© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/04 19. März 2004

Im Glashaus
Und niemals an die Leser denken: Die "Literarische Welt" beklagt eine Verluderung der Sitten, an die sie sich selber nicht hält
Thorsten Thaler

Die Klage klingt wohlfeil, doch sie ist berechtigt. Seit Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" sei es Mode, so die Literarische Welt (wöchentliche, jeweils Samstag erscheinende Beilage der Tageszeitung Die Welt) in ihrer vorletzten Ausgabe, "noch nicht zu Ende lektorierte Bücher zu rezensieren, die erst Wochen später, wenn überhaupt, beim Leser ankommen". Aber, fragt das Blatt seine Leser, "wollen Sie wirklich Romane angepriesen bekommen, die Sie (so) nie werden lesen können?"

Natürlich nicht, möchte man antworten und ist geneigt, der Aufforderung der Literarischen Welt nachzukommen und die eigene Meinung per E-Post der Redaktion mitzuteilen. Da erinnert man sich gerade noch rechtzeitig an ein Vorkommnis im Frühjahr 2003.

In der Rubrik "Buch der Woche" präsentierte die Literarische Welt eine Ernst-Bloch-Biographie von Arno Münster. Die ellenlange Rezension unter der Überschrift "Marxismus auf eigene Faust" feierte das Buch als erfrischende "Wiederentdeckung der revolutionär-utopischen Denkungsart" des Philosophen Bloch. Als Verlag war Suhrkamp angegeben.

Der Schönheitsfehler dabei: Kein Leser konnte das Buch kaufen; es war noch gar nicht erschienen. Und nicht nur das, zwei Tage später, am 5. Mai, mußte die Welt melden, daß die Bloch-Biographie "auf unbestimmte Zeit verschoben" worden sei. Autor und Verlag "wollen noch maßgebliche Veränderungen am Text vornehmen", hieß es. Im Juli schließlich folgte die Nachricht, daß Suhrkamp das Buch ganz aus dem Programm genommen hat. Die Welt sah darin einen "dubiosen Vorgang" und monierte, daß dem Verlag erst nach Verschicken der Druckfahnen Zweifel an dem Buch gekommen sind.

Nun mögen die Umstände des Rückziehers von Suhrkamp seinerzeit fragwürdig gewesen sein, die jetzige Klage der Literarischen Welt aber ist definitiv zynisch und heuchlerisch! Niemand hat schließlich die Redaktion gezwungen, ein Buch anzupreisen, das noch nicht im Handel war und das die Leser (so) nie werden lesen können.


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