. Akt endet mit einem gemeinsamen Bekenntnis aller Stände zum "deutschen Wesen".


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