© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/04 19. März 2004

Pankraz,
das Tausendgüldenkraut und der Zentaur Cheiron

Ob der Deutsche Heilkräuterverband Theophrastus gut beraten war, das sogenannte Tausendgüldenkraut (Centaurium umbellatum) zur "Heilpflanze des Jahres 2004" auszurufen? Besagtes Kräutlein ist zwar ein hübscher (übrigens unter Naturschutz stehender) Bewohner unserer Waldsäume und feuchten Wiesen, mit zarten rosa Blüten, aber die aus ihm gewonnenen Essenzen sind gallebitter, und man darf sie, wenn sie helfen sollen, auch nur in diesem gallebitteren Originalzustand einnehmen, so daß jedem Patienten davor graust. "Erdgalle" nennt der Volksmund in ländlichen Gegenden noch heute das Tausengüldenkraut, der Name spricht Bände.

Aber der offizielle Name spricht ebenfalls Bände. Tausengüldenkraut - das ist das Kraut, dessen Besitz im Notfall nicht mit tausend Gulden aufgewogen werden kann, eine kräftige Naturmedizin gegen fast alles und jedes, im häufigsten Fall gegen Verdauungsbeschwerden jeglicher Art, Koliken, Darmgrippe und Verstopfung, des weiteren gegen Dauermüdigkeit und schwere Beine, Bulimie, Wurmbefall, Tollwut, Blitzeinschlag und vieles andere mehr. Die Luxusdamen des alten Rom, die "germanisch blond" werden wollten, nutzten es als Haarbleichmittel und als Mittel zur Erlangung einer reinen, rosigen Haut.

Der lateinische Name, Centaurium, weckt unheimliche Assoziationen. Er soll an den großen, gütigen Zentaur Cheiron erinnern, Lehrer des Achilles und des Jason, den Herkules - unabsichtlich - mit einem vergifteten Pfeil tödlich verwundete. Cheiron nahm als Gegenmittel die Essenz des Tausendgüldenkrauts ein, und diese bewahrte ihn zwar vor dem Tode, konnte die gewaltigen Schmerzen, die das Pfeilgift verursachte, aber nicht lindern, so daß Cheiron fortan zu einer qualvollen Halbexistenz verurteilt war. Er konnte nicht sterben, doch die Schmerzen hinderten ihn an jederlei Aktivität, er lebte nur noch, um Schmerz zu empfinden.

Centaurium umbellatum gehörte zu den Lieblingskräutern des großen Renaissance-Arztes Theophrastus Bombastus von Hohenheim (1493 bis 1541), der sich selbst den Namen "Paracelsus" gab und nach dem sich auch der Heilkräuterverband benannt hat. Der zweite Teil des Geburtsnamens von Paracelsus, Bombastus, wurde schon zu dessen Lebzeiten zum Synonym für künstlich aufgeblasenes, großmäuliges, eben bombastisches Reden, das zur Vorsicht gemahnte. Paracelsus war jedoch ein genialer Voraus-Ahner in Sachen Medizin und Heilmittelkunde, er wußte genau Bescheid über die enge Beziehung zwischen Gift und Gegengift, Bitternis und Heilkraft, und seine diesbezüglichen Verweise waren völlig richtig und nahmen ganze moderne Naturheil-Kompendien vorweg.

Es ist, lehrte Paracelsus, nie ein einziger Stoff, der Krankheit, respektive Gesundheit bringt, es ist immer eine Stoffkombination, und zusätzlich zu berücksichtigen ist stets noch die Gesamtkonstitution des entsprechenden Organismus, seine Stellung in Raum und Zeit. Ob eine Pflanze als Gift- oder als Heilpflanze wirkt, hängt von den Quantitäten und den Mischungsverhältnissen der in ihr enthaltenen Wirkstoffe ab, und oft kommt es sogar darauf an, verschiedene Pflanzenarten zu kombinieren, um optimale Heilkraft zu garantieren, Tausendgüldenkraut etwa mit Beifuß, Schafgarbe oder Huflattich, die ja ebenfalls - verwandte - Bitter- und Schleimstoffe in sich führen. Jeder Patient reagiert anders, für jeden müßte im Idealfall eine ganz und gar persönliche Mischung bereitgestellt werden.

An solchen Erkenntnissen hat sich bis heute nichts geändert. Auch die Schulmedizin hat längst eingesehen, daß pflanzliche Drogen in vielen Fällen synthetisch hergestellten Medikamenten überlegen sind, eben aus dem Grund, weil diese in der Regel nur einen einzelnen Wirkstoff ins Feld führen und keine "natürlichen", nämlich in endlosen Evolutionsketten aufeinander eingespielten Kombinationen. Das zeigt sich nicht zuletzt bei den Nebenwirkungen bzw. ihrem willkommenen Ausbleiben. Sämtliche Heilpflanzenkompendien führen nicht ohne heimlichen Triumph an, daß "Nebenwirkungen", welcher Art auch immer, bei Verwendung von naturfrischem Tausendgüldenkraut faktisch ausgeschlossen seien und sich der bekannte Fernsehhinweis bei ihm folglich erübrige.

Das einst sehr frustrierte Verhältnis zwischen Schulmedizin, besonders "Apparatemedizin", und sogenannter Naturheilkunde, von der der unmittelbare Einsatz von Heilpflanzen ja ein Teil ist, hat sich in letzter Zeit spürbar entspannt. Der Massenbetrieb in den Kliniken und Arztpraxen und die damit verbundenen horrenden, immer noch explodierenden Kosten haben den Blick dafür geschärft, daß ein funktionierendes Gesundheitswesen nicht zuletzt aus individueller Vor- und Nachsorge besteht, daß jeder zum guten Teil seiner Gesundheit eigener Schmied ist und daß das Schmiedeeisen, das er bearbeitet, nicht nur aus der Befolgung allgemein bekannter Regeln bestehen kann, sondern auch aus behutsamer, naturheilkundlich angeleiteter Selbstmedikation inklusive Heilkräuteranbau im eigenen Garten.

Am Horizont der öffentlichen Diskussion steht zur Zeit die Utopie eines genetisch erstellbaren, das ganze Leben umfassenden, hochspezifizierten Gesundheits- und Medikationsplans für jedes einzelne Individuum. Bis dahin ist es aber noch weit (wenn es überhaupt je dahin kommen wird; Pankraz hegt seine Zweifel), und vorher kann jeder schon selbst einmal sorgfältig auf seinen "inneren Arzt", seine vis mediatrix (Paracelsus) lauschen und sich mit den sympathetischen, für ihn heilsamen Naturkräften à la Tausendgüldenkraut entsprechend ins Benehmen setzen.

Ohne bittere Schlucke und ohne Schmerzen, auch Dauerschmerzen, kann es aber nicht abgehen. Das Schicksal des Zentaurs Cheiron ist unser aller Schicksal, auch daran erinnert die Ausrufung des Tausendgüldenkrauts zur Heilpflanze 2004.


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